eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Die kontroverse Debatte: Das Pädagogische der Sonderpädagogik?

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2019
Jan Kuhl
In der VHN bzw. VHNplus wurde ein Diskurs systematisch angestoßen, in dem zwei Wissenschaftler (Andreas Kuhn und Jan Kuhl) aus sehr unterschiedlichen Perspektiven individuell zu identischen Leitfragen Stellung beziehen. Der vorliegende Kurzbeitrag soll nun auf den Hauptartikel des anderen Autors eingehen. Es wird dargestellt, wie Andreas Kuhn (2019) die wichtige Frage nach dem Pädagogischen der Sonderpädagogik zwar aufwirft, ihre Beantwortung aber schuldig bleibt. Daher sollte Behinderung als zentraler Begriff der Sonderpädagogik nicht aufgegeben werden. Behinderung muss dabei aber als sozialer Tatbestand begriffen werden.
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146 146 VHN, 88. Jg., S. 146 -151 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art21d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Das Pädagogische der Sonderpädagogik? Ein Kommentar zum Artikel von Andreas Kuhn Jan Kuhl Technische Universität Dortmund Zusammenfassung: In der VHN bzw. VHN plus wurde ein Diskurs systematisch angestoßen, in dem zwei Wissenschaftler (Andreas Kuhn und Jan Kuhl) aus sehr unterschiedlichen Perspektiven individuell zu identischen Leitfragen Stellung beziehen. Der vorliegende Kurzbeitrag soll nun auf den Hauptartikel des anderen Autors eingehen. Es wird dargestellt, wie Andreas Kuhn (2019) die wichtige Frage nach dem Pädagogischen der Sonderpädagogik zwar aufwirft, ihre Beantwortung aber schuldig bleibt. Daher sollte Behinderung als zentraler Begriff der Sonderpädagogik nicht aufgegeben werden. Behinderung muss dabei aber als sozialer Tatbestand begriffen werden. The Pedagogy in Special Education? - A Comment on the Paper of Andreas Kuhn Summary: In VHN plus , a discourse was systematically initiated in which two scientists (Andreas Kuhn and Jan Kuhl) take an individual stand on identical key questions from very different perspectives. This short article will now deal with the main article of the other author. It shows how Andreas Kuhn (2019) raises the important question of the pedagogical aspects of special education, but fails to answer it. Therefore, disability as a central concept of special education should not be abandoned. However, disability must be understood as a social fact. DI E KONTROVE RSE D E BAT TE Sonderpädagogik im Diskurs 1 Aufhänger der Debatte: Empirische Dominanz und Legitimation von Sonderpädagogik in der Inklusion Der Satz „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“ von Moor (1974, S. 7) ist zum Gemeinplatz innerhalb der Sonderpädagogik geworden. Historisch sollte er die Sonderpädagogik vor allem gegen die Medizin, speziell die Psychiatrie, abgrenzen (Haeberlin, 2005). Auch aktuell wird immer wieder die Abgrenzung von anderen Disziplinen gefordert. Gemeint sind dabei aber inzwischen in erster Linie die Psychologie und Psychotherapie (Haeberlin, 2005; Willmann, 2012). Aber auch innerhalb der Erziehungswissenschaft musste sich die Sonderpädagogik von anderen Teildisziplinen, wie der Sozialpädagogik, unterscheidbar machen (Haeberlin, 2005; Moser, 2004). Die Legitimation der Sonderpädagogik als Disziplin und Profession ist an das Gelingen der Abgrenzung von nicht-pädagogischen Disziplinen und von anderen pädagogischen Teildisziplinen, an das Herausarbeiten von etwas Spezifischem gebunden. Daher ist die Frage nach dem Pädagogischen in der Sonderpädagogik, die Andreas Kuhn (2019) in seinem Beitrag zum Projekt „Sonderpädagogik im Diskurs“ aufgreift, eine ausgesprochen wichtige Grundlagenfrage des Fachs. Auftrag des hier vorliegenden Artikels ist es, diesen Diskursbeitrag von Kuhn (2019) aus einer anderen fachlichen Perspektive zu kommentieren. Dabei kann die Kommentierung schon aus Platzgründen nicht allumfassend sein, sondern muss sich auf die, aus meiner Sicht, wichtigen Kerne beziehen. Es sei vorweggenommen, dass ich zwar den Überle- VHN 2 | 2019 147 JAN KUHL Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE gungen von Kuhn (2019) nicht in allen Punkten folge und eine Reihe von kritischen Anmerkungen und Anfragen habe, aber dennoch keine Unvereinbarkeit der Ansätze finden konnte. Nach Kuhn (2019) bilden die Debatte um die „vielfach konstatierte Dominanz empirischer Forschung“ (ebd., S. 2) und die „Arbeit an der Theorie“ (ebd.) sowie die Legitimation der Sonderpädagogik im Kontext von Inklusion den Hintergrund seiner Überlegungen. Auch m. E. haben diese Debatten erhebliche Auswirkungen auf die aktuelle Verfassung des Fachs. Die verstärkte empirische Orientierung der Sonderpädagogik wird von erheblichen Abwehrreaktionen (Ellinger, 2016; Dederich, 2017) und der Sorge um die Vernachlässigung der Theoriebildung (Dederich & Felder, 2016) begleitet. Ob das Fehlen von Entwürfen einer Theorie der Sonderpädagogik allerdings auf die empirische Wende zurückzuführen ist, ist zumindest fraglich, waren diese doch auch zuvor eher rar gesät. Ausnahmen bilden z. B. die Arbeiten von Bleidick (1972), Jantzen (1992) und Speck (1998). Auch wenn Kuhn seinen Beitrag sicherlich als verstärkte Arbeit an der Theorie oder auch „theoriegeleitete Forschung“ (Bellmann, 2011) versteht, wendet er sich vor allem den Legitimationsproblemen der Sonderpädagogik im Zusammenhang mit der Inklusionsdebatte zu. Wie diese Problematik aufgelöst werden kann, ist eine wichtige Grundsatzfrage des Fachs. Dabei ist Kuhn (2019) zuzustimmen, dass die Sonderpädagogik dazu ihre Orientierung an Sondersystemen überwinden muss. Vielmehr muss sie sich subsidiär im Erziehungssystem platzieren und sich grundsätzlich auf Inklusions- und Exklusionsprozesse konzentrieren (Moser, 2003). Ob im Kontext von schulischer Inklusion auf die Orientierung an den Themen Behinderung, Förderbedarfe, Lern- und Verhaltensstörungen verzichtet werden sollte, ist m. E. fraglich. Besteht doch die Gefahr, dass die Bedarfe von betroffenen Personen nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden (Gebhardt, Kuhl, Wittich & Wember, 2018). 2 Das Pädagogische der Pädagogik - Gute Fragen, aber noch keine Antworten Bevor sich Kuhn (2019) der Frage nach dem Spezifischen, nach dem Pädagogischen in der Sonderpädagogik, zuwendet, fragt er zunächst nach dem Pädagogischen in der Pädagogik. Dies ist ein konsequenter Ansatz, da zunächst das Pädagogische im Allgemeinen bestimmt werden muss, um dann herauszuarbeiten, was an der Sonderpädagogik eigentlich das Pädagogische ist. Die Bestimmung der Sonderpädagogik geschieht so direkt aus ihrer „oft ungeliebten Mutterdisziplin“ (Haeberlin, 2005, S. 13) heraus. In meinem eigenen Diskursbeitrag (Kuhl, 2019) habe ich auch versucht, den Gegenstand der Sonderpädagogik aus dem Gegenstand der allgemeinen Pädagogik heraus zu bestimmen. Es besteht also Einigkeit, dass Sonderpädagogik als Teildisziplin der Pädagogik zu konstituieren ist. Dabei sollte sie sich aber ihre Eigenständigkeit bewahren und sich nicht in der allgemeinen Pädagogik auflösen. Ob auch bei der Frage, was das Pädagogische in der Pädagogik ist, Einigkeit besteht, ist allerdings auf der Grundlage des Artikels von Kuhn (2019) nicht zu beantworten. Dies hat seine Ursache darin, dass diese Frage von Kuhn zwar elaboriert aufgeworfen, aber in keiner Weise beantwortet wird. Nach Kuhn wird diese Frage „unter dem Verweis auf ‚einheimische Begriffe‘ aufgeworfen“ (ebd., S. 2), die der Abgrenzung zu anderen Formen des menschlichen Denkens und Handelns dienen. Mit dem Fraglichwerden des Zusammenhangs von Praxis, Theorie und Empirie, der universitären Etablierung sowie der disziplinären, institutionellen und professionellen Ausdifferenzierung verliere sich die Frage nach dem Pädagogischen in der Pädagogik (ebd., S.3). Dass die Ausdifferenzierung der Pädagogik zur Vernachlässigung von systematischen Gesamtentwürfen geführt hat, ist in der Argumentation von Kuhn (2019) nachvollziehbar. Warum der Zusammenhang von VHN 2 | 2019 148 JAN KUHL Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE Praxis, Theorie und Empirie fraglich geworden sein sollte, wird hingegen m. E. in keiner Weise deutlich. Diese These wird nicht weiter begründet, und es werden auch keine Belege oder Beispiele angeführt. Nichtsdestotrotz stellen sich die von Kuhn (2019, S. 3f.) aufgeworfenen Fragen nach 1) „der (praktischen) Konstitution des Pädagogischen im Rahmen unterschiedlicher Bereiche und Praktiken pädagogischen Handelns“ (ebd.), 2) „der Konzeptualisierung des Pädagogischen im Rahmen der theoretischen Reflexion und praktischen Orientierung sowie der empirischen Erforschung von pädagogischer Praxis und pädagogischem Handeln“ (ebd, S. 4) sowie 3) „der Selbstthematisierung der Konstitution des Pädagogischen im Rahmen der theoretischen Verständigung und empirischen Erforschung des Pädagogischen in der Praxis der Wissenschaft im Sinne einer reflexiven Pädagogik/ Erziehungswissenschaft“ (ebd.). Diese Fragen stellen sich aber grundsätzlich und nicht erst aufgrund der „zunehmenden Selbstreferentialität der Pädagogik als Wissenschaft und ihrer Autonomisierung gegenüber der pädagogischen Praxis“ (ebd., S. 3). Weiterhin werden auch diese Fragen von Kuhn (2019) lediglich aufgeworfen, aber es werden keine Ansätze der Beantwortung verfolgt. Da die Debatte um die Funktion von Theorie in der (sonder-)pädagogischen Forschung einen Kontext der Ausführungen von Kuhn (2019) bildet, ist es naheliegend, dass er sich auch auf den Ansatz einer „theoriegeleiteten Forschung“ von Bellmann (2011) bezieht. Dieser Ansatz kann sicherlich auch interessante Impulse für den aktuellen Diskurs in der Sonderpädagogik liefern. Die Frage nach dem Pädagogischen wird hier aber nicht wirklich bearbeitet. Vielmehr geht es um Verhältnisbestimmung von Bildungstheorie und Bildungsforschung und das Erschließen von Forschungsperspektiven jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Dabei werden vor allem Forschungsziele und teilweise Forschungsgegenstände innerhalb der Pädagogik diskutiert. Darüber hinaus heißt es in den Schlussbemerkungen nur, dass „eine lediglich nachholende forschungsmethodische Modernisierung der Erziehungswissenschaft folgenlos bleiben wird, wenn sie nicht von theoretischen Neubeschreibungen ihres Gegenstands begleitet und kritisch herausgefordert wird“ (Bellmann, 2011, S. 211). Insgesamt betrachtet gelingt es Kuhn (2019) m. E. nicht, einen Vorschlag zu liefern, was das Pädagogische in der Pädagogik ist, sofern dies überhaupt sein Ziel gewesen ist. Wenn man Kuhn (2019) folgt, „dass das Pädagogische nicht als etwas (Gegebenes) zu haben ist, über das man sich verständigen könnte“ (ebd., S. 5, kursiv i. Orig.), sondern „erst in der und durch die Verständigung als Bestimmtes hervorgebracht“ (ebd.) wird, dann wurde in diesem Beitrag bisher nur die Notwendigkeit der Verständigung begründet. Vorschläge zu einer solchen Verständigung zu machen, wird aber die Aufgabe späterer Arbeiten sein. 3 Behinderung als zentrale Kategorie der Sonderpädagogik Nach Kuhn (2019) folgte die Entwicklung der deutschsprachigen Sonderpädagogik als eigenständige Profession und Disziplin und damit auch ihre Abgrenzung von Medizin einerseits und Pädagogik anderseits, der systemischinstitutionellen Entwicklung, u. a. der Entstehung und Entwicklung der Hilfsschule und später der Ausdifferenzierung des Sonderschulsystems in Deutschland. Die Abgrenzung zur Pädagogik, vor allem zur Sozial- und Schulpädagogik, erfolgte anhand des Behinderungsbegriffs und seiner historischen Vorläufer. Behinderung als pädagogische Aufgabe wird zur zentralen Kategorie und zum Referenzpunkt der Selbstverständigung einer eigenständigen sonderpädagogischen Theorie und Praxis (Kuhn, 2019, S. 5f.). VHN 2 | 2019 149 JAN KUHL Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE Die Setzung von Behinderung als zentrale Kategorie der Sonderpädagogik ist vielfach kritisiert worden und Kuhn (2019) greift diese Kritik unter verschiedenen Gesichtspunkten auf. Zuzustimmen ist dabei vor allem der Position, dass Sonderpädagogik nicht „entlang einer individualisierenden und anthropologisierenden Klientelbeschreibung“ (ebd., S. 6) begründbar ist. Vielmehr müsse Sonderpädagogik pädagogisch begründet werden. Die Argumentation gegen Behinderung als zentrale Kategorie der Sonderpädagogik greift allerdings nur, solange Behinderung als individuelle und anthropologische Kategorie konstruiert wird, wie dies z. B. Bleidick (1972) in seiner „Pädagogik der Behinderten“ tut. Wird Behinderung als sozialer Tatbestand begriffen, wie von der materialistischen Behindertenpädagogik nach Jantzen (1974, 1992) und Feuser (1995, 1996), ändert sich alles. Behinderung wird von einer individuellen und anthropologischen zu einer gesellschaftlichen und sozialen Kategorie. Individual- und Gesellschaftsgeschichte werden mit dem Fokus auf Behinderung verknüpft (Moser, 2018). Auf individueller Ebene kann zwar eine Schädigung oder Funktionsstörung existieren, aber keine Behinderung. Behinderung wird erst existent, wenn Merkmale und Fähigkeiten einer Person zu gesellschaftlichen Vorstellungen über Funktionsfähigkeit in Beziehung gesetzt werden. Behinderung existiert nicht an sich, sondern nur dadurch, dass wir Personen „aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen“, der Kategorie Behinderte zuweisen (Feuser, 1996, S. 18). Daher kann Behinderung nur als Differenz zu einer Erwartungsnorm bestimmt werden (Kuhl, 2019). Nun ist Behinderung zunächst keine pädagogische Kategorie. Sie wird aber pädagogisch relevant, wenn sie sich auf die Möglichkeiten der Weltaneignung und damit auf den Gegenstand der Pädagogik bezieht (Kuhl, 2019). Kuhn (2019) ist zuzustimmen, dass die Bestimmung des Sonderpädagogischen abhängig ist von der Bestimmung des Pädagogischen. Ein entsprechender Vorschlag meinerseits findet sich in Kuhl (2019, S. 5f.). Der Gegenstand der Pädagogik wird dort als Weltaneignung durch individuelle und gesellschaftliche Erfahrung gefasst. Der Gegenstand der Sonderpädagogik wäre dann die Behinderung von Weltaneignung „von Personen mit Beeinträchtigungen oder Störungen und die daraus resultierende Notwendigkeit einer besonderen Unterstützung“ (ebd., S. 5). Die Behinderung wird dabei aber nicht direkt von der Beeinträchtigung oder der Störung verursacht. Sie entsteht nur dann, wenn die Umwelt nicht dazu in der Lage ist, die Schwierigkeiten beim Aneignungsprozess auszugleichen und das Ergebnis des Aneignungsprozesses, auf Grundlage gesellschaftlicher Normen, als inadäquat beurteilt wird (Kuhl, 2019). 4 Sonderpädagogik ohne Behinderung Kuhn (2019) versucht sich hingegen an einer Bestimmung der Sonderpädagogik, die ohne die Kategorie Behinderung auskommt. Stattdessen möchte er Sonderpädagogik mit Blick auf die pädagogische Konstitution von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss entlang der Verständigung über Pädagogisches/ Nicht-Pädagogisches begründen. Ich muss gestehen, dass mir nicht vollständig klar geworden ist, was dies für die Sonderpädagogik als Disziplin und Profession bedeutet. Was ist nach diesem Ansatz unter Sonderpädagogik zu verstehen und was sind sonderpädagogisch relevante Forschungsfragen? Vielleicht ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dem Diskurs, dass eine Trennlinie zwischen verschiedenen Ansätzen in der Sonderpädagogik die Sprache ist oder auch die hinter der Sprache stehenden Denkgewohnheiten. So wird Inklusion als das VHN 2 | 2019 150 JAN KUHL Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE bezeichnet, was pädagogisch bestimmt ist, und Exklusion als das, was „nicht-pädagogisch bestimmt wird oder pädagogisch unbestimmt bleibt“ (Kuhn, 2019, S. 9). Wie diese Behauptung begründet ist, bleibt mir unklar. Kann Exklusion nicht pädagogisch bestimmt werden? M. E. ist dies durchaus möglich. Soll Exklusion nicht pädagogisch bestimmt werden? Aber wird dann die Pädagogik nicht blind gegenüber Exklusionsprozessen? Vielleicht ist dieser Absatz auch vollkommen anders zu verstehen und in einem Sinne, der sich mir nicht erschließt. Als Kerngedanken von Kuhn (2019) verstehe ich das Folgende: Gleichheit/ Ungleichheit sind zunächst nicht in jedem Fall pädagogische Kategorien. Gleichheit/ Ungleichheit können in vielen Kontexten auftauchen. Zu pädagogischen Kategorien werden sie erst im Zusammenhang mit der individuellen Realisierung von Teilhabemöglichkeiten. „Teilhabe und Ausschluss konstituieren in diesem Sinne Gleichheit und Ungleichheit als pädagogisch hervorgebracht“ (ebd., S. 9). Warum dann aber Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss im Rahmen der konkreten Konzeptualisierung nicht notwendigerweise pädagogisch bestimmt sind (ebd.), bleibt mir unklar. Ebenso, warum Exklusion in diesem Zusammenhang der blinde Fleck bleibt, da Ausschluss doch pädagogisch konzeptualisiert werden kann. Absolut nachvollziehbar ist hingegen, dass die pädagogische Konzeption von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss davon abhängt, was unter dem Pädagogischen verstanden wird (Kuhn, 2019, S. 10). D. h. als Ausgangspunkt wird wiederum eine Bestimmung des Pädagogischen benötigt, die aber m. E. im Rahmen dieses Beitrags nicht stattgefunden hat. Grundsätzlich ist die Konzeption von Sonderpädagogik anhand von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss und einer Orientierung auf Inklusions- und Exklusionsprozesse, wie Kuhn (2019) sie vorschlägt, eine diskussionswürdige Alternative, da sich eine Sonderpädagogik, die sich anhand von Sondersystemen und mit Behinderung (verstanden als individuelle und anthropologische Kategorie) als Zentralbegriff konstituiert, nicht von einer Beteiligung an Selektions- und Ausschlussprozessen freisprechen kann. Durch die Verstrickung in Selektions- und Ausschlussprozesse wird eine angemessene pädagogische Bearbeitung von Inklusions- und Exklusionsprozessen nicht möglich. Die Notwendigkeit einer eigenständigen Sonderpädagogik wird damit fraglich. Der Verzicht auf Behinderung (oder anverwandte Begriffe wie Störung, Sonderpädagogischer Förderbedarf u. a.) als zentrale Kategorie macht aber eine klare Bestimmung des Sonderpädagogischen schwierig, da Inklusions- und Exklusionsprozesse in jeglicher Pädagogik von Bedeutung sind. Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss werden in den unterschiedlichsten Zusammenhängen pädagogisch bedeutsam. Behinderung, soziale Lage, kultureller Hintergrund und Gender sind nur einige der Differenzlinien, die mit diesen Kategorien in Zusammenhang stehen können. Ist dies alles der Gegenstand der Sonderpädagogik? Wie ist sie dann gegen andere Teildisziplinen, wie z. B. die Sozialpädagogik, abzugrenzen? Selbstverständlich ist es wichtig, Inklusion und Exklusion im Kontext der zugrunde liegenden Prozesse zu betrachten. Nicht mehr zwischen verschiedenen Differenzlinien zu unterscheiden, birgt aber auch die Gefahr, die spezifischen Bedarfe von Personen zu übersehen und die spezifische Expertise der Sonderpädagogik zu verwässern (Gebhardt et al., 2018). Daher sollte die Sonderpädagogik Behinderung als zentrale Kategorie nicht aufgeben, sondern als gesellschaftliche und soziale Kategorie im Kontext von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss mit der Orientierung auf Inklusions- und Exklusionsprozesse konzeptionalisieren. VHN 2 | 2019 151 JAN KUHL Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE Literatur Bellmann, J. (2011). Jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft. In J. Bellmann & T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter Pädagogik, 9 -32. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-93296-5_8 Bleidick, U. (1972). 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System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung, 4. Aufl. München: Reinhardt. Willmann, M. (2012). De-Psychologisierung und Professionalisierung der Sonderpädagogik. München: Reinhardt. Anschrift des Autors Prof. Dr. Jan Kuhl Technische Universität Dortmund Fakultät für Rehabilitationswissenschaften Emil-Figge-Str. 50 D-44227 Dortmund E-Mail: jan.kuhl@tu-dortmund.de