eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2019
884

Rezension

101
2019
Christian Mürner
Sheffer, Edith (2018): Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“ Aus dem Englischen von Stephan Gebauer Frankfurt a.M.: Campus Verlag. 356 S., € 29,95
5_088_2019_004_0333
VHN 4 | 2019 333 REZE NSION E N Sheffer, Edith (2018): Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“ Aus dem Englischen von Stephan Gebauer Frankfurt a. M.: Campus Verlag. 356 S., € 29,95 Anfang 2018 thematisierten zwei englischsprachige Publikationen die Rolle des bekannten österreichischen Kinderarztes Hans Asperger (1906 -1980) während des NS-Regimes. Der Aufsatz „Hans Asperger, National Socialism, and ,race hygiene‘ in Nazi-era Vienna“ in der Zeitschrift Molecular Autism, 9 (29) (https: / / doi.org/ 10.1186/ s13229-018-0208-6) des Wiener Medizinhistorikers Herwig Czech erhielt über die Fachmedien hinaus öffentliche Resonanz. Das fast gleichzeitig erschienene Buch „Asperger’s Children, The Origins of Autism in Nazi Vienna“ von Edith Sheffer, Historikerin an der Stanford Universität in Kalifornien, lag Ende 2018 auf Deutsch vor. Es ist eine engagierte, differenzierte, den Kontext detailliert verdeutlichende Darstellung zum nationalsozialistischen Wien, zum „Diagnoseregime“ der NS-Psychiatrie und der Verstrickung Aspergers als Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Universitäts-Kinderklinik. 1938 beschrieb Asperger erstmals die „autistische Psychopathie“, die in wesentlichen Teilen dann seit 1981 auf Anregung der britischen Psychiaterin Lorna Wing nach ihm als „Asperger- Syndrom“ benannt wurde. Asperger definierte die „autistische Psychopathie“ als „Einengung der Beziehungen zur Umwelt“, als „Beschränkung auf das eigene Selbst (autos)“ (zit. nach Sheffer, S. 92). Sheffer belegt, dass Asperger vor der Annexion Österreichs durch das NS-Regime eine ergebnisoffenere Diagnose vertrat als danach (S. 91f.). Da Asperger auch die ganzheitliche, individuelle Beurteilung und Verschiedenheit der betroffenen Kinder propagierte, hat er nach Kriegsende vor allem bei vielen Leuten im englischen Sprachraum Ansehen erworben. Er äußerte sich einerseits lobend über die „autistische Originalität“, während er andererseits die „Unfähigkeit zu lernen“ in den Vordergrund rückte. Sheffer notiert: „Es ist nicht klar, ob Aspergers Nachsicht allen Kindern galt“ (S. 94) und fügt hinzu, dass es „schwierig“ sei, Aspergers Ruf in Bezug auf seine Bemühungen um behinderte Kinder, mit seiner Rolle im Eugenik- und Kindereuthanasieprogramm des NS-Regimes in Einklang zu bringen (S. 16/ S. 263). Medizinische Kollegen, mit denen Asperger zusammenarbeitete, führten Menschenversuche durch und waren direkt am Euthanasieprogramm beteiligt. Nach 1945 behielt Asperger als Einziger seine Lehrberechtigung, weil er nicht Mitglied der NSDAP war, er gehörte aber u. a. der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ an. Als Katholik war er nicht mit allem des NS-Regimes einverstanden. Asperger galt privat als kühl und distanziert, in jungen Jahren zählte er sich zu den „Wandervögeln“, bestieg das Matterhorn und war literarisch interessiert. Die von Asperger geleitete heilpädagogische Abteilung verstand es, sich an die Vorgaben der NS- Kinderpsychiatrie anzupassen. Andere Zweige der österreichischen Heilpädagogik wurden aufgelöst. Der Leiter der traditionell pädagogisch ausgerichteten Disziplin, Theodor Heller, beging Suizid. Karl König emigrierte nach Schottland und gründete die anthroposophische Camphill-Bewegung. Aspergers heilpädagogische Abteilung war verwickelt in die Überstellung von behinderten Kindern in die Tötungsanstalt „Am Spiegelgrund“. In Kap. 7 „Mädchen und Jungen“ (S. 167ff.) und in Kap. 8 „Das tägliche Leben mit dem Tod“ (S. 205ff.) schildert Sheffer die Qualen der Kinder anhand von Interviews, die mit Überlebenden geführt wurden. Das letzte Kapitel beginnt Sheffer mit dem Satz: „Trotz des Zusammenbruchs des NS-Regimes nahm die Geschichte für die Kinder, die unter der NS-Psychiatrie gelitten hatten, kein glückliches Ende.“ (S. 254). 1975 begegnete der Überlebende Friedrich Zawrel nach einer Verhaftung wegen Diebstahls dem Gerichtspsychiater Heinrich Gross, den er vom „Spiegelgrund“ kannte (S. 257). Dafür, was Zawrel mit eigenen Augen gesehen und berichtet hatte, tauchten erst im Jahr 2000 Beweise auf: Gross war für die Tötung Hunderter Kinder verantwortlich gewesen. Er wurde wegen Demenz als prozessunfähig eingestuft (S. 259). Asperger verfasste 1952 ein Lehrbuch zur „Heilpädagogik“, das in der Folge in mehreren Auflagen erschien, und übernahm 1962 die Leitung der Wiener Universitäts-Kinderklinik. VHN 4 | 2019 334 REZE NSION E N In einer sensiblen Danksagung lässt Sheffer ihren Sohn Eric, bei dem als Kleinkind „Autismus“ diagnostiziert wurde, selbst zu Wort kommen. Er fordert, „das Etikett des Autismus“ (S. 289) abzuschaffen. Die überzeugend dokumentierte Darstellung Edith Sheffers zu „Aspergers Kinder“ lässt die historischen Gründe dieses Appells nachvollziehen. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2019.art46d