eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Das provokative Essay: Mit Janusz Korczak ist die Heilpädagogik neu zu vermessen

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Ferdinand Klein
Der polnische Arzt, Pädagoge, Schriftsteller und Sozialkritiker Janusz Korczak hinterließ durch sein Leben und Wirken ein einmaliges Zeugnis darüber, was es bedeutet, als Mensch und Pädagoge eine bedingungslose Orientierung auf das Kind zu realisieren. An ausgewählten Aspekten wird auf seine konstitutionelle Pädagogik aufmerksam gemacht. Sein Verständnis von der Gleichwertigkeit des Kindes zum Erwachsenen, von den unveräußerlichen Grundrechten des Kindes, von einem alltagsorientierten Demokratieverständnis in der Pädagogik bis hin zur Achtung des Individualitätsprinzips verdienen Beachtung. Sein Lebenswerk kann die heilpädagogische Professionalität in Wissenschaft und Praxis inspirieren.
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93 VHN, 88. Jg., S. 93 -99 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art18d © Ernst Reinhardt Verlag Mit Janusz Korczak ist die Heilpädagogik neu zu vermessen Ferdinand Klein Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Zusammenfassung: Der polnische Arzt, Pädagoge, Schriftsteller und Sozialkritiker Janusz Korczak hinterließ durch sein Leben und Wirken ein einmaliges Zeugnis darüber, was es bedeutet, als Mensch und Pädagoge 1 eine bedingungslose Orientierung auf das Kind zu realisieren. An ausgewählten Aspekten wird auf seine konstitutionelle Pädagogik aufmerksam gemacht. Sein Verständnis von der Gleichwertigkeit des Kindes zum Erwachsenen, von den unveräußerlichen Grundrechten des Kindes, von einem alltagsorientierten Demokratieverständnis in der Pädagogik bis hin zur Achtung des Individualitätsprinzips verdienen Beachtung. Sein Lebenswerk kann die heilpädagogische Professionalität in Wissenschaft und Praxis inspirieren. Schlüsselbegriffe: Pädagogischer Erkenntnisgewinn, konstitutionelle Pädagogik, Grundrechte des Kindes, Individualitätsprinzip, Professionalität Janusz Korczak - A Fresh Approach to Special Education Summary: Life and influence of Polish physician, pedagogue, writer and social commentator Janusz Korczak provide unique testimony of what it means as a pedagogue and human being to realize unconditional focus on the child. Selected aspects draw attention to his fundamental pedagogy. His understanding of children’s equality to adults, children’s basic human rights, every-day democracy in education, and respect for the principles of individuality deserve attention. His achievements can inspire professionalism in science and practice of special education. Keywords: Pedagogic insight, fundamental pedagogy, children’s basic human rights, principles of individuality, professionalism DAS PROVOK ATIVE ESSAY 1 Mit Korczak unterwegs Man könnte einwenden, dass der folgenden Darstellung der Geruch des Narzissmus anhafte. Doch in neueren Beiträgen zur Forschung und Lehre wird der Selbstdarstellung des Wissenschaftlers Raum gegeben, da sie zu einem nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn beitragen kann (Krampen, 2016). 1.1 Heilpädagogische Praxis Wir waren vor 60 Jahren beim Aufbau der Erlanger Schule der Lebenshilfe mit der Schweizer Heilpädagogin Mimi Scheiblauer davon überzeugt, dass jedes Kind bildungsfähig ist (Klein, 1991). Sie führte uns in einem Wochenseminar in der Schule in die rhythmisch-musikalische Erziehung ein und ich konnte die an Korczak orientierte Bildungsarbeit in allen Förderbereichen nun vertieft gestalten 2 . n Korczak sagt: „Wer nicht in einer Schule für geistig zurückgebliebene, taubstumme oder blinde Kinder gelernt hat, Geduld und die Grundlagen der Didaktik zu üben, der wird niemals ein richtiger Lehrer werden können. […] Ich liebe meine Schule für geistig Zurückgebliebene - ich liebe diese großen Leute, in denen der Geist nur schwach flackert - wie viel wertvoller ist für mich ein leichter VHN 2 | 2019 94 FERDINAND KLEIN Janusz Korczaks Konstitutionelle Pädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Hauch ihres Lächelns. [… ]. Da hat einer seinen Knopf allein zugeknöpft, nun wartet er auf ein Lob: solch eine wichtige und schwierige Arbeit hat er selbständig vollbracht. […] Diese meine Guten, meine Unschuldigen! “ (Korczak, 1991, S. 39ff.). - Korczak erkennt zentrale Aspekte der heilpädagogischen Praxis. n In seinem Buch „Von Kindern und anderen Vorbildern“ plädiert Korczak entschieden für einen inklusiven Umgang mit Heterogenität: „Um in der Sache über menschliche Verschiedenheiten Stellung zu nehmen, sage ich damit aus, dass es keine wesentlichen Unterschiede zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gibt […], auch nicht zwischen einem reichen, armen, verwahrlosten Waisenkind. - Dafür gibt es viele Ähnlichkeiten, viele gemeinsame Eigenschaften der Menschen. […] Die Psychose der Unterschiede ist ein Widerhall des Spektakels um das, was entzweit, verfeindet und aufhetzt. Das ist die Ursache meiner Aufregung, […] das sind Fehler und geistige Umnachtung. Dadurch werden die eigentlichen und wichtigen Probleme vernachlässigt“ (Korczak, 1979, S. 44). - Korczak erkennt: Wird der Mensch nach dem Ideal des Schönen und Starken sortiert, dann führt das zum Nicht-teilhaben-Lassen, zum Absondern und Isolieren. n Bald nach dem Medizinstudium unterhielt Korczak auch eine Privatpraxis, in der er verwöhnte Kinder kennenlernte. Bei der Untersuchung eines Kindes, dessen Krankheit offenbar die Folge einer sozialen Vernachlässigung war, schrie er plötzlich: „Wann werden wir endlich, verdammt noch mal, aufhören, einfach nur Salizylsäure gegen das Elend, gegen die Ausbeutung, gegen die Rechtlosigkeit, gegen die Verwaisung, gegen das Verbrechen zu verschreiben? Wann, zum Teufel? “ (Klein, 2018, S. 37). - Korczak erkennt: Viele Erziehungsprobleme beruhen auf einer falschen Einstellung der Erwachsenen zum Kind, das nicht erst durch Erziehung ein Mensch wird. Es ist von Geburt an schon ein vollwertiger Mensch! Seine Pädagogik der Achtung wird zum Kampf für das „Proletariat auf kleinen Füßen“. In gesellschaftskritischen Schriften legte er einen Entwurf zur „Schule des Lebens“ vor. Sie soll die „Schule des Todes“ ablösen (ebd.). Die Schüler dieser Schule erhalten schon eine eindeutige Antwort, noch ehe in ihnen das Fragen erwacht ist. 1.2 Korczakpädagogik fordert heraus Korczaks Lebenswerk bewegt mein Nachdenken über die Arbeit in verschiedenen Praxis- und Forschungsfeldern, es führt zur ideengeschichtlichen Einsicht: Die Pädagogik hatte früher einen anschaulichen Begriff der Praxis (Klein, 1997; Sünkel, 2011). Diese hohe Sprachkultur hat die akademische Lehre weitgehend verloren. Heute schlägt sie sich mit abstrakten Begriffen aus verschiedenen Disziplinen herum. Sie lassen die Einheit von Forschen und Handeln vermissen und geben dadurch dem Erzieher keine hinreichende Orientierung. Vor über 30 Jahren versuchte ich Korczaks Pädagogik „auf den Begriff zu bringen“ (Klein, 1985). Der Heim- und Sozialpädagoge Andreas Mehringer fragte mich, warum ich das eigentlich wolle? Unterliege ich einem wissenschaftlichen Anspruch, bei dem mich die Macht der Begriffe gefangen hält? Habe ich leichtfertig vergessen, dass Theorie ursprünglich ein Anschauen der Wirklichkeit ist? Korczaks Pädagogik fordert mein Denken und Handeln bis heute heraus. Ist der Grund darin zu suchen, dass er von der ersten bis zur letzten Zeile immer er selbst geblieben ist, direkt und mit entlarvender Offenheit geschrieben hat? Oder lasse ich mich auf ihn deshalb ein, weil er aus der Einheit seiner Person wirkte und mich zum Nachdenken über Fragen anregt, die heute nicht mehr hinreichend gestellt werden? Oder ist der Grund darin zu suchen, dass er in einer Welt unvorstellbarer Härte nach VHN 2 | 2019 95 FERDINAND KLEIN Janusz Korczaks Konstitutionelle Pädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY dem Grundsatz der Humanität lebte und den zur Tötungsmaschine gewordenen Herrenmenschen besiegte? Das Reflektieren dieser Fragen ist unbequem, denn ich bleibe in der Ungewissheit des Urteils, das der Kern der Korczakpädagogik ist. Sie öffnet den Blick für Widersprüche, für die Vielfalt der Erfahrungen und das Geflecht von Motiven. Damit ist nicht der Dekonstruktion das Wort geredet. Vielmehr ermöglicht dieses Verständnis das Finden von pädagogisch Bedeutsamem (Klein, 2018, S. 75ff.), das nach dem Erkenntnistheoretiker Karl Popper (1994) zu neuem Vermutungswissen führt. 2 „Grundgesetz für das Kind“ Ärztliche und pädagogische Erfahrungen bündeln sich in Forderungen: „Ich fordere die Magna Charta Libertatis (die große Charta der Freiheiten; Anm. F. K.) als Grundgesetz für das Kind […] - diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden: n Das Recht des Kindes auf seinen Tod, n Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag, n Das Recht des Kindes so zu sein, wie es ist“ (Korczak, 1978, S. 40). Hier wird erstmals in der Geschichte der Erziehung die Respektierung von Kinderrechten gefordert. Das erste Grundrecht kann irritieren. Korczak stellt das Leben mit seinen Gefährdungen und Risiken in die Eigenverantwortung des Kindes. Doch durch Angst und Überfürsorge werden ihm die Möglichkeiten vorenthalten, am eigenen Leib seine Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen. Ein Erzieher, der hingegen dieses Grundrecht achtet und dem Kind auf sein eigenes Risiko hin seine Erfahrungen ermöglicht, gibt die fordernde Zukunftsorientierung auf und hat die Gegenwart des Kindes im Blick, seine Individualität hier und heute. Gleichwohl bleibt die Frage, ob Erziehung nicht neben dem „Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ auch sein Zukunftsrecht zu beachten hat, denn Gegenwart und Zukunft sind ohne Bezug zum jeweils anderen nicht zu gewinnen. Aus dieser spannenden dialektischen Frage, die auf Schleiermacher zurückgeht, ergeben sich Entscheidungen für die pädagogische Praxis, die im situativen Handlungskontext immer wieder neu zu begründen und zu verantworten sind. Mit Korczak erhält die pädagogische Verantwortung gerade deswegen einen neuen Akzent, weil der Erzieher die Gegenwart für das Kind einfühlsam und gründlich zu gestalten hat. Er darf es „nicht an der Leine führen […], aber er hat es umsichtig, unter geistiger Anstrengung, mit Gefühl und gutem Willen“ (Korczak, 1979, S. 36) zu unterstützen, denn „in unseren Händen liegt die Zukunft der Gesellschaft und das Glück der Kinder“ (ebd., S. 35). Den drei Grundrechten stellt Korczak ein oberstes Prinzip voran: Das Recht des Kindes auf Achtung. Es ist „das erste und unbestreitbare Recht des Kindes, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Überlegungen und Urteilen über seine Person zu nehmen. Wenn wir ihm Achtung und Vertrauen entgegenbringen und wenn es selbst Vertrauen hat und sich ausspricht, wozu es das Recht hat - wird es weniger Zweifel und Fehler geben“ (Korczak, 1978, S. 40f.). 3 Pädagogische Kompetenz Korczaks ganz andere Pädagogik kann in keinem historiografischen Schema einer theoriegeleiteten Erziehungswissenschaft mit ihrer formal anspruchsvollen Rhetorik untergebracht werden. Von Korczak können wir in Wissenschaft und Praxis lernen, dass für das Erziehen erst „eine Sprache geschaffen werden muss“ (Oelkers, 2017, S. 158) 3 . Diese Sprache, einfach, aber gehaltvoll, finde ich in Korczaks Werk. Bei seiner Erziehungspraxis im Kairos, nämlich im VHN 2 | 2019 96 FERDINAND KLEIN Janusz Korczaks Konstitutionelle Pädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY entscheidenden Moment geistesgegenwärtig und möglichst situationsgerecht zu handeln, versuchte er aus der Perspektive des Kindes seine Sprache zu entwickeln. Sie lädt zum Mitdenken ein, die jeder in einem nicht abschließbaren Prozess weiterentwickeln kann. Korczak hat das erzieherische Verhältnis radikal verändert. Wir können von einer „kopernikanischen Wende“ in der Pädagogik sprechen, denn er hat die Perspektive der Pädagogik revolutioniert und sich der „Macht über die Kinder konsequent entledigt“ (Bartosch, 2017, S. 20). Hier taucht gleich die Frage auf, ob Korczak im herkömmlichen Sinne noch Pädagoge ist, denn er erkennt bald die eigenen Grenzen des Wissens über das Kind und findet keinen archimedischen Punkt, von dem aus er die Entwicklung des Kindes hinreichend beurteilen kann. Vielmehr steht er mit seiner Theorie mitten im Prozess der Erziehung und entwickelt aus dem Zusammensein mit den Kindern die Methoden, die ihnen die Selbstgestaltung ihrer Entwicklung ermöglichen. Korczak nimmt in seine pädagogische Kompetenz die Perspektive des Kindes hinein. 4 Demokratische Erziehung Korczak strukturiert die Organisation der demokratischen Erziehungsgemeinschaft, bei der das Kind ein gleichwertiger, gleichwürdiger und gleichberechtigter Partner ist. Da aber der Erzieher durch seine Erfahrungen gegenüber dem Kind einen Vorsprung hat, ist er verpflichtet, die Perspektive des Kindes und gleichzeitig die eigene zu achten. Bei diesem menschengerechten achtsamen Dialog geht es darum, dem Kind seinen eigenen Gestaltungswillen in der nach republikanischen Regeln geordneten Gemeinschaft zu ermöglichen. Korczaks breit gefächertes Konzept der demokratischen Erziehung enthält ein pädagogisches und ein politisches System: Für Kinder n entwickelt Korczak differenzierte Spielregeln für die Selbstverwaltung mit wenig bestrafenden Paragrafen. Mit ihnen erprobt er institutionalisierte Spielregeln in der Kinderrepublik. Das Kindergericht der Erziehungsgemeinschaft ist um ein Höchstmaß an Gerechtigkeit bemüht und orientiert sich am Grundsatz des Verzeihens. Die selbst zu verantwortende Verwaltung ermöglicht den Kindern, ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu erkennen und zu definieren, Regeln und Formen des gegenseitigen Einvernehmens zu erfinden. Durch diese Selbstverwaltungsstruktur können sich junge Menschen selbst disziplinieren. Verfolgt man die durch Bernard Buebs Streitschrift „Lob der Disziplin“ (Bueb, 2006) ausgelöste Diskussion um den Begriff der Disziplin, dann ist anzumerken, dass dieser Diskurs weit hinter Korczaks pädagogischem Gehalt zurückbleibt; die Argumentation bleibt im elitären Begriffsjargon hängen. n schreibt Korczak viele fantasiereiche Geschichten zur Selbsterfahrung. Sie ermöglichen ihnen das Erweitern der eigenen Vorstellungen und Durchspielen von Alternativen zur Wirklichkeit, das Vornehmen von Identifikationen und vor allem das Stärken ihrer Hoffnungen. Für Erwachsene n fordert Korczak die Achtung vor dem Kind und n die Liebe zum Kind. Beide Forderungen hängen eng miteinander zusammen. In seiner Rede zur posthumen Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1972 an Korczak sagte Hartmut von Hentig: „Aber dass die Welt den schweren, tapferen, unheroischen Akt der Versöhnung aufbringen muss […], dass gerade der Übeltäter Liebe braucht, das hat Korczak gewusst, gesagt und täglich praktiziert. Die Friedlosigkeit VHN 2 | 2019 97 FERDINAND KLEIN Janusz Korczaks Konstitutionelle Pädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY ist allzu oft nicht der nicht verhinderte Krieg, sondern die nicht vollzogene Versöhnung“ (Hentig, 1972, S. 69f.). Korczaks Kinderrechte haben einen wesentlichen Einfluss auf die UN-Behindertenrechtskonvention (Kerber-Ganse, 2009). Dieses Behindertengrundrecht ist für alle Beteiligten ein einfühlsamer Lernprozess - für behinderte und nichtbehinderte Kinder, für Eltern, Erzieher und alle Bürger: „Inklusion ist gelebte Demokratie. Inklusion ist eine Realvision. […], ein demokratischer Begriff und eine demokratische Notwendigkeit“ (Prantl, 2017, S. 207). Wie kann dieser Lernprozess erfolgen? Hier stellt sich die Kernfrage nach dem Selbstverständnis der modernen Erziehungswissenschaft, die ihre ureigenen Fragen an Kognitionswissenschaften, Lernförderprogramme und virtuelle Techniken abgetreten und damit ihren Anspruch, nämlich ein autonomes und subjektorientiertes Lernen zu ermöglichen, auf Technologie, Technik und ökonomische Kategorien reduziert hat. Damit verliert die „Pädagogik zugleich ihren entscheidenden Sinn“ (Hopfner & Winkler, 2004, S. 11), der darin besteht, das Subjekt in intersubjektiven Situationen auf seinem Weg zum Mündigwerden einfühlsam zu leiten und zu begleiten. 5 Mit Empathie wahrnehmen und Erfahrungserkenntnis pflegen Hat die Erziehungswissenschaft nicht mehr den Mut, sich mit „einheimischen Begriffen“ (Herbart) des eigenen pädagogischen Verstandes zu bedienen und als autonome Wissenschaft sich an bildungswirksamen Erfahrungserkenntnissen zu orientieren? Auf diese Frage kann mit Pestalozzis „sehender Liebe“ geantwortet werden. Sein empathisches Schauen öffnet, nimmt das Kind und seine Umwelt so wahr, wie sie nun einmal sind. Er ist bemüht das Gegebene, also das, was wahrgenommen wird, unter den Bedingungen der Zeit zum Guten zu wandeln - ohne Illusionen. Pestalozzis Liebe sieht in Janusz Korczaks „Lachen des Kindes“ ihren Anker: „Was uns […] innigst mit dem Leben verbindet, ist ein Kinderlachen, strahlend und klar.“ (Deutsche Korczak-Gesellschaft, 2015, S. 2) 4 Die sehende Liebe ermöglicht das Entwickeln einer professionellen Empathie, die die Entwicklung des Kindes mit der „unaussprechlichen Weisheit des Herzens“ (Speck, 2016, S. 35) achtet. Diese achtsame Haltung sprengt gewohnte theoretische Systeme, an die sich viele um den Preis klammern, dass sie sich aus dem schöpferischen Denken und Handeln verabschieden. Mit der Übernahme fertiger Formeln trüben sie den Blick für erzieherisch bedeutsame Sachverhalte und Phänomene. Und sie verlieren das wirkliche Kind aus den Augen. Bei diesem lebensnahen Wahrnehmen und Handeln sollte die Erfahrungserkenntnis zu ihrem Recht kommen. Ich verstehe sie als Antwort auf die Zersplitterung der Einheit der Wissenschaft in Wissenschaften. Die einzelne Wissenschaft kann den ganzheitlichen Lebenszusammenhang in seinen Bedingungen nicht mehr hinreichend wahrnehmen. Erfahrungserkenntnis nimmt Erfahrungen zum Anlass für weitere Fragen. Hier kommt die Erfahrung des Wissenschaftlers, des heilpädagogisch Tätigen und des Studierenden zu Wort, die nicht gleich verallgemeinert wird, wie dies unter dem Zwang einer Vorgabe (Hypothese) geschehen würde. Vielmehr wird die Erfahrung mit eigenen Worten beschrieben und die Begriffe bleiben auf empirische Situationen bezogen. Diese Erkenntnisart ermöglicht pädagogische Sachverhalte zu verfeinern. Dadurch wandelt sich wie von selbst ihre rezeptive Konsumhaltung gegenüber dem Wissen in ein aktives In- VHN 2 | 2019 98 FERDINAND KLEIN Janusz Korczaks Konstitutionelle Pädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY teresse und neugieriges Fragen. Lehrende und Lernende bilden sich hier zur Menschlichkeit und Sachlichkeit, spüren ihre Grenzen und werden in ihrer Wahrheitssuche bescheiden. Und die Inklusionspädagogik wandelt sich ganz unmerklich in eine Kunst, bei der das gemeinsame Interesse der Erwachsenen und jungen Menschen zur bewegenden geistigen Kraft wird, das uns im Modell des pädagogischen Takts begegnet. 6 Inklusionspädagogischer Takt In Herbarts Begriff des pädagogischen Takts ist die Theorie nicht mehr der Regent der Praxis. Die Regentenaufgabe hat die im „gebildeten Gewissen“ (Benner, 1986, S. 245) verankerte pädagogische Verantwortung, die sich durch wechselseitige Kontrolle von Theorie und Praxis ausbildet und den Erzieher in seiner Person vereint. Diese Selbstreflexivität kann der Erzieher üben: Er überlegt, prüft und wägt so lange ab, bis er zu einer sinnvollen Entscheidung kommt. Hier erlebt er sich als lernende Person und entdeckt neue Wege. Er überwindet die alltägliche Routine und bewegt sich auf noch Unbekanntes zu. Durch wechselseitige Kontrolle von Theorie und Praxis bilden sich Dispositionen für ein möglichst situationsgerechtes Gestalten der pädagogischen Situation (Näheres in Klein, 2018, S. 201f.). Durch Reflexion der Praxis im Spiegel der Theorie vermitteln sich also im Erzieher Praxis und Theorie (Sünkel, 2011, S. 41ff.). Diese Arbeit an sich selbst ermöglicht Selbsterziehung des Erziehers, indem er sein Handeln durch inneres Abstandnehmen von sich selbst prüft. Er prüft sein Subjekt-Sein in der intersubjektiven Beziehung - auch zusammen mit anderen im inter- und transdisziplinären Team: Hier reflektiert und kritisiert er sich als Instrument und verbessert dadurch sein methodisches Handeln. Beide Momente vereint der Erzieher in seiner Person: den subjektiven und den instrumentalen. Sie dürfen nie vermischt oder verwechselt werden, „wenn Erziehung gelingen soll“ (Sünkel, 1994, S. 28). Diese anspruchsvolle Professionalität als nie endende persönliche Anstrengung zur Selbstführung zeigt das inter- und transdisziplinäre Schulmodell der „Freien Gemeinschaftsschule Janusz Korczak“, das „keine Restschule“ kennt, denn auf „dem Weg zu mehr Inklusion darf kein Kind verloren gehen“ (Degner & Kunz, 2017, S. 171). Anmerkungen 1 Um den Lesefluss nicht zu stören, wähle ich die männliche Sprachform; es soll aber die jeweils andere mit verstanden werden. 2 In gleicher Weise wie die Schweizer Heilpädagogen Hanselmann und Moor nahm ich an den rhythmisch-musikalischen Übungen aktiv teil (vgl. Klein, 2015, S. 84), konnte die prägende Wirkung der Übungen an mir selbst erfahren - und an die Kinder weitergeben. Für Hanselmann und Moor war die rhythmische Erziehung ein Fundament der Heilpädagogik (Näheres in Klein, 1991). 3 Auf diese Kernfrage der Pädagogik gibt der Erziehungswissenschaftler Oelkers keine konkrete Antwort. Warum wohl? 4 Ich vermute: Ein Beitrag von Pestalozzi oder Korczak würde aufgrund formallogischer Unzulänglichkeit kein Peer Review der scientific community erfolgreich durchlaufen. Literatur Bartosch, U. (2017). Natur - Gott - Mensch. Eine theoretische Verortung der konstitutionellen Pädagogik. In S. Steiger, A. Maluga & U. Bartosch (Hrsg.), Der Blick ins Freie. Im Diskurs mit Janusz Korczak, 12 -27. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Benner, D. (1986). Johann Friedrich Herbart: Systematische Pädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta. Bueb, B. (2006). Lob der Disziplin: Eine Streitschrift. Berlin: Ullstein. Degner, M. & Kunz, E. (2017). Schulzentrum „Janusz Korczak“ - eine Förderschule erweitert sich um eine Grund- und Gemeinschaftsschule. Zeitschrift für Heilpädagogik, 68 (2), 64 -171. VHN 2 | 2019 99 FERDINAND KLEIN Janusz Korczaks Konstitutionelle Pädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Deutsche Korczak-Gesellschaft (Hrsg.) (2015). Korczak-Bulletin, 24. Hentig, H. v. (1972). Janusz Korczak oder Erziehung in einer friedlosen Welt. In Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. (Hrsg.), Janusz Korczak, 19 -76. Frankfurt a. M.: Verlag Buchhändler-Vereinigung. Hopfner, J. & Winkler, M. (Hrsg.) (2004). Die aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft. Weinheim und München: Juventa. Kerber-Ganse, W. (2009). Die Menschenrechte des Kindes. Opladen: Barbara Budrich. Klein, F. (1985). Janusz Korczak - Hilfe bei der Suche des reinen Erziehungsbegriffs für die heilpädagogische Schulpraxis. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 54 (1), 3 -14. Klein, F. (1991). Scheiblauer-Rhythmik unter heilpädagogischem Aspekt, insbesondere für das Kind mit schwerer geistiger Behinderung. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 60 (2), 137 -148. Klein, F. (1997). Janusz Korczak. Sein Leben für Kinder - sein Beitrag für die Heilpädagogik. 2. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Klein, F. (2015). Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Kita. Heilpädagogische Grundlagen und Praxishilfen. 2. Aufl. Köln: Bildungsverlag EINS. Klein, F. (2018). Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783666711435 Korczak, J. (1978). Wie man ein Kind lieben soll. 6. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Korczak, J. (1979). Von Kindern und anderen Vorbildern. Gütersloh: Gerd Mohn. Korczak, J. (1991). Begegnungen und Erfahrungen. 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Krampen, Th. (2016). Vom Passiv zum Aktiv? Ich- Tabu oder Selbstdarstellung in wissenschaftlichen Texten. Forschung & Lehre, 23 (3), 224-235. Oelkers, J. (2017). „War Korczak Pädagoge? “ Ein Nachtrag. In S. Steiger, A. Maluga & U. Bartosch (Hrsg.), Der Blick ins Freie. Im Diskurs mit Korczak, 157 -158. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Popper, K. R. (1994). Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. 2. Aufl. München/ Zürich: Piper. Prantl, H. (2017). Die Kraft der Hoffnung. Denkanstöße in schwierigen Zeiten. München: Süddeutsche Zeitung Edition. Speck, O. (2016). Spirituelles Bewusstsein. Wissenschaftliche und kulturelle Aspekte - Übersinnliche Erfahrungen. 3. Aufl. Norderstedt: BoD - Books on Demand. Sünkel, W. (1994). Im Blick auf Erziehung. Reden und Aufsätze. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Sünkel, W. (2011). Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Allgemeine Theorie der Erziehung, Band 1. Weinheim und München: Juventa. Anschrift des Autors Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein Adalbert-Stifter-Straße 4 a D-83043 Bad Aibling E-Mail: ferdi.klein2@gmail.com