eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2019
881

Editorial: Diskurs in der Sonderpädagogik - Sonderpädagogik im Diskurs

11
2019
Michael Grosche
Claudia Gottwald
Hendrik Trescher
Die wissenschaftliche Disziplin Sonderpädagogik beheimatet verschiedenste wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Zugänge. Jedoch zeichnen sich diese Zugänge eher durch gegenseitige Kontaktlosigkeit und Abgrenzung als durch befruchtende Diskurse aus. Der Disziplin Sonderpädagogik wird folglich vorgeworfen, sie scheue Diskurse und entwickle sich dadurch nicht (genug) weiter (z. B. Barsch, Bendokat & Brück, 2005; Dederich, 2013).
5_088_2019_001_0008
8 VHN, 88. Jg., S. 8 -10 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Editorial: Diskurs in der Sonderpädagogik - Sonderpädagogik im Diskurs Michael Grosche, Claudia Gottwald, Hendrik Trescher DISKU RSPROJ E K T Die wissenschaftliche Disziplin Sonderpädagogik beheimatet verschiedenste wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Zugänge. Jedoch zeichnen sich diese Zugänge eher durch gegenseitige Kontaktlosigkeit und Abgrenzung als durch befruchtende Diskurse aus. Der Disziplin Sonderpädagogik wird folglich vorgeworfen, sie scheue Diskurse und entwickle sich dadurch nicht (genug) weiter (z. B. Barsch, Bendokat & Brück, 2005; Dederich, 2013). Erst seit Kurzem sind vermehrt Bemühungen zu verzeichnen, zwischen den verschiedenen Zugängen wieder öfter kritisch, konstruktiv und zielführend in den Diskurs zu treten. Hierzu zählen zum Beispiel die folgenden Ereignisse: 1. Unter Leitung von Markus Dederich und Stephan Ellinger fand im März 2016 eine kleine Tagung in Würzburg statt, die sich mit kritischen Fragen zur (Weiter-)Entwicklung der Disziplin beschäftigte. 2. Im September 2016 fand die Tagung der Sektion Sonderpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) unter dem Titel „Sonderpädagogik zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik“ (Laubenstein & Scheer, 2017) in Paderborn statt und bot ein Forum zum gegenseitigen Wahrnehmen, Verstehen und Brückenbauen. 3. Auf der Sektionssitzung dieser Tagung wurde nach intensiver Diskussion die Arbeitsgruppe „Theoriebildung in der Sonderpädagogik“ eingerichtet, die von Markus Dederich und Stephan Ellinger zunächst für zwei Jahre geleitet wurde. Diese Arbeitsgruppe tagte erstmals im September 2017 in Köln und diskutierte kontrovers verschiedene Zugänge, Methoden und Sichtweisen auf die Disziplin Sonderpädagogik. 4. Unmittelbar im Anschluss an diese Tagung berieten Mitglieder der Arbeitsgruppe, wie ein systematischer und fruchtbarer Diskurs in der Sonderpädagogik zu initiieren bzw. mit breiterer Resonanz fortzuführen wäre. Diese Überlegungen mündeten in ein Diskursprojekt, das wir Ihnen, den Leserinnen und Lesern der VHN, heute vorstellen möchten. Im vorliegenden Editorial beschreiben wir als Gastherausgeberin und Gastherausgeber unseren Versuch, den Diskurs innerhalb der Sonderpädagogik aufrechtzuerhalten resp. zu fördern. Da wir nicht die Erwartung hatten, dass sich ein solcher zwischen verschiedenen Zugängen selbstständig entwickelt, wollten wir gezielt und systematisch vorgehen. Ziel war dabei ein Diskurs, der möglichst ohne Destruktionen und individuelle Machtmotive auskommt - sondern ganz im Sinne Habermas’ (1982) möglichst „herrschaftsfrei“ sein soll und in dem nur der „Zwang des besseren Arguments“ gilt. Es soll auf einer vertrauensvollen Basis sehr kritisch diskutiert werden, immer mit dem Ziel des gegenseitigen Verstehens, aber nicht des „Einverstanden-seins“. Stattdessen sollen Spannungen und Dissens ausgehalten und produktiv genutzt werden. VHN 1 | 2019 9 MICHAEL GROSCHE, CLAUDIA GOTTWALD, HENDRIK TRESCHER Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik DISKU RSPROJ E K T Um den unterschiedlichen Publikationskulturen verschiedener Zugänge gerecht zu werden, entschlossen wir uns, die diskursiven, peer reviewten Beiträge in der VHN sowie in einem Sammelband zu bündeln. Wir sind dem Reinhardt-Verlag sehr dankbar, dass er uns auf diesem Weg gleich doppelt unterstützt. Unsere Idee basiert im Kern auf zwei Vorträgen von Andreas Kuhn (Universität Koblenz- Landau) und Jan Kuhl (TU Dortmund), die auf der oben angesprochenen Arbeitstagung in Köln gehalten wurden und unterschiedlicher nicht sein konnten. Üblicherweise, so unsere Annahme, existiert keine Plattform und vielleicht nicht einmal die Notwendigkeit für beide Wissenschaftler, überhaupt in einen Dialog einzutreten. Daher luden wir beide Wissenschaftler zur Initiierung eines Diskurses ein. Wir bedanken uns ausdrücklich bei beiden Autoren, ohne die dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre. Wir baten sie, jeweils einen Beitrag zu folgenden vier Leitfragen zu schreiben: 1. Was ist Ihre Perspektive bzw. Ihr Zugang zur wissenschaftlichen Disziplin Sonderpädagogik? 2. Was ist aus Ihrer Perspektive der Gegenstand der Sonderpädagogik? 3. Welche Aspekte dieses Gegenstands kann Ihr Zugang nach Ihrer Einschätzung besonders gut bearbeiten? Warum? Und wie? 4. Zur Bearbeitung welcher Aspekte des Gegenstands kann Ihr Zugang nach Ihrer Einschätzung nur wenig beitragen? Die eingereichten Manuskripte wurden durch jeweils zwei weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Orientierung begutachtet. Die Autoren versuchten der Kritik durch eine Revision ihres Beitrags zu begegnen. Dadurch war der Grundstock für unser Diskursprojekt gelegt: 1. Jan Kuhl und Andreas Kuhn schrieben jeweils einen begutachteten und revidierten Beitrag zu den obigen vier Leitfragen. Die Zusammenfassungen der beiden fertiggestellten Beiträge finden Sie unten, den Volltext erhalten Sie ab sofort in der VHN plus online (Kuhl, 2019; Kuhn, 2019). 2. In der nächsten Print-Ausgabe der VHN (2/ 2019) sowie in der VHN plus online werden die beiden Autoren gegenseitig ihre Beiträge kommentieren (Kommentar Kuhn zu Kuhl und umgekehrt). 3. Kurzkommentare von etwa zehn weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sollen den Diskurs schließlich perspektivisch erweitern. Die Kurzkommentare werden zusammen mit den Originalbeiträgen von Jan Kuhl und Andreas Kuhn im Sammelband abgedruckt. 4. Sodann nehmen Jan Kuhl und Andreas Kuhn ein letztes Mal Stellung zu den Kurzkommentaren. Diese Stellungnahmen finden ebenfalls Eingang in den Band. 5. Wir als Herausgeberin und Herausgeber werden in einem übergeordneten Beitrag den Diskurs möglichst neutral zusammenfassen und unsere Systematisierungs- und Initiierungsversuche reflektieren. Der Sammelband wird voraussichtlich Ende 2019 bzw. Anfang 2020 im Reinhardt-Verlag erscheinen. Wir hoffen, durch diesen diskursiven Publikationsprozess einen kleinen, aber vielleicht wirksamen Impuls zur Weiterentwicklung der Disziplin Sonderpädagogik zu geben. Ob dieser Impuls fruchtbar sein wird, wird sich allerdings erst in Zukunft zeigen. Literatur Barsch, S., Bendokat, T. & Brück, M. (2005). In eigener Sache: Anmerkungen zum fachkritischen Diskurs in der Heil- und Sonderpädagogik. Heilpädagogik online, 04/ 05, 4 -19. Abgerufen am 2. 10. 2018 von http: / / sonderpaedagoge.quibb ling.de/ hpo/ 2005/ heilpaedagogik_online_04 05.pdf VHN 1 | 2019 10 MICHAEL GROSCHE, CLAUDIA GOTTWALD, HENDRIK TRESCHER Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik DISKU RSPROJ E K T Dederich, M. (2013). Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. Habermas, J. (1982). Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp. Kuhl, J. (2019). Beschreiben und Verändern - Sonderpädagogik als werteorientierte und reflektierte Wirkungsforschung. https: / / www.rein hardt-journals.de/ index.php/ vhn/ article/ view/ 3453 Kuhn, A. (2019). Das Pädagogische der Sonderpädagogik? Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik zwischen Einheit und Differenz des Pädagogischen. https: / / www.reinhardt-journals.de/ index.php/ vhn/ article/ view/ 3454 Laubenstein, D. & Scheer, D. (2017). Sonderpädagogik zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 11 VHN plus , 88. Jg. (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art03d © Ernst Reinhardt Verlag Dieser Beitrag kann online unter https: / / www.reinhardt-journals.de/ index.php/ vhn/ article/ view/ 3453 abgerufen werden Beschreiben und Verändern Sonderpädagogik als werteorientierte und reflektierte Wirkungsforschung Jan Kuhl Technische Universität Dortmund Zusammenfassung: Der Artikel stellt die Grundpositionen eines Ansatzes der sonderpädagogischen Forschung dar, der als empirische Wirkungsforschung charakterisiert werden kann. Wirkungsforschung darf sich aber nicht als neutrale Empirie verstehen, sondern muss werteorientiert und reflektiert sein. Gegenstand der Sonderpädagogik ist die Behinderung oder Störung der Weltaneignung, wobei die Behinderung oder Störung des Aneignungsprozesses nur als Differenz zu einer Erwartungsnorm bestimmt werden kann. Eine sonderpädagogische Wirkungsforschung kann durch deskriptive und präskriptive Forschung dazu beitragen, die Behinderung und Störung von Aneignungsprozessen zu beschreiben und zu erklären sowie Unterstützungsmaßnahmen abzuleiten und zu überprüfen. Letztendliches Ziel ist die Entwicklung und empirische Prüfung handlungsleitender Theorien. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Zielvorstellungen pädagogischen Handelns nicht aus der deskriptiven oder präskriptiven Forschung stammen können. Hier bedarf es der Ergänzung durch die normative Forschung. Schlüsselbegriffe: Sonderpädagogische Wirkungsforschung, Gegenstand Sonderpädagogik, normative/ deskriptive/ präskriptive Pädagogik/ Erziehungswissenschaft Describe and Change - Special Education as Value-Based and Reflective Impact-Research Summary: The article outlines the basic positions of an approach of special educational research to be characterized as an empirical impact-research. Impact-research should not be understood as a neutral empirical research, but must be value-oriented and reflected. The object of special education is the obstruction or disturbance of world adaption. Those obstruction or disturbance of the process is determined only as a difference to an assumed norm. Impact research in special education can use descriptive and prescriptive research to describe and explain the obstruction or disturbance of the adaption process and derive support measures. Goal is the development and empirical examination of theories as the guiding basis. However, sight should not be lost of the fact that objectives of educational action cannot originate from descriptive or prescriptive research. It is necessary to supplement the approach with normative research. Keywords: Specialeducation,impact-research,normative/ descriptive/ prescriptiveeducation/ pedagogy FACH B E ITR AG 12 VHN plus , 88. Jg. (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Dieser Beitrag kann online unter https: / / www.reinhardt-journals.de/ index.php/ vhn/ article/ view/ 3454 abgerufen werden Das Pädagogische der Sonderpädagogik? Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik zwischen Einheit und Differenz des Pädagogischen Andreas Kuhn Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Zusammenfassung: Sowohl die aktuelle allgemeinpädagogische Debatte um das Verhältnis von Theorie und Empirie als auch die Diskussion um die Legitimation und Begründung der Sonderpädagogik im Kontext der Inklusionsdebatte referieren auf die Frage nach Einheit und Differenz der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft sowie auf die Frage, was das Pädagogische der Pädagogik sei. Anknüpfend an diese Fragen rekonstruiert der Beitrag knapp die historische Verständigung des Pädagogischen in der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft sowie in der Sonderpädagogik. Im Anschluss an neuere allgemein- und sonderpädagogische Arbeiten wird eine Perspektive auf eine pädagogische Begründung der Sonderpädagogik entwickelt, die sich durch die Thematisierung und Bearbeitung der pädagogischen Konstitution von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss entlang der Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht-Pädagogischem auszeichnet. Schlüsselbegriffe: Wissenschaftstheorie, Praxis/ Theorie/ Empirie, Sonderpädagogik, Pädagogik, Einheit/ Differenz The Pedagogy in Special Education? Considerations on the Pedagogical Justification of Special Education between Unity and Difference of Pedagogy Summary: The current general pedagogical debate on the relationship between theory and empiricism as well as the discussion on the legitimacy and justification of special education in the context of the inclusion debate, refer to the question of unity and difference in pedagogy/ educational science as well as to the question what pedagogy is. Following up on these questions, the article reconstructs the historical understanding of pedagogy in pedagogy/ educational science as well as in special education. Subsequent to recent general and special educational work, a perspective is developed on a pedagogical justification of special education, which is characterized by the discussion and elaboration of the pedagogical constitution of equality/ inequality as well as participation/ exclusion along the distinction between pedagogical/ non-pedagogical. Keywords: Philosophy of science, practice/ theory/ empiricism, special education, pedagogy, unity/ difference FACH B E ITR AG