Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2019
884
Das provokative Essay: Pädagogische Beziehung revisited
101
2019
Barbara Jeltsch-Schudel
Wissenschaftliche Diskurse verändern Disziplinen, bringen sie weiter, lassen Themen auftauchen oder auch verschwinden. Bedeutung und mögliche Weiterentwicklung des in der Pädagogik oft thematisierten Topos „pädagogische Beziehung“ werden in diesem Essay diskutiert. Angesichts verschiedener Beobachtungen des pädagogischen Diskurses und einem sich verändernden Verständnis vom Menschen wird die Frage aufgeworfen, ob dieser Topos weiterhin als konstitutiv oder als obsolet betrachtet werden soll. Eine Beibehaltung wird begründet, und mögliche Aspekte zur Weiterentwicklung werden angesprochen.
5_088_2019_004_0257
257 VHN, 88. Jg., S. 257 -263 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art39d © Ernst Reinhardt Verlag Pädagogische Beziehung revisited Barbara Jeltsch-Schudel Universität Freiburg/ Schweiz Zusammenfassung: Wissenschaftliche Diskurse verändern Disziplinen, bringen sie weiter, lassen Themen auftauchen oder auch verschwinden. Bedeutung und mögliche Weiterentwicklung des in der Pädagogik oft thematisierten Topos „pädagogische Beziehung“ werden in diesem Essay diskutiert. Angesichts verschiedener Beobachtungen des pädagogischen Diskurses und einem sich verändernden Verständnis vom Menschen wird die Frage aufgeworfen, ob dieser Topos weiterhin als konstitutiv oder als obsolet betrachtet werden soll. Eine Beibehaltung wird begründet, und mögliche Aspekte zur Weiterentwicklung werden angesprochen. Schlüsselbegriffe: Wissenschaftlicher Diskurs, pädagogische Beziehung, Entwicklung Educational Relationship Revisited Summary: Scientific discourses change disciplines, bring them forward, make topics emerge or even disappear. This essay discusses the significance and the possible further development of the topos “pedagogical relationship”. In view of various observations of pedagogical discourse and a changing understanding of the human being, the question is raised as to whether this topos continues to be regarded as constitutive or obsolete. A retention is justified and possible aspects for further development are mentioned. Keywords: Scientific discourse, pedagogical relationship, development DAS PROVOK ATIVE ESSAY Einleitung Der Diskurs in der Pädagogik ist seit jeher vielfältig, aber in den letzten Jahren scheint er vermehrt auseinanderzudriften. Es geht dabei nicht um Kontroversen, also um verschiedene gegensätzliche Argumente zum gleichen Thema, sondern eher um eine Spaltung in zwei Schwerpunkte im Sinne von Herangehensweisen. Diese scheinen sich zu je eigenen Diskursen zu entwickeln, welche sich gegenseitig immer weniger verständigen können und/ oder wollen. Dies wird beispielsweise sichtbar darin, dass sich an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena das „Institut für Bildung und Kultur vom Institut für Erziehungswissenschaft abgetrennt“ (Rosa, 2019, S. 98) hat. Die Hauptunterschiede liegen darin, dass im einen Diskurs Evidenzbasierung auf der Basis der Messbarkeit von relevant erklärten Kriterien als konstitutiv für die Erziehungswissenschaft erachtet und daher vor allem empirisch geforscht wird. Im anderen Diskurs dagegen werden verschiedene Themen theoretisch erörtert und erforscht. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in der Sonderpädagogik feststellen. In diesem Essay geht es nicht darum, diese Entwicklungen zu analysieren oder die beiden Diskurse gegeneinander abzuwägen, sondern vielmehr vor diesem Hintergrund zwei aufeinander aufbauende Fragen zu einem Topos zu stellen, welcher in der Pädagogik seit jeher als zentral betrachtet und immer wieder neu konzeptualisiert wurde: die pädagogische Beziehung. VHN 4 | 2019 258 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Pädagogische Beziehung revisited DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die erste Frage: Wird „der pädagogische Bezug“ weiterhin als konstitutiv für Pädagogik und Sonderpädagogik betrachtet oder ist er obsolet geworden? Pädagogischer Bezug in seiner historischen Entwicklung Zunächst muss kurz dargestellt werden, wie die pädagogische Beziehung (oft auch „pädagogischer Bezug“ genannt) historisch verstanden wurde und wie sie sich entwickelte. Auch wenn in der Menschheitsgeschichte seit jeher Erziehung stattfand, weil Menschen für ihre Entwicklung andere Menschen brauchen, entstand der Begriff Pädagogik (verstanden als Erziehung im okzidentalen Sinn) in Deutschland erst im 18. Jahrhundert (Tenorth, 1992, S. 39). Mit dem in der Renaissance entstandenen Verständnis vom Menschen, das gekennzeichnet ist von Vernunft und Autonomie eines persönlichen Ichs (Reble, 1980, S. 68), wurde die Basis für die Konzeption von Erziehung gelegt. Eine Thematisierung von Erziehung als einem Beziehungsgeschehen fand jedoch noch nicht statt. Vielmehr wurden Erziehungssysteme entworfen, die bestimmte Erziehungsziele, welche oft in einem religiösen Normsystem verankert waren, mit entsprechenden Methoden und Materialien erreichen wollten. Zu erwähnen ist hier Jan Amos Comenius, der Mitte des 17. Jahrhunderts mit seiner Didacta magna die spätere Pädagogik nachhaltig prägte. Nicht zuletzt ist sein Werk, das stärker noch auf Bildung als auf Erziehung zielt, auch aus sonderpädagogischer Sicht interessant wegen seiner Intention, alle Kinder alles zu lehren (Comenius, 1992 [1657]). Im 18. Jahrhundert wurde die pädagogische Beziehung als wesentlicher Aspekt der Pädagogik erkannt und modelliert. Heinrich Pestalozzi prägte die Beziehung von Mutter und Kind als idealtypisches Modell der pädagogischen Beziehung. Er beschrieb diese insbesondere in seinem Werk „Lienhard und Gertrud“ (1781 - 1787). Ein weiteres, erst im 20. Jahrhundert formuliertes Modell, welches die Pädagogik nachhaltig beeinflusste, ist jenes von Herman Nohl. Er situiert Erziehung nicht nur in der Familie, sondern definiert den „pädagogischen Bezug“ allgemeiner, versteht ihn auch außerfamiliär, bezieht seine Umschreibung auf Institutionen (wie Schulen oder Heime), welche sich mit Erziehung beschäftigen. „Die Grundlage der Erziehung ist (…) das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Nohl, 1933, zit. nach Nohl, 1963, S. 134). In diesen beiden Konzeptionen der pädagogischen Beziehung sind Grundstrukturen sichtbar: erzieherische Beziehungen sind in der Familie und außerhalb der Familie zu finden; sie sind durch den Altersunterschied (Generationenunterschied) zwischen der älteren Person, die erzieht, und der jüngeren Person, die erzogen wird, gekennzeichnet. Mit den Adjektiven „reif “ und „werdend“ scheint ein weiterer Unterschied auf, der auch mit dem Prozess von unmündig, inkompetent und ungebildet zu mündig, kompetent und gebildet umschrieben werden kann (s. Tenorth, 1992, S. 15). Wenn Erziehung ihr Ziel erreicht, also aus einem unmündigen ein mündiger Mensch geworden ist, dann macht sie sich selber überflüssig. Dieses Paradoxon verändert die Beziehung zwischen den Beteiligten, denn die pädagogische, asymmetrische Beziehung wird zu einer andersartigen Beziehung, die symmetrisch sein (unter Erwachsenen) oder sich auch in eine umgekehrte Asymmetrie (in der Begleitung und Betreuung alter Menschen) verwandeln kann. Das Erziehungsverhältnis oder eben der pädagogische Bezug (nach Nohl) ist ausschlaggebend beteiligt an den Prozessen, die zum Erwachsensein führen. Intentionen können dabei eine tragende Rolle spielen, wie das folgende Zitat exemplarisch zeigt: „Unter Erzie- VHN 4 | 2019 259 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Pädagogische Beziehung revisited DAS PROVOK ATIVE ESSAY hung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Bestandteile zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten“ (Brezinka, 1981, S. 95). Hier wird ein für die Pädagogik sehr wesentlicher Aspekt hervorgehoben, nämlich der, dass Ziele gesetzt werden, welche durch dieses Erziehungsverhältnis angestrebt werden. Diese sollen zu einer dauerhaften Veränderung im Sinne einer Verbesserung führen. Gemeint sein kann dabei die Entwicklung des Menschen in eine von gesellschaftlichen Normen und Werten geprägte Richtung, beispielsweise zu einem Vernunftwesen oder einem leistungsfähigen Erwachsenen. Damit wird deutlich, dass Werte und Normen historisch eingebettet und damit in hohem Maße veränderbar sind (s. Benner, 1991; Oelkers, 1992). Dieser normativen Dimension der Pädagogik liegt letztendlich die Frage zugrunde, wie der Mensch zum Menschen werde. Diese Frage muss immer wieder neu beantwortet werden. Verständnis vom Menschen in schnelllebiger Zeit Dass unsere Welt sich in den verschiedensten Bereichen mit hoher Geschwindigkeit verändert, ist allgemein bekannt. Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich, kann dies doch als Bedrohung beklagt oder als Fortschritt begrüßt werden. Wie die Veränderungen sich auswirken und welche Bedeutung sie für das Leben der Menschen haben, ist schwer einzuschätzen. In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Momente, in denen Ereignisse oder Erkenntnisse das Verständnis dessen, was ein Mensch sei und welches seine Bestimmungen oder Zielsetzungen seien, veränderten und in gewissem Sinne weiterführten. Die Frage danach, was der Mensch sei, wird heute sehr vielfältig beantwortet. Zu denken ist etwa an die Thematik der Zuordnung zu einem Geschlecht oder vielmehr der vieldiskutierten Unmöglichkeit oder Sinnlosigkeit, dies überhaupt tun zu wollen, sind doch Möglichkeiten des Zwischen (Inter-) und des Hin-und-Hers (Trans-) nicht ausgeschlossen. Eine andere Thematik betrifft die Intentionen, den Menschen zu verbessern (Enhancement), sei dies bezüglich seiner genetischen Ausstattung oder im Sinne einer Hybridisierung, indem Menschen mittels technischer Anteile optimiert werden oder lediglich durch wirksame Substanzen. Deutlich wird, dass eine klare Definition, was der Mensch sei, schwieriger wird. Dringend stellt sich folglich die Frage nach der eigenen Identität: Wer bin ich? Diese Frage ist seit jeher gestellt und immer wieder neu und anders beantwortet worden. Zwei im letzten Jahr erschienene Bücher regen wegen ihrer interessanten Anstöße zu einem neuerlichen Nachdenken über diese auch und gerade für die Pädagogik höchst relevante Thematik an. Zwar beide im selben Jahr erschienen, nehmen sie jedoch keinen Bezug aufeinander. „Ich und die anderen“ setzte die Wiener Philosophin Isolde Charim (2018) als Titel ihres Buches. Die neue Pluralisierung, so ihre Analyse, verändere uns alle. Anzunehmen, die Gesellschaft sei homogen, sei eine Illusion. Die Pluralisierung, so Charim, löst vielmehr selbstverständliche Annahmen über Typisierungen des Einzelnen und Zugehörigkeiten zu Gesellschaft und Lebenswelt auf. Veränderungen der Identität, ein identitäres Prekariat (Charim, 2018, S. 48), insbesondere im politischen Bereich, sind die Folge. Wer ich bin, lässt sich also nicht klar umschreiben, sondern bleibt vielgestaltig und vage. Es könnte - mit dem anderen erwähnten Buch, das mit „Wir“ betitelt ist - im Anschluss daran überlegt werden, ob ein solcherart vielgestaltiges und vages Ich nicht besser in einem Wir aufgehoben wäre. Denn: „,Wir‘ ist das Subjekt VHN 4 | 2019 260 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Pädagogische Beziehung revisited DAS PROVOK ATIVE ESSAY der Politik“ stellt der französische Philosoph und Schriftsteller Tristan Garcia (2018, S. 9) bereits im ersten Satz seines Buches fest. Das Ich kommt bei ihm gar nicht (mehr) vor, oder höchstens indirekt, indem es aus den verschiedenen Wir herausgelesen werden kann, zu denen wir uns zählen und die (so die Modellvorstellung von Garcia) gewissermaßen wie Folien übereinandergeschichtet werden. Auf den Punkt gebracht - und damit auch plakativ vereinfacht - könnte man aus diesen beiden Büchern folgern: Ein Ich ist identitär prekär und damit ein Wagnis und ein Risiko (Charim). Oder das Ich erübrigt sich überhaupt, weil es letztlich nur in Wir-Konstellationen gedacht wird (Garcia). Die sehr unterschiedlichen Analysen in diesen beiden Büchern verweisen indes - so scheint mir - auf eine radikale Infragestellung einer Konzeption von individueller Identität. Beide Bücher bieten zwar interessante Analysen, die diese Infragestellung argumentativ stützen, jedoch weniger plausible Ausführungen darüber, welche Konsequenzen sich aus den Analysen ergeben. Die zweite Frage: Inwieweit sind die Kerntätigkeiten der Pädagogik, also Erziehung und Bildung, angesichts solcher Befunde und weiterer aktueller Tendenzen (Thematiken wie angedeutet: Gender, Enhancement) zu überdenken, allenfalls zu verändern? In den Analysen von Charim und von Garcia scheinen mir zwei Aspekte ausgeblendet, die aus Sicht der Pädagogik wesentlich sind: Der eine Aspekt ist die Entwicklung des Menschen, die als Anlass für dessen Erziehung genommen wird (siehe Tenorth, 1992) und sich eigentlich nur mit einem Ich (Selbst oder Subjekt) denken lässt. Der andere Aspekt ist die Beziehung, die für Erziehung als konstitutiv angenommen wird. Entwicklung und Beziehung in der Menschwerdung Das bekannte Diktum: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“ (Kant, 1803, S. 11), verweist auf die Angewiesenheit des Menschen auf andere. Diese verändert sich im Laufe des Lebens und bezieht sich auf verschiedene Dimensionen. Man kann diese Angewiesenheit zunächst mit Erziehung, Sozialisation und Enkulturation umschreiben, wie dies Loch (1979) für die Pädagogik und Bleidick (1983) für die Sonderpädagogik (Pädagogik der Behinderten) getan haben. Angewiesenheit kann als Angewiesensein verstanden und damit inhaltlich weiter gefasst werden. Umfassende Pflege durch eine enge Bezugsperson ist am Anfang des Lebens für den Menschen existenziell. Diese besondere Beziehung wurde als Bindungstheorie von Bowlby, Ainsworth und anderen theoretisch konzeptualisiert und empirisch erforscht. In diesen Forschungsarbeiten wurden verschiedene Aspekte untersucht und mehrere Bindungsformen unterschieden. Als Konsens kann insgesamt konstatiert werden, dass Bindung sich von Beziehung unterscheidet: Die Bindung zwischen einem Kind und seinen primären Bezugspersonen beinhaltet anderes und ist mehr als eine pädagogische Beziehung. Unumstritten ist auch die Notwendigkeit von Bindungserfahrung für die Entwicklung des Menschen, d. h. dass körperliche Pflege und Ernährung nicht ausreichen - was der Stauferkönig Friedrich der Zweite in Versuchen an Kindern in Waisenhäusern bereits im 13. Jahrhundert feststellte. Im Bezug auf die Thematik vom Ich oder der Identität des Menschen ist interessant, dass gerade in der Bindungsforschung erkannt wurde, dass sich aus einer anfänglich symbiotischen Beziehung das Kind allmählich als eigene, von der Mutter unterscheidbare Entität erlebt und darauf basierend seine Identität entwickelt (siehe hierzu insbesondere Mahler, Pine & Bergmann, 1982). Bindung und Beziehung sind aus entwicklungspsychologischer Sicht offenbar nach wie vor zwingend notwendig. VHN 4 | 2019 261 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Pädagogische Beziehung revisited DAS PROVOK ATIVE ESSAY Der Blick auf die Entwicklung der Bindung eines Kleinkindes zu seinen primären Bezugspersonen ist jedoch noch nicht hinreichend, denn Pädagogik (und Sonderpädagogik) beschäftigen sich ja in der Praxis vor allem mit der Erziehung und Bildung durch Fachpersonen. Diese verfügen über eine professionelle Ausbildung, haben bestimmte Funktionen und Rollen und sind in entsprechenden Institutionen tätig. Ein wichtiger Bereich der Pädagogik ist in der und für die Gesellschaft zum einen die Schule, und zum anderen sind es weitere außerfamiliäre professionell organisierte Settings. Also muss die Frage nach der pädagogischen Beziehung auch hierfür gestellt werden. Pädagogische Beziehung in institutionellen Kontexten Der gesellschaftliche Auftrag, kollektive Erziehungsaufgaben zu übernehmen und Bildung zu vermitteln, wird insbesondere in der Institution Schule realisiert und ist ein permanent zentrales Thema der Pädagogik in Theoriebildung, empirischer Forschung und Praxis. Der Fokus liegt dabei - dies kann wohl als Konsens gesehen werden - in der Verbesserung der Kernaufgaben der Schule. Die Herangehensweisen, wie diese Verbesserung konzeptualisiert werden soll, sind jedoch unterschiedlich, je nachdem, welche Fragestellungen mit welcher Methode untersucht werden und wie allfällige Verbesserungsempfehlungen umgesetzt werden sollen. Mit anderen Worten: die Thematik findet sich in beiden in der Einleitung genannten Diskursen wieder. Welche Rolle spielt dabei die pädagogische Beziehung? Dass Lehrpersonen eine Rolle spielen, zeigt die vielbeachtete Metaanalyse von Hattie von 2009, in welcher der Verfasser Lernen bzw. die Wirksamkeit von Lernprozessen erkennbar und erfassbar machen will („Visible Learning“). In der Anlage der Studie geht Hattie von einer theoretischen Konzeptualisierung aus, die ihm erlaubt, die Ergebnisse von 815 Metaanalysen so zusammenzufassen, dass 138 Einflussfaktoren eruiert werden können (Steffens & Höfer, 2014). Der Lehrperson fällt in den Lernprozessen die entscheidende Rolle zu, wobei ihre Wirksamkeit vor allem dann hoch ist, wenn sie als aktivierende Gestalterin von Lernprozessen fungiert. Im Gegensatz zur klassischen Modellierung des pädagogischen Bezugs (Nohl) ist die Lehrperson zwar (auch) Lehrende, aber zugleich auch selbst Lernende, denn nur so kann sie den Erfolg des Lernprozesses der Schüler adäquat steuern. Die Sichtbarmachung der wirkmächtigen Faktoren vermittelt den Eindruck, dass Lernprozesse planbar sind und so gesteuert werden können, dass der Erfolg gewährleistet ist. Andere Schwerpunkte gesellschaftlicher Aufgaben der Pädagogik liegen außerhalb der Schule. Pestalozzi ist hier nochmals beispielhaft zu erwähnen mit seinen Bemühungen, Kindern, die nicht in ihren Familien aufwachsen konnten, ein Zuhause anzubieten und sie zu erziehen. Insbesondere im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Armut wurden von der sich aus der Pädagogik herausdifferenzierenden Sozialpädagogik Angebote für Kinder und auch Erwachsene, Asyle, Anstalten und später Heime entwickelt (siehe hierzu Jeltsch-Schudel, 2006). In den frühen Konzeptionen der Heilpädagogik sind solche Intentionen ebenfalls zu finden (Georgens & Deinhardt, 1861); auch Heinrich Hanselmann (1941, 1976) setzte die Fürsorge neben Erziehung und Unterricht als expliziten Bereich der Heilpädagogik bzw. Sondererziehung. In diesen Einrichtungen steht die Unterstützung der Lebensgestaltung im Zentrum, welche sehr vielgestaltig ist. Dies erfordert eine sorgfältige Definition der pädagogischen Beziehung. Exemplarisch seien hier die Vertreter/ innen der Kooperativen Pädagogik erwähnt, die insbesondere die pädagogische Beziehung zu VHN 4 | 2019 262 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Pädagogische Beziehung revisited DAS PROVOK ATIVE ESSAY Menschen mit schwerster Behinderung im Sinne einer Kooperation konzeptualisieren (Schönberger, Jetter & Praschak, 1987). Sind für die Entwicklung eines Menschen Pflege und Unterstützung, die zum Aufgabenverständnis der Sonderpädagogik gehören, existenziell, so gilt es in der Praxis, die pädagogische Beziehung sorgsam und verantwortungsvoll zu gestalten. Nähe und Distanz etwa gilt es sorgfältig auszubalancieren. Das Gelingen der pädagogischen Beziehung ist riskant, ist vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Dazu gehören Missbräuche verschiedener Art, wie sich in den letzten Jahren verschiedentlich zeigte, nicht nur im Bereich der Schwerbehinderung (Berner Zeitung, 2014), sondern auch in anderen Settings, in denen das Zusammenleben eng ist (Odenwaldschule, Jürg Jegge). Dies beeinflusst die Diskussion um die pädagogische Beziehung. Diese Überlegungen werfen Fragen auf: Kann oder soll die pädagogische Beziehung nach bestimmten Mechanismen (wie von Hattie vorgeschlagen) gestaltet werden? Wie kann der Gefahr von Missbräuchen vorgebeugt werden, die einer engen und existenziellen Beziehung inhärent zu sein scheinen? Wohnen der pädagogischen Beziehung noch andere Momente inne, über die nicht einfach verfügt werden kann? Pädagogische Beziehung und Unverfügbarkeit Aus sonderpädagogischer Sicht müssen bei der Modellierung der pädagogischen Beziehung weitere Einflussfaktoren mitgedacht werden, die aus meiner Sicht mit der größeren Bandbreite von Individualität zusammenhängen, die unter den Bedingungen einer Behinderung eine Rolle spielt. Die Formulierung „unter den Bedingungen einer Behinderung“ besagt, dass Behinderung ein komplexes Phänomen darstellt, ein kontingentes Zusammenspiel individueller, sozialer, kultureller, rechtlicher und ökonomischer Aspekte (Jeltsch-Schudel & Schindler, in Vorbereitung). Herausforderungen stellen sich daher gleichermaßen in der Beziehungsgestaltung in einer konkreten Situation wie in der theoretischen Reflexion und empirischen Untersuchung, beispielsweise in der Thematik der Verständigung. Diese Herausforderung stellt sich „mir als Person“, indem ich mich einem anderen Menschen annähere und versuche, mit ihm in Kontakt zu treten und zu kommunizieren. Ohne Beziehung zweier Menschen geht dies in der realen Situation nicht. Für empirische Forschung gelten ähnliche Überlegungen, also beispielsweise beim methodischen Design einer Untersuchung. Selbst für wissenschaftlich-theoretische Arbeit ist wohl eine völlige Abstraktion nicht denkbar. In jedem Fall ist ein Moment der Unverfügbarkeit auszumachen. Damit ist gemeint, dass Verfügbarkeit eine Plan- und Machbarkeit suggeriert, die in der pädagogischen Beziehung nicht vorhanden ist. Dahinter steht ein Verständnis von Lernen, das sich nicht mit Ergebnissen messen lässt, sondern zu einer Veränderung der am Lernprozess Beteiligten führt. Einer Veränderung, die sich gewissermaßen ereignet, weil sie durch die Resonanz in der Beziehung erst möglich wird (s. hierzu Rosa, 2019). Denkbar ist daher nicht nur eine Beziehung zwischen verschiedenen Generationen, sondern viel allgemeiner, zwischen Menschen in aller Vielfalt. Zum Schluss Pädagogische Beziehung, der konstitutive Topos der Pädagogik, hat sich gewandelt und wird sich weiter verändern. Gerade aus interdisziplinären Perspektiven scheint es gute Gründe zu geben, sie nicht einfach als obsolet zu erklären. Weitere Ausgestaltungen der pädagogischen Beziehung sind also mit Spannung zu erwarten und zu initiieren. VHN 4 | 2019 263 BARBARA JELTSCH-SCHUDEL Pädagogische Beziehung revisited DAS PROVOK ATIVE ESSAY Literatur Benner, D. (1991). Allgemeine Pädagogik - Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 2. verb. Aufl. München: Juventa Berner Zeitung (2014). Dossier Missbrauchsfall H. S. Abgerufen am 15. 4. 2019 von https: / / www.bernerzeitung.ch/ dossiers/ region/ dossier2.html? dossier_id=2614 Bleidick, U. (1983). Pädagogik der Behinderten. Grundzüge einer Theorie der Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher. 4. Aufl. Berlin: Marhold. Brezinka, W. (1981). Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. 4. Aufl. München: Reinhardt. Charim, I. (2018). Ich und die Anderen - Wie die neue Pluralisierung alle verändert. Wien: Paul Zsolnay. Comenius, J. A. (1992). Große Didaktik [1657]. 7. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Garcia, T. (2018). Wir. Berlin: Suhrkamp. Georgens, J. D. & Deinhardt, M. (1861). Heilpädagogik - mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten. Leipzig: Friedrich Fischer (Neudruck). Hanselmann, H. (1976). Einführung in die Heilpädagogik. 9. Aufl. Zürich: Rotapfel-Verlag. Hanselmann, H. (1941). Grundlinien zu einer Theorie der Sondererziehung. Erlenbach: Rotapfel- Verlag. Hattie, J. A. C. (2009). Visible Learning. A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. Abingdon: Routledge. https: / / doi.org/ 10. 4324/ 9780203887332 Jeltsch-Schudel, B. (2006). Heilpädagogik und Sozialpädagogik: Verständnisse - Wandlungen - Spannungsfelder. In A. Fischer (Hrsg.), Ausbildung und Kunst - Die Bedeutung des Künstlerischen für sozial- und heilpädagogische Berufe, 69 -78. Bern: Haupt. Jeltsch-Schudel, B. & Schindler, A. (In Vorbereitung). Behinderung als Leitbegriff in der Sonderpädagogik - Suche nach stringenter Definition oder Umgang mit Widersprüchen? Kant, I. (1803). Über Pädagogik. Königsberg: Friedrich Nicolovius. Loch, W. (1979). Lebenslauf und Erziehung. Essen: Neue Deutsche Schule. Mahler, M. S., Pine, F. & Bergmann, A. (1982). Die psychische Geburt des Menschen. Frankfurt: Fischer Nohl, H. (1963). Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 6. unveränderte Aufl. Frankfurt a. M.: G. Schulte-Bulmke. Oelkers, J. (1992). Pädagogische Ethik - Eine Einführung in Probleme, Paradoxien und Perspektiven. München: Juventa. Pestalozzi, H. (2012). Lienhard und Gertrud [1787]. Hamburg: Tredition Classics. Reble, A. (1980). Geschichte der Pädagogik. 10. Aufl. Stuttgart: Klett. Rosa, H. (2019). Unverfügbarkeit. 3. Aufl. Wien: Residenz Verlag. Schönberger, F., Jetter, K. & Praschak, W. (1987). Bausteine der Kooperativen Pädagogik. Teil 1: Grundlagen, Ethik, Therapie, Schwerstbehinderte. Stadthagen: Ute Bernhardt-Pätzold. Solarovà, S. (Hrsg.) (1983). Geschichte der Sonderpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. Steffens, U. & Höfer, D. (2014). Die Hattie-Studie. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Frauen. Abgerufen am 15. 4. 2019 von http: / / www.sqa.at/ pluginfile.php/ 813/ course/ section/ 373/ hattie_studie.pdf Tenorth, H.-E. (1992). Geschichte der Erziehung - Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. 2. Aufl. München: Juventa. Anschrift der Autorin Prof. Dr. Barbara Jeltsch-Schudel Universität Freiburg Departement für Sonderpädagogik Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: barbara.jeltsch@unifr.ch
