eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Rezension: Kuhlenkamp, Stefanie (2017): Lehrbuch Psychomotorik

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2019
Martin Vetter
Kuhlenkamp, Stefanie (2017): Lehrbuch Psychomotorik München: Reinhardt-Verlag. 237 S., € 29,99 Psychomotorik ist in gewisser Weise ein Phänomen: Trotz einer unübersichtlichen Theorielage besetzt sie nach wie vor offenbar eine von anderen Professionen und Konzepten nicht gefüllte Lücke einer bewegungsgetragenen Entwicklungsbegleitung, je nach Land und/oder Sprachregion von der frühen Kindheit sogar bis ins hohe Erwachsenenalter. Seit der Gründung des European Forum of Psychomotricity an der Universität Marburg im Jahre 1996 haben sich mittlerweile Verbände und Lehranstalten aus 16 europäischen Ländern zum Erfahrungsaustausch auf wissenschaftlicher und praxeologischer Ebene zusammengeschlossen. Auch dort zeigt sich, auf den jährlichen Zusammenkünften, immer wieder die Vielgestaltigkeit der Psychomotorik.
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VHN 1 | 2019 84 REZE NSION E N Kuhlenkamp, Stefanie (2017): Lehrbuch Psychomotorik München: Reinhardt-Verlag. 237 S., € 29,99 Psychomotorik ist in gewisser Weise ein Phänomen: Trotz einer unübersichtlichen Theorielage besetzt sie nach wie vor offenbar eine von anderen Professionen und Konzepten nicht gefüllte Lücke einer bewegungsgetragenen Entwicklungsbegleitung, je nach Land und/ oder Sprachregion von der frühen Kindheit sogar bis ins hohe Erwachsenenalter. Seit der Gründung des European Forum of Psychomotricity an der Universität Marburg im Jahre 1996 haben sich mittlerweile Verbände und Lehranstalten aus 16 europäischen Ländern zum Erfahrungsaustausch auf wissenschaftlicher und praxeologischer Ebene zusammengeschlossen. Auch dort zeigt sich, auf den jährlichen Zusammenkünften, immer wieder die Vielgestaltigkeit der Psychomotorik. Daher ist ein Lehrbuch Psychomotorik, wie Stefanie Kuhlenkamp es veröffentlicht hat, grundsätzlich sehr zu begrüßen, da mit Lehrbüchern in der Regel die Hoffnung verbunden wird, Systematisierungen auf einer Metaebene vorzunehmen und verschiedene Strömungen einander abwägend in Beziehung zu setzen. Sie ordnen so die beschriebene Vielfalt, hier für Pädagoginnen und Pädagogen, die sich damit vertraut machen möchten. Es kann vorab gesagt werden, dass diese Hoffnung, zumindest für den deutschsprachigen Raum, mit dem Buch auch eingelöst wird. Kuhlenkamp gliedert ihr 237 Seiten umfassendes Werk, welches Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsbegleitung über die Lebensspanne betrachtet, wie folgt: Im ersten Teil werden Grundlagen psychomotorischen Handelns dargelegt. Darin geht es um Entwicklungslinien, zentrale Begriffe und Definitionen der Psychomotorik, die Bedeutung von Bewegung in der Entwicklung sowie um Begründungszusammenhänge für Wirkungen von psychomotorischen Angeboten. Im zweiten Teil geht es um eine Praxis psychomotorischen Handelns: Im Kapitel Grundlagen werden die Themen Professionalität, Adressatinnen und Adressaten, Handlungsprinzipien sowie Material, Raum und Zeit beleuchtet. Ein Kapitel zur Diagnostik in der Psychomotorik sowie eines zur Kooperation und Elternarbeit runden diesen Teil ab. Im angehängten Serviceteil finden sich hilfreiche Adressen und Ansprechpartner der Psychomotorik in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es stellt sich natürlich die Frage, wer Adressat oder Adressatin eines solchen Lehrbuches sein kann: Für Studierende, welche Psychomotorik grundständig studieren (z. B. als Bachelorstudium in Zürich oder als Masterstudiengang in Marburg oder Genf), ist es sicherlich nicht gedacht und auch nicht ausreichend. Zu wenig vertieft werden Theorien zugrunde liegender Menschenbilder und Paradigmen besprochen. Dies zeigt sich beispielsweise in der sehr kurzen Abhandlung des von Weizsäckerschen Gestaltkreises aus den 1950er Jahren: Nicht aufgegriffen wird an dieser Stelle die in der psychomotorischen Fachliteratur umfassend und kontrovers geführte Diskussion seiner zum Teil fälschlichen Adaption in der Psychomotorik in den 1970er Jahren; zudem wird eine Abbildung gewählt, welche nicht dem Original entspricht und deren Hinzufügungen sogar Gegenstand der damals geführten Kontroverse waren. Schon immer schwierig war und ist auch das Thema Diagnostik in der Psychomotorik zwischen oft motorisch motivierter Auftragsklärung und ganzheitlich verstandener Förderung und Therapie - hier werden die Vor- und Nachteile quantitativer und qualitativer Herangehensweisen gut aufgespannt. Vorzuwerfen ist aber vielleicht, dass moderne, mittlerweile oft verwendete Verfahren wie der MABC-2 und der BOT-2 auf quantitativer Seite oder die STEP-Beobachtung von Passolt auf qualitativer Seite in diesem Zusammenhang keine Erwähnung finden. Lesende bleiben nach Studium des Kapitels vielleicht etwas ratlos zurück, wie sie denn nun eine Beobachtung im psychomotorischen Kontext genau anstellen können. Wenn also eher weniger für grundständige Studiengänge der Psychomotorik, ist das Buch aber sehr geeignet für die Vielzahl von Zusatzausbildungen im Rahmen der Psychomotorik, die sich an Pädagogischen Hochschulen, an Universitäten und in freien Trägerschaften in Vereinen und privaten Instituten und Schulen etabliert haben. In diesem Rahmen ist das Lehrbuch sogar genau VHN 1 | 2019 85 REZE NSION E N das, was bisher für die Ausbildung von Personen, welche psychomotorisches Gedankengut in ihren Unterricht als Lehrerin oder Lehrer, in Angebote als Sozialarbeiterin oder Sozialarbeiter oder als psychomotorische Unterstützung im Kindergarten einfließen lassen wollen, gefehlt hat. Denn dafür stellt es in ausreichender Breite und Tiefe den aktuellen Stand dar und zeigt an vielen Stellen die Bedeutung der Selbstreflexivität, der Haltung und von Professionalität der psychomotorisch Tätigen auf. Eine Vielzahl von Praxisbeispielen reichert dazu sehr gut die zuvor dargelegte Theorie an. Fragen zur Überprüfung des Verständnisses am Ende der Kapitel sorgen dafür, dass das Gelesene mit eigenen Erfahrungen kontextualisierbar ist. Es ist daher sehr gut vorstellbar, dass dieses Lehrbuch zum einen in der Lehre, zum anderen aber auch im Selbststudium gewinnbringend eingesetzt werden kann. Das Layout des Buches gefällt vor dem Hintergrund, dass es in der Ausbildung verwendet wird, sehr: So finden sich beispielsweise wichtige Begriffe jeweils abgesetzt am Seitenrand, sodass ihre Erklärung oder Erläuterung stets schnell auffindbar ist. Insgesamt also ist dieses Lehrbuch eine deutliche Bereicherung für die psychomotorischen Ausbildungs- und Zusatzangebote im Rahmen pädagogischer Studiengänge und Zusatzqualifikationen. Prof. Dr. Martin Vetter D-35037 Marburg DOI 10.2378/ vhn2019.art10d