Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art01d
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2019
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Das provokative Essay: Irrtümer in der Inklusionsdebatte
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Urs Haeberlin
Im Zentrum des Beitrags steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem politischen Chancengleichheitspostulat und damit oft verknüpften Hoffnungen auf schulische Inklusion. Der Autor vertritt die These, dass das Chancengleichheitsziel der Tradition eines Bildungswesens entspricht, in welchem mit fortschreitenden Schuljahren die Leistungsstarken von den Leistungsschwachen getrennt werden. Ein positiver Zusammenhang wird folglich verneint. Zudem wird die These vertreten, dass sich eine auf Sonderschüler und -schülerinnen reduzierte Inklusionsdebatte nur auf ein Detail des generell separierenden Bildungswesens richtet. Eine sinnvolle Inklusionsdebatte muss sich von einer eingeengten sonderpädagogischen Perspektive lösen. Es werden verschiedene neuere Entwicklungen im gesamten Bildungsbereich dargestellt, welche dazu beitragen, dass statt Inklusion eher eine zunehmende Entwertung von Schulversagern und damit deren Separation festzustellen ist.
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1 VHN, 88. Jg., S. 1 -7 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art01d © Ernst Reinhardt Verlag Irrtümer in der Inklusionsdebatte Urs Haeberlin Zürich Zusammenfassung: Im Zentrum des Beitrags steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem politischen Chancengleichheitspostulat und damit oft verknüpften Hoffnungen auf schulische Inklusion. Der Autor vertritt die These, dass das Chancengleichheitsziel der Tradition eines Bildungswesens entspricht, in welchem mit fortschreitenden Schuljahren die Leistungsstarken von den Leistungsschwachen getrennt werden. Ein positiver Zusammenhang wird folglich verneint. Zudem wird die These vertreten, dass sich eine auf Sonderschüler und -schülerinnen reduzierte Inklusionsdebatte nur auf ein Detail des generell separierenden Bildungswesens richtet. Eine sinnvolle Inklusionsdebatte muss sich von einer eingeengten sonderpädagogischen Perspektive lösen. Es werden verschiedene neuere Entwicklungen im gesamten Bildungsbereich dargestellt, welche dazu beitragen, dass statt Inklusion eher eine zunehmende Entwertung von Schulversagern und damit deren Separation festzustellen ist. Schlüsselbegriffe: Chancengleichheit, Inklusion, Selektion, Schulversagen, Lehrerbildung Errors in the Debate on Inclusion Summary: The present article focuses on the relation between the political postulate of equal opportunity and the allied hope for school inclusion. The author argues that the aim of equal opportunity complies with the tradition of an education system that separates high-performing from low-performing pupils during their school career. Moreover, the author supports the thesis that the debate on inclusion that focuses on pupils with learning disabilities addresses just one detail of the generally separating education system. A useful debate on inclusion should be detached from the narrowed perspective of special education. Several new developments in the educational field are presented that contribute to an increasing devaluation of school failures and thus to their separation instead of their inclusion. Keywords: Equal opportunity, inclusion, selection, school failure, teacher training DAS PROVOK ATIVE ESSAY Schulversagen - eine Behinderung? Integrationsbzw. Inklusionsklassen gelten oft als Mittel zur Verbesserung der Chancengleichheit. In vielen Regionen der deutschsprachigen Länder hat man mit diesem Argument insbesondere die Sonderbzw. Förderschulen für Lernbehinderte aufgehoben und durch inklusive Klassen in der Allgemeinen Schule ersetzt oder in Förderzentren mit Inklusionsanspruch umgewandelt. Ethisch fundierte Inklusionspädagogik engagiert sich „für den bejahten und gewollten Einbezug aller Menschen in Bildungs- und Lebensgemeinschaften, in welchen alle bei aller Verschiedenheit als Partner geachtet sind“ (Haeberlin, 2017 b, S. 204). Mit der Frage, wie sich dieses Inklusionsverständnis mit dem bildungspolitischen Postulat der Chancengleichheit verträgt, befasst sich der vorliegende Beitrag 1 . In Deutschland waren und sind Sonderschulen für Lernbehinderte bzw. heute oft als Förderzentren in einem eigenen Gebäude untergebracht und einer speziellen Schulbehörde unterstellt. Im Unterschied dazu befanden sich in VHN 1 | 2019 2 URS HAEBERLIN Irrtümer in der Inklusionsdebatte DAS PROVOK ATIVE ESSAY der deutschsprachigen Schweiz die Sonderklassen für Lernbehinderte meistens in den Gebäuden der Allgemeinen Schule und waren in der Regel den gleichen Schulbehörden unterstellt. Diese Sonderklassen hatten in vielen Regionen der Deutschschweiz die deskriptive Bezeichnung „Kleinklassen“, weil sie Anspruch auf eine bedeutend geringere Höchstzahl an Schülern und Schülerinnen hatten. In allen deutschsprachigen Ländern gehörte der größte Teil der schulisch separierten Kinder und Jugendlichen zur Gruppe der sog. „Lernbehinderten“. Ob es sich hierbei um eine Behinderung im traditionell medizinischen Verständnis oder um einen gesellschaftlich-sozial erklärbaren Sachverhalt handelt, stand seit Langem immer wieder zur Debatte. Dies wird beim Blick auf die schweizerischen Schulverhältnisse besonders deutlich. In diesem Land waren nämlich „Lernbehinderte“ während vieler Jahrzehnte jene Kinder und Jugendlichen, an deren Sonderschulung von der Eidgenössischen Invalidenversicherung im Unterschied zu solchen mit medizinisch definierbaren Behinderungen keine Beiträge bezahlt wurden und die somit versicherungsrechtlich nicht als „Behinderte“ galten. Vor etwa zehn Jahren ist im Rahmen einer gesamtschweizerischen Volksabstimmung entschieden worden, dass die Finanzierung des Unterrichts an sämtlichen Sonderschultypen nur noch aus dem Haushalt für das allgemeine öffentliche Bildungswesen erfolgen darf und dass die Invalidenversicherung nun auch bei medizinisch definierten Behinderungen keine Beiträge mehr an den Sonderschulunterricht entrichten darf. Im Vorfeld dieser Volksabstimmung wurde intensiv damit geworben, dass durch die finanzielle Vereinheitlichung die schulische Integration gefördert werde. Es ist bis heute umstritten, ob der Volksentscheid eher Spareffekte oder eher Integrationseffekte bewirkt hat. Die Bezeichnung „Lernbehinderte“ war und bleibt auch im Rahmen der Umwandlung der Sonderschulung zu integrativen Settings eher irreführend. Mehr Klarheit käme in die Integrationsdebatte, wenn man für diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen Wörter wie „Schulleistungsschwache“ oder „Schulversager“ verwenden würde. Das Wort „behindert“ würde sich dann auf jene weit geringere Anzahl Kinder und Jugendliche (z. B. mit schwerer geistiger Behinderung) beschränken, die im traditionell medizinischen Sinne als „Behinderte“ gegolten haben. Bezüglich der Integration von Kindern und Jugendlichen insbesondere mit schwerer geistiger Behinderung und mit Mehrfachbehinderung liegen bisher wenig überzeugend praktikable Konzepte vor. Die Integrationsdebatten beziehen sich nach wie vor vorwiegend auf die Schüler und Schülerinnen der ehemaligen Sonderschulen bzw. Kleinklassen für Lernbehinderte. Mythos der gerechten Separation durch Selektion In vielen bildungspolitischen Programmen wird Chancengleichheit mit schulischer Integration bzw. immer häufiger mit Inklusion verknüpft. Ein eigentlicher „Inklusionsboom“ wurde in Deutschland durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 ausgelöst. Benkmann (2013, S. 2) verweist auf den Aktionsplan der Bundesregierung, „der aufzeigt, dass alle gesellschaftlichen Handlungsfelder inklusiver gestaltet werden sollen“. Allerdings würden auch immer wieder Zweifel daran geäußert, dass sich die politischen Instanzen in voller Ernsthaftigkeit auf den Umbruch einlassen, welcher eigentlich mit dem Begriff der Inklusion für das gesamte Bildungswesen vorangetrieben werden müsste. Solche Zweifel sind berechtigt, solange Inklusion mit dem Postulat der Chancengleichheit verbunden wird. In der Regel ist mit Chancengleichheit die Vorgabe von Quoten in Sekundarschulen, Gymnasien und Universitäten gemeint, die sich nach Geschlecht sowie VHN 1 | 2019 3 URS HAEBERLIN Irrtümer in der Inklusionsdebatte DAS PROVOK ATIVE ESSAY sozialer und ethnischer Herkunft an die prozentualen Anteile in der Bevölkerung anzupassen haben. Bisher wurde jedoch weder von der Bildungspolitik noch von der Bildungswissenschaft ernsthaft problematisiert, ob sich „Integration“ mit „Chancengleichheit“ überhaupt verträgt? Das Chancengleichheitsziel entspricht einem Bildungswesen, in welchem mit fortschreitenden Schuljahren die Begabten von den weniger Begabten bzw. die Leistungsstarken von den Leistungsschwachen getrennt werden. Dies bedeutet fortschreitende Separation der Erfolgreichen von Erfolglosen. Separation durch Selektion spielt in unserem Bildungswesen seit jeher eine zentrale Rolle. Bildungssoziologische Forschungen konnten jedoch immer deutlicher aufzeigen, dass Selektion bisher nie ausschließlich nach Begabungs- und Leistungskriterien funktioniert hat. Sie war und ist stets von Merkmalen wie sozialer und ethnischer Herkunft sowie Geschlecht verzerrt. Nur schon der Umzug von einer Region in eine andere kann die Chancen eines Kindes beispielsweise auf den Übertritt ins Gymnasium wesentlich vergrößern oder verkleinern. Gleichwohl gefallen sich die Bildungspolitik und die ihr viel zu oft zudienende Bildungsforschung unermüdlich im Glauben an die „wissenschaftlich objektive“ und „chancengerechte“ Selektion ausschließlich aufgrund von Begabung und Leistung. Durch Missachtung der genannten „störenden“ Merkmale pervertiert dieser Glaube zum Aberglauben. Es ist zwar unbestritten, dass die Separation von Kindern mit benachteiligendem Familienhintergrund die Chancenungerechtigkeiten für einige Betroffene zementiert. Aber das generell durch Selektion separierende Schulsystem hat sich durch die Aufdeckung von Chancenungerechtigkeiten nicht in Richtung ethisch verstandener Inklusion verändert. So gesehen bezieht sich eine auf die Integration von bisherigen Sonderbzw. Förderschülern und -schülerinnen reduzierte Debatte auf ein Detail im ganzen Bildungssystem. Seit jeher befanden und befinden sich in den Sonderschulen bzw. in den Kleinklassen für Lernbehinderte fast ausschließlich Kinder und Jugendliche aus sog. „bildungsfernen“ Familien. Früher stammten sie aus einheimischen Arbeiter- und Hilfsarbeiterfamilien; im Verlaufe der letzten Jahrzehnte ist die Zahl der einheimischen Kinder und Jugendlichen immer kleiner geworden und vielerorts fast auf null gesunken. Der Grund liegt kaum darin, dass die Intelligenz der einheimischen Arbeiterkinder früher schlechter war als heute. Sondern Sonderschulen bzw. Kleinklassen für Lernbehinderte mussten nun der Aufnahme von Ausländerkindern mit Sprachschwierigkeiten und mit geringem Bezug zu unserer Bildungsmentalität dienen. Der Schluss liegt nahe, dass Sonderschulen bzw. Kleinklassen für Lernbehinderte als variable Auffangstationen für Kinder und Jugendliche mit bildungsfernem und den Schulerfolg benachteiligendem Familienhintergrund genutzt werden. Mit sich wandelndem Zeitgeist ist nun Chancengleichheit bei den Bildungs- und Berufszugängen zum zentralen bildungs- und sozialpolitischen Postulat geworden. Die zunehmend soziologisch geprägte Bildungsforschung hat der Bildungs- und Sozialpolitik immer deutlichere Antworten auf die Frage geliefert, welche Folgen die Separation in Sonderschulen bzw. Kleinklassen für Lernbehinderte für die Berufszugänge der Abgänger aus diesem Schultyp haben kann. Beispielsweise geben Forschungsergebnisse aus Schweizer Schulen eindeutige Hinweise (vgl. z. B. Haeberlin, 2017 a, S. 236ff.; ausführlicher in: Eckhart, Haeberlin, Sahli Lozano & Blanc, 2011): Viele schwache Schulabgänger absolvieren vor dem Berufszugang irgendein Zwischenjahr. Aber Schulabgänger, welche in Kleinklassen unterrichtet worden sind, erreichen im zweiten und im dritten Jahr nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit deutlich niedrigere Ausbildungs- und Berufszugänge als vergleichbar schulleistungsschwache Jugendliche, welche in Regelklassen unterrichtet worden sind. Zudem brechen Abgänger aus Kleinklassen VHN 1 | 2019 4 URS HAEBERLIN Irrtümer in der Inklusionsdebatte DAS PROVOK ATIVE ESSAY begonnene Ausbildungswege wesentlich häufiger ab als vergleichbar schulschwache Abgänger aus Regelklassen. Jugendliche, welche in Regelklassen verblieben, aber ähnlich schulleistungsschwach wie ehemalige Kleinklassenschüler waren, erwartet ein erfolgreicherer Zugang in berufliche Ausbildungen. Die Vergleichbarkeit der untersuchten Kinder und Jugendlichen bezieht sich auf die Intelligenz, die Schulleistungen und den sozialen und ethnischen Familienhintergrund. Das Etikett „ehemaliger Kleinklassenschüler“ bzw. „ehemaliger lernbehinderter Sonderschüler“ scheint die Chancen von Kindern aus Immigrantenfamilien auf angestrebte Bildungs- und Berufszugänge zu reduzieren. Wohlverstanden - dies im Vergleich zu Regelschulabgängern aus ähnlich benachteiligenden Familienverhältnissen und bei vergleichbarer Intelligenz und Schulleistung. Allein schon die Tatsache, aus einer Immigrantenfamilie mit tiefem sozioökonomischem Status zu stammen, verkleinert die Chancen beim Berufszugang; aber die zusätzliche Koppelung mit einer Kleinklassenbzw. Sonderschulvergangenheit lässt sie noch kleiner werden. Die so mehrfach Benachteiligten landen oft im untersten beruflichen Ausbildungssegment oder in Arbeitslosigkeit. Die Abschaffung der Kleinklassen bzw. Sonderschulen für Lernbehinderte und die Unterrichtung der von sozialer Benachteiligung betroffenen Kinder und Jugendlichen in Klassen der Allgemeinen Schule erscheinen somit hinsichtlich der Überwindung von Chancenungerechtigkeiten für einige Immigrantenkinder als zwingend. Immerhin können damit einige Kinder mit benachteiligendem Familienhintergrund davon profitieren. Aber dadurch wird das durchgehend mittels Selektion separierende Schulsystem keineswegs inklusiv. Es ist nicht sinnvoll, die Inklusionsdebatte aus einer auf den sonderpädagogischen Blick eingeengten Perspektive zu führen. Das eskalierende Wettkampfklima Die mit Chancengleichheit begründete Integration hat wenig mit der in Mode kommenden „Inklusionsromantik“ zu tun. Denn das separierende Selektionsprinzip der Schul- und Bildungstypen sowie der Berufe bleibt bestehen oder verstärkt sich sogar. Durch die intensive Chancengleichheitsdebatte geweckte Hoffnungen auf eine fortschreitende Verbesserung der Bildungs- und Berufschancen für immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Illusion erweisen. Denn der Anteil an Arbeitsplätzen in der oberen Hälfte der Berufshierarchie, auf die in viel breiteren Kreisen Hoffnungen geweckt werden als früher, wird sich kaum beliebig ausweiten. Es ist wenig wahrscheinlich, dass es in Zukunft immer mehr soziale Aufsteiger geben wird, ohne dass von anderen privilegierte Arbeitsplätze freigegeben werden müssen. Aufsteiger aus den bisher benachteiligten Bevölkerungssegmenten werden zwangsläufig Absteiger aus privilegierten Bevölkerungssegmenten produzieren. So verschärft das Chancengerechtigkeitspostulat den egoistischen Run auf schulische und berufliche Chancen und damit die für Verlierer fatale Wettkampfrealität. Es ist kaum damit zu rechnen, dass in den bisher beim Ausbildungs- und Berufszugang privilegierten Familien der Wunsch aufkommt, ihre Nachkommen dem sozialen Abstieg entgegenzuführen. Bekanntlich wirken sie dieser Gefahr in immer größerem Ausmaß mit Nachhilfeunterricht und Privatschulbesuch entgegen. Eine mit Chancengerechtigkeit begründete schulische Integration kann sich zwar eine Umverteilung bezüglich sozialer und ethnischer Herkunft zum Ziel setzen, aber sie wird damit natürlich keine Mäßigung des eskalierenden Wettkampfs um Bildungs- und Berufschancen bringen. Wer in „Integrationsklassen“ zum Schulversager wird, kann auch in Zukunft wenig von inklusiver Bereitschaft der schulisch und später beruflich Erfolgreichen spüren. So stellt sich die Frage: VHN 1 | 2019 5 URS HAEBERLIN Irrtümer in der Inklusionsdebatte DAS PROVOK ATIVE ESSAY Wie wird die sich durch das Chancengleichheitspostulat zuspitzende Wettkampfrealität im Bildungs- und im Berufswesen in Zukunft den Umgang mit schulschwachen Kindern und Jugendlichen und mit beruflich erfolglosen Erwachsenen prägen? Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass viele Eltern aus der Mittel- und Oberschicht schon ab Primarbzw. Grundschule, ja inzwischen vielfach schon ab Kindergarten auf den zukünftigen Wettkampf fixiert sind. Sie fördern die Vergötterung der benoteten und damit Schulerfolg versprechenden Schulleistung und die damit einhergehende Entwertung von angeblich integrierten Schulschwachen. So ist zu befürchten, dass wir infolge der bildungspolitischen Vermischung von Integration mit Chancengerechtigkeit unmerklich weiter in die Separation der Erfolgreichen von den Erfolglosen abdriften. Wer den romantisierenden Inklusionsschleier hebt und ablegt, erkennt die lauernde Gefahr, dass möglicherweise Versagende gerade als Folge der Verknüpfung von Inklusionsträumen mit dem Chancengleichheitspostulat noch mehr als bisher ihre Entwertung zu spüren haben werden. Übersehene oder verschwiegene Entwicklungen Natürlich ist die Meinung falsch, früher sei die Selektion im Bildungswesen gerechter und milder gewesen als heute und Schule sei nicht auch früher für Kinder mit Schulschwächen und bildungsfernem Familienhintergrund immer wieder einmal zur Hölle geworden. Aber gleichwohl ist die Frage angebracht, welche Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen haben könnten, dass sich im Bildungswesen trotz Inklusionseuphorie die Entwertung von Versagenden keineswegs gemildert zu haben scheint. Zwar werden zurzeit das insbesondere in der Schweiz noch recht verbreitete duale Bildungssystem und damit die Bedeutung der Berufslehre in Abhebung von der gymnasialen Laufbahn oft gelobt und von etlichen Schweizer Politikern in anderen Ländern, in welchen die Abiturientenquoten vergleichsweise bedeutend höher sind, zur Nachahmung empfohlen. Zumindest in seinem ursprünglichen Ansehen in breiten Bevölkerungskreisen hatte das duale Bildungssystem nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen deutschsprachigen Ländern vermutlich eine stärker integrative Komponente als heute. Wer wie der Schreibende in der schweizerischen Bildungstradition seit fünfzig und mehr Jahren ideell verwurzelt geblieben ist, stellt sich die Frage, ob die ursprüngliche Besonderheit des dualen Bildungsverständnisses der Anpassung an den importierten Akademisierungsglauben geopfert worden ist und heute von einem großen Teil der Bevölkerung nicht mehr als etwas Positives gesehen wird. Die Zahl der Eltern, welche ihre Kinder möglichst bereits nach der Primarbzw. Grundschule in einem zur Hochschule führenden Gymnasium sehen wollen, scheint inzwischen allgemein zugenommen zu haben. Dies, obschon es in den 70er-Jahren in vielen Ländern den Trend zu einer Sekundarschulreform gegeben hatte, welche die Abschaffung des an die Grundschule anschließenden Gymnasiums vorsah und die Sekundarstufe I zur Gesamtschule bzw. zur Orientierungsstufe für alle umwandeln wollte. Heute wird beispielsweise in der Region Zürich der damaligen Tendenz zu einer Sekundarstufe I als Gesamtschule für alle nicht einmal mehr dadurch Rechnung getragen, dass wenigstens in den ersten Jahren des Langzeitgymnasiums die gleichen Lehrmittel benützt werden wie in den anderen Schulen der Sekundarstufe I. Wer erst aus der zweiten oder dritten Sekundarschule ins sog. Kurzzeitgymnasium übertritt, kommt in eine Gymnasialklasse zusammen mit Schülern des Langzeitgymnasiums und ist stärker vom Scheitern bedroht, weil die Anforderungen auf den Lehrbüchern der ersten Klassen des Langzeitgymnasiums aufbauen, die in den Sekundarschulen oft nicht verwendet werden. Viele vermögende Eltern schicken ihre Kinder nach VHN 1 | 2019 6 URS HAEBERLIN Irrtümer in der Inklusionsdebatte DAS PROVOK ATIVE ESSAY bestandener Aufnahmeprüfung während der Probezeit in Samstags-, ja sogar Sonntagskurse, in welchen verpasste Inhalte aus den vorausgegangenen Jahren des Langzeitgymnasiums nachgeholt werden. Der sich seit den Reformtendenzen der 70er- Jahre zunehmend wieder verstärkende Drang von vielen Eltern zur frühen Selektion ihrer Kinder in ein Langzeitgymnasium ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte dadurch intensiviert worden, dass für immer mehr Berufsausbildungen eine Maturität bzw. ein Abitur verlangt wird. Außerdem hat die verstärkte Migration zur Folge, dass der in einigen Ländern längst verbreitete Drang zur möglichst frühen Selektion ins Gymnasium auf die Bildungsmentalität in anderen Ländern Auswirkungen zeitigt. Auf die zunehmende Ausrichtung auf Abitur bzw. Maturität anstelle auf eine Berufslehre reagierte die Bildungspolitik in den meisten Ländern mit der Schaffung von Fachmaturitäten und Berufsmaturitäten. Dies führte dazu, dass sich inzwischen auch in den Berufslehren die Gruppe der schulisch „Weiterkommenden“ von jener der schulisch „Stehenbleibenden“ abgrenzt. Die Schaffung einer Vielzahl von Maturitätsbzw. Abiturtypen kann einerseits als positives Angebot von Chancen für vorerst Gescheiterte bewertet werden. Andererseits aber werden Mutlose und immer wieder Scheiternde in ihrem Selbstbild als die Erfolglosen und Unintelligenten verstärkt und entwertet. Die auf Bildungserfolg fixierte Gesellschaft pervertiert die Wertschätzung dieser Menschen zunehmend zur Geringschätzung. Ebenfalls Beunruhigendes hat sich in den Institutionen der bisherigen berufsorientierten Ausbildung angebahnt. Ein Teil der früheren praxisqualifizierenden Berufs- und Fachschulen hat das veränderte bildungspolitische Denken dafür genutzt, den als höherwertig betrachteten Status einer Hochschule zu erhalten. Damit verbunden war zunächst einmal, dass die Aufnahme nur für Inhaber eines Maturitätsbzw. Abiturzeugnisses (oft auch Fach- oder Berufsmaturität) möglich wurde. Ein Beispiel aus dem pädagogischen Bereich ist der Wandel des früher in der Schweiz üblichen „Kindergärtnerinnenseminars“ zu einem Teil der Pädagogischen Hochschule. Die Bildungspolitiker unterstützten den Wandel der Berufsfachschulen zu Hochschulen in der Meinung, dass dadurch die Berufsausbildung besser als bisher werde, dass sie sich aber von einer akademischen Universitätsausbildung unterscheiden müsse. Inzwischen zeichnet sich jedoch ab, dass sich viele Fachhochschulen, Pädagogische Hochschulen, berufsqualifizierende Universitätsabteilungen bzw. in Deutschland schon ganze universitäre Fakultäten immer mehr den wissenschaftlichen Ansprüchen der traditionell wissenschaftsorientierten Universität anzunähern versuchen und sich von einer berufspraktischen Ausbildung mit praxisnahen Lehr- und Forschungsinhalten entfernen. Dies zeigt sich zunehmend an Forschungen, die eher an traditionell universitärer Grundlagenforschung orientiert sind, als dass sie für die Praxis nützliche Handreichungen entwickeln. Zudem scheint bei der Auswahl von Ausbildungs- und Forschungspersonal oft die akademisch-wissenschaftliche Qualifikation (häufig einfach gemessen an der Länge der Liste von Publikationen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften) weit höher gewertet zu werden als praktische Kompetenzen im Berufsfeld, für welches die Fachhochschule auszubilden hat. Mir ist vor allem an Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz aufgefallen, dass insbesondere für deren Forschungsabteilungen Personen angestellt werden, die wenig oder überhaupt keine Erfahrungen als praktizierende Lehrpersonen haben, oft nicht einmal eine Ausbildung zur Lehrperson absolviert haben. Von einer praxisorientierten Pädagogischen Hochschule würde ich aber erwarten, dass ihre „Forschungsabteilung“ nicht einfach Forschungsabteilungen von Universitäten nachahmt, sondern dass sie Personal hat, welches aus eigener Praxiserfahrung heraus didaktisch VHN 1 | 2019 7 URS HAEBERLIN Irrtümer in der Inklusionsdebatte DAS PROVOK ATIVE ESSAY orientierte Entwicklungsprojekte durchzuführen imstande ist, welche zu handfesten Unterrichtsleitfäden für Lehrpersonen führen. Dafür braucht man doch wohl eher den Nachweis einer erfolgreichen und gründlich reflektierten Unterrichtspraxis als eine möglichst lange Liste von theorielastigen und oft mit sich wiederholendem Bluff und unnötig kompliziertem Vokabular aufgeblasenen Sprachhülsen ohne die Praxis verbessernden Inhalt! Es ist kaum glaubhaft, dass der Akademisierungsschub beim Personal in der Lehrerbildung dem ausufernden Maturitätsglauben von Eltern und der Entwertung von Bildungsversagern entgegenwirkt. Schließlich wird kaum je öffentlich ausgesprochen, dass der Wandel der früheren Berufsdiplome zu akademischen Diplomen wie Bachelor und Master nicht zuletzt von pekuniären Interessen von Berufsverbänden vorangetrieben worden ist. Davon kann man sich im aktuellen Wertesystem eben höhere Löhne versprechen. Hinter dem Trend zu akademischen Diplomen versteckt sich oft berufspolitisches Kalkül. Der Kampf um Privilegien durch das Erreichen des Akademikerstatus’ hatte zum Ergebnis, dass sich als Gewinner sehen kann, wer einen möglichst „hohen“ akademischen Berufsabschluss erreicht, und als Verlierer sehen muss, wem dieser Aufstieg nicht vergönnt ist. All dies - und vielleicht Weiteres - hat vermutlich zur anfänglich skizzierten Pervertierung der Integrationsbzw. Inklusionsidee beigetragen. Es ist umso erfreulicher, dass es immer auch wieder Lehrerinnen und Lehrer gibt, die sich trotz der schwierigen Umstände und dem Akademisierungsboom für eine pädagogische Gestaltung des Unterrichts engagieren, die auf die pestalozzianische Tradition verweist! Das ergibt durchaus eine Basis für die Hoffnung, dass auch künftige Generationen von Lehrerinnen und Lehrern eine heilsame Immunität gegenüber Versuchungen durch fehlgeleitete Akademisierung ihrer Aus- und Weiterbildung bewahren werden. Anmerkung 1 Zur Problematik hatte ich mich in angemessener Kürze und mit politisch wirksamer Prägnanz auch in Tageszeitungen geäußert: „Integration ist kein Allheilmittel“ in Tages-Anzeiger (Zürich) vom 23. 12. 2017; „Der Mythos der gerechten schulischen Selektion“ in Neue Zürcher Zeitung vom 9. 3. 2018. Literatur Benkmann, R. (2013). Pädagogik kann gesellschaftliche Widersprüche nicht heilen. Interview mit Prof. Dr. Rainer Benkmann. thüringer zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW, 01/ 2013, 2 -4. Eckhart, M., Haeberlin, U., Sahli Lozano, C. & Blanc, P. (2011). Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Bern: Haupt. Haeberlin, U. (2017 a). Wertgeleitete Forschung - illustriert an einem Forschungsprogramm zur schulischen Inklusion und deren Wirkungen auf den Übertritt in berufliche Ausbildungen. In H. Fasching, C. Geppert & E. Makarova (Hrsg.), Inklusive Übergänge. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 229 -245. Haeberlin, U. (2017 b). Inklusive Bildung. Sozialromantische Träumerei? In M. Gercke, S. Opalinski & T. Thonagel (Hrsg.), Inklusive Bildung und gesellschaftliche Exklusion. Wiesbaden: Springer, 203 -216. Anschrift des Autors Prof. Dr. Urs Haeberlin Emeritus Universität Freiburg (Schweiz) Regensbergstrasse 162 CH-8050 Zürich E-Mail: urs.haeberlin@unifr.ch
