eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art08d
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2019
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Trend: Behinderungen auf Briefmarken

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2019
Christian Mürner
Bildmotive zu Behinderungen auf Briefmarken setzen Trends. Doch die Bedeutungen dieser hauptsächlich visuellen Ausdrucksformen im kleinen Format von etwa 25x40 mm finden kaum die ihnen gebührende fachliche Resonanz. Organisationen und stellvertretende Vereinigungen nutzen sie zur Darstellung ihrer Fördertätigkeiten und Jubiläen. Politische Institutionen verbinden mit ihnen amtliche Bekanntmachungen und Absichtserklärungen wie „Behinderte eingliedern“ (1974) oder „Gutes tun/Mit Briefmarken helfen (Behindertensport. Für den Sport, 2015)“. Wie werden auf Briefmarken Behinderungen und behinderte Menschen gezeigt? Repräsentieren die Darstellungen, Abbildungen und Symbolisierungen den offiziellen Umgang mit Behinderung und behinderten Menschen oder propagieren sie eher eine Idee für Lebensformen und Einrichtungen? Lassen sich Absichten unmittelbar erkennen?
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73 VHN, 88. Jg., S. 73 -78 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art08d © Ernst Reinhardt Verlag TRE ND Behinderungen auf Briefmarken 1 Christian Mürner Hamburg Bildmotive zu Behinderungen auf Briefmarken setzen Trends. Doch die Bedeutungen dieser hauptsächlich visuellen Ausdrucksformen im kleinen Format von etwa 25 x 40 mm finden kaum die ihnen gebührende fachliche Resonanz. Organisationen und stellvertretende Vereinigungen nutzen sie zur Darstellung ihrer Fördertätigkeiten und Jubiläen. Politische Institutionen verbinden mit ihnen amtliche Bekanntmachungen und Absichtserklärungen wie „Behinderte eingliedern“ (1974) oder „Gutes tun/ Mit Briefmarken helfen (Behindertensport. Für den Sport, 2015)“. Wie werden auf Briefmarken Behinderungen und behinderte Menschen gezeigt? Repräsentieren die Darstellungen, Abbildungen und Symbolisierungen den offiziellen Umgang mit Behinderung und behinderten Menschen oder propagieren sie eher eine Idee für Lebensformen und Einrichtungen? Lassen sich Absichten unmittelbar erkennen? Für diese größtenteils stilisierten Grafiken und Bilder zu Behinderungen und behinderten Menschen auf Briefmarken gilt die Annahme einer unterschätzten Öffentlichkeitswirksamkeit. Sie werden in einer Millionenauflage gedruckt, sind also weitverbreitet, und sie überqueren per Definition „mit ihrer Botschaft geschlossene Grenzen“, wie Ernst Kantorowicz in einem Vortrag zum Thema „Briefmarken und der Historiker“ 1951 gesagt haben soll. Viele Briefmarkenfreunde - sie gelten als „recht eigensinnige Individualisten 2 “ - haben thematische Sammlungen zu Blumen, Bäumen, Vögeln, Schmetterlingen oder Fischen. Andere stellen Marken mit dem Motiv „Oldtimer“, „Flugzeug“ oder „Weltraumfahrt“ zusammen. Kaum jemand hat das Thema Behinderung. Obwohl dieses Motiv in den letzten Jahren aufgrund der allmählichen Veränderung von der voreingenommenen Fürsorge zur Einbeziehung und der selbstbestimmten Artikulation von Menschen mit Behinderung zweckdienlich oder pointiert und eigenständig zum Ausdruck kommt. Das Thema erfährt auch international Aufmerksamkeit. Sujets zu Behinderungen auf Briefmarken gibt es von Australien bis Zypern, von Algerien, Burkina Faso, Chile, Hongkong, Israel, Jamaica, Kanada, Mali, Malta, Nigeria, Peru, Taiwan, Ungarn usw. 3 Im Folgenden beschränke ich mich auf die Beschreibung einiger entsprechender Briefmarken vor allem aus Deutschland, aber auch aus der einstigen DDR, der Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Portugal und Liechtenstein. Die möglichst präzise, „dichte“ Beschreibung hat den Vorteil, dass die Briefmarke, die zwar schnell als solche (wieder)erkannt wird, dann vielleicht detaillierter, strukturierter oder behutsamer betrachtet wird und sich deren Wahrnehmung und Aussage eine Überprüfung anschließt. Ich habe 22 Exemplare aus dem Zeitraum von 1964 bis 2015 als Grundlage ausgewählt. Zuerst fällt auf, dass nahezu die Hälfte dieser relativ zufälligen Auswahl die Protagonisten im Rollstuhl präsentiert. Etwa ein Drittel stammt aus dem Bereich des Sports, der Paralympics oder Special Olympics. Die Rollstuhldarstellungen im Sportkontext zeigen oft mehrere Räder hintereinander oder insgesamt unscharfe Abbildungen, um die Dynamik VHN 1 | 2019 74 CHRISTIAN MÜRNER Behinderungen auf Briefmarken TRE ND des Geschehens z. B. beim Basketball zu betonen. Thematisch zentral finden sich Rehabilitation, Eingliederung und Jahresjubiläen von Einrichtungen, vor allem auch bei sogenannten Wohlfahrtsmarken. Die Motivwahl für das „Internationale Jahr der Behinderten“ 1981 ist aufschlussreich, auch im Vergleich der unterschiedlichen Länder. Das Motiv der Deutschen Bundespost [1] (Nennwert 60 Pfennig) zeigt sechs leicht und locker in Beige skizzierte Figuren im Profil und scheinbar in Bewegung, drei Frauen in langen Röcken, zwei Männer und ein Kind vor einem hellgrünen Hintergrund, der sich nach rechts auflichtet (Entwurf: Arthur Löffelhardt). Fünf der Figuren stehen rechts, eine links, die gängige Beschreibung lautet: „Ein Behinderter und Gesunde, die aufeinander zu gehen.“ Worin die Behinderung des Mannes links besteht, ist nicht zu erkennen, die Figur ist in ihrer Art kaum von der männlichen rechts zu unterscheiden. Eine der Frauen erfasst die Hand des Mannes links. Die Darstellung dieses Kontakts bildet den Fixpunkt, sozusagen im goldenen Schnitt, des Motivs. - Zum Vergleich: Eine Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1974 [2] mit roten „Silhouetten eines Behinderten im Rollstuhl und ihn umgebender nicht Behinderter“ (Entwurf: Langer, Nennwert 40 Pfennig, Auflage 30 Millionen) trägt den anfangs erwähnten Slogan „Behinderte eingliedern“. Dabei steht „Behinderte“ auf der Seite des Rollstuhls, der markant im Vordergrund platziert ist, „eingliedern“ daneben unter den Oberkörpersilhouetten eines Kindes und eines Mannes. Die Briefmarke zum „Internationalen Jahr der Geschädigten“ [3], so hieß es offiziell in der DDR, erscheint gewissermaßen spiegelbildlich zum Motiv der Deutschen Bundespost. Zu sehen sind links im Bild und leicht versetzt hintereinander zwei Rollstuhlfahrerinnen und zwei Rollstuhlfahrer beim Speerwerfen. Eine Frau in blauem Turnanzug und blonden Haaren holt mit dem rechten Arm zum Wurf aus. Ihre Kollegin und die Kollegen sind in Grün, Ocker und Hellblau gehalten. Die Rollstühle sehen in Hellbraun sehr statisch, steif und schwerfällig aus. Der nicht behinderte Trainer oder Sportlehrer steht im grasgrünen Sportanzug rechts, den rechten Arm hat er angewinkelt in die Hüfte gestützt, in der linken hält er aufrecht einen Speer. - Briefmarken von 1979 behandeln das Thema „Rehabilitation in der DDR“: Ein Mann sitzt im weißen Mantel im blauen Rollstuhl am Tisch und bearbeitet mit einer Handsäge einen Gegenstand im Schraubstock [4]; ein Mädchen und ein Junge an Schultischen notieren sich, was sie in Mikroskopen beobachten, daneben macht ein Junge auf einer Liege mit einem Beistelltisch dasselbe, wird aber unterstützt von einer erwachsenen Person im weißen Mantel [5]. Das Briefmarkenmotiv der Schweizerischen Post zum „Jahr des Behinderten/ Année de l’handicapé/ Anno dell’invalido“ (Helvetia 40, Rolf Mösch) [6] umfasst fünf Figuren in Weiß und abgestuftem Grün auf intensivem rotem Hintergrund. (Warum stets fünf erwachsene Figuren? ) Die vereinfacht gestaltete Figur ganz in Weiß mit gelbem Kopf im Rollstuhl, der nur mit grauen Strichen markiert ist, sitzt im Vordergrund, links und rechts, leicht versetzt sind zwei Figuren in Hellgrün zu sehen, die eine hat einen ganz weißen Kopf, die andere eine Art Kopfbinde in Weiß, die aber über die Augen reicht. Hinter diesen beiden Figuren stehen wieder leicht versetzt und nach oben verschoben zwei Figuren in Dunkelgrün, die linke mit einem weißen Arm, die rechte mit einem weißen Bein. Die fünf Figuren bilden in der Art ihrer Darstellung ein V. Offensichtlich wird mit der Wiedergabe eines Körperteils in weißer Farbe die Art der Behinderung angedeutet. Die italienische Briefmarke zum „Anno internazionale delle persone handicappate“ (Italia 300, A. Ciaburro) [7] präsentiert vor einem gleichmäßig grauen Hintergrund eine mit glattem schwarzen Strich umrandete Person im VHN 1 | 2019 75 CHRISTIAN MÜRNER Behinderungen auf Briefmarken TRE ND Rollstuhl, die durchsichtig wirkend den Blick auf eine grüne Landschaft mit Fluss, einem gelben Horizont und einem eindrucksvoll bewölkten Himmel freigibt und dadurch der dargestellten Person im Rollstuhl imaginär Perspektiven eröffnet. Im Jahr 1981 erscheint in Frankreich unter dem Titel „Pleine participation et égalité“ [8] (1.60, Dessinateur und Graveur Claude Andréotto) eines der meiner Ansicht nach raffiniertesten und bildlich überzeugendsten Motive: eine Briefmarke auf der Briefmarke. Diese akzentuierte Briefmarke auf der doppelt so großen Briefmarke, blau umrandet und in der Mitte der oberen Hälfte platziert, enthält die prägnante Schwarz-Weiß-Skizze eines leicht seitlich von hinten im Profil dargestellten Mannes an einem wie üblich schräg aufgestellten Reißbrett, der eine Linie entlang des Winkellineals zieht. Er trägt eine Anzugjacke, eine Brille und hat dunkle Haare. Rechts neben ihm beugt sich ein Mann im Hemd und mit Krawatte zu ihm hin und streckt einen Arm Richtung Reißbrett, wodurch der Eindruck entsteht, dass er ihn auf etwas hinweist oder ihm vielleicht etwas hinreicht. Diese Darstellung einer Briefmarke wird nun auf der eigentlichen Briefmarke ergänzt, sie ist also nur ein Ausschnitt aus dem gesamten Bild. Die heller, transparent skizzierte Ergänzung verdeutlicht nun, dass der Mann am Reißbrett im Rollstuhl sitzt, was man auf der dargestellten Briefmarke nicht erkennen kann. Der andere Mann steht neben ihm - ist er Assistent oder Kollege? 1988 erscheint in Frankreich eine Briefmarke mit der Unterzeile „Accessibilité aux handicapés“ [9]. Auf blauem Hintergrund werden drei weiß umfasste grüne Pfeile von links nach rechts gezogen. Am Ende des geraden oberen und des ebenso geraden unteren, etwas längeren Pfeils geht eine kleine Fußgängerfigur. Der mittlere Pfeil hat eine Zickzack-Form, die sich um vier gelbe Klötze krümmen muss, am Ende steht das Rollstuhlsignet. - Dieses international bekannte Rollstuhlsignet wird auf einer Briefmarke aus Portugal zum „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung“ 2003 von realistisch gezeichneten und zusammengestellten Menschenfiguren, die wie aus der Luft fotografiert scheinen, gebildet und wiedergegeben [10]. - Eine französische Briefmarke [11], auch in der Art einer Schwarz- Weiß-Zeichnung von 1964, zeigt eine Person, wahrscheinlich eine Chemikerin im weißen Mantel, im Rollstuhl an ihrem Arbeitsplatz mit den entsprechend charakteristisch aufgebauten bauchigen Flaschen und Behältern, daneben sind Gehhilfen an den Tisch gelehnt. Zum 50-jährigen Bestehen der „Lebenshilfe“ 2008, der „Aktion Mensch“ 2014 und der „Stiftung Cerebral“ 2011 werden Briefmarken mit merkwürdig ähnlichen Motiven publiziert. Sie lehnen sich an künstlerische Kritzeleien und Kinderzeichnungen an, sind aber aller Wahrscheinlichkeit nach Nachahmungen oder Neuzusammenstellungen. Die „Lebenshilfe“ setzt sich als Selbsthilfevereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung und deren Angehörige ein. Sie wurde 1958 in Marburg gegründet. Die Jubiläumsbriefmarke [12] wurde von der Grafikerin Barbara Dimanski aus Halle gestaltet. Sie stellt die einzelnen Buchstaben des Wortes „Leben“ malerisch mit dicken, spontan wirkenden Pinselstrichen in Blau, Rot, Schwarz, Gelb, Grün dar. Das erste kleine E ist spiegelbildlich und sozusagen mit Beinen wiedergegeben, das zweite E wird in der Rundung durch zwei Punkte ergänzt, sodass es die minimale Grundform eines Gesichts erhält. Da es aber gelb unterlegt und außen herum mit gelben Strahlen verziert ist, erscheint es als fröhliche Sonne. Die Jubiläumsbriefmarke der „Aktion Mensch“ [13] stammt auch von Barbara Dimanski. Vier künstlerisch-kindlich gezeichnete, bunt gekleidete Personen bilden in ihrer bewusst eingenommenen oder konstruierten Haltung nach- VHN 1 | 2019 76 CHRISTIAN MÜRNER Behinderungen auf Briefmarken TRE ND und miteinander das Wort „Wir“. Die Person, die das I darstellt, sitzt in einem rudimentär skizzierten Rollstuhl. Dies „Wir“ wird oben links und unten rechts durch zwei Worte in bunter handschriftlicher Druckschrift ergänzt, sodass sich der Satz „Das Wir gewinnt“ ergibt. Das ist der Slogan der „Aktion Mensch“, Deutschlands größter privater Soziallotterie und Förderorganisation, die zahlreiche Projekte der Behindertensowie der Kinder- und Jugendhilfe unterstützt. Die Jubiläumsbriefmarke der schweizerischen „Stiftung Cerebral - Helfen verbindet“ [14], deren Ziel „die Früherfassung, Förderung, Ausbildung, Pflege und soziale Betreuung von Menschen mit einer cerebralen Bewegungsbehinderung, spina bifida oder Muskeldystrophie“ ist, zeigt auch vier Personen, d. h. zwei weibliche und zwei männliche Strichmenschlein in Blau, Grün, Orange und Rot, ebenfalls in künstlerisch-kindlicher Form skizziert, eines davon im Rollstuhl. Darüber steht in handschriftlicher farbenfroher Druckschrift „cerebral“. Behinderungsformen lassen sich auf Briefmarken unterschiedlich klar veranschaulichen. Gut für deren visuellen Brennpunkt eignen sich paradoxerweise Blindheit und Sehbehinderung 4 . Eine attraktive, ganz in Weiß gehaltene Briefmarke aus dem Jahr 2000 [15] zur Würdigung von zwei Institutionen - „200 Jahre Blindenschule Berlin/ 150 Jahre Stiftung Niklauspflege“ - trägt den Nennwert 55 in hellgrauen unscharfen Zahlen. Unten rechts ist die 55 allerdings in Blindenbzw. Punktschrift eingeprägt, ebenso wie oben der tastbare Schriftzug „Mit Händen sehen“. Die Gestaltung (Entwurf: Prof. Christof Gassner) erreicht hier eine ungewöhnliche, performative Direktheit, da man gemeinhin eine Briefmarke beim profanen Aufkleben auf einen Umschlag in die Hand nimmt. Ähnlich inszeniert ist eine Briefmarke von 2008 zu „100 Jahre Christoffel-Blindenmission“ [16] (Entwurf: Andrea Voß-Acker). Sie ist ganz in Dunkelgelb gehalten, die Schrift ist über die ganze Fläche verteilt, allerdings sind nur die Buchstaben am rechten Rand lesbar, sie werden nach links immer unkenntlicher. - Beliebt als Symbol auf Briefmarken ist auch der Blindenführhund, doch von der blinden Person ist dabei meist nichts oder nur die Hand oder der Arm zu sehen. Eine schweizerische Briefmarke von 1967 [17] legt quer durchs Bild ein altes Modell eines weißen Stocks - noch keinen modernen Langstock. Rechts darüber steht „Stop! “, darunter „blind, aveugle, cieno“. Das mögliche Missverständnis wird aufgelöst, wenn man rechts hinter dem Stock das angedeutete Autorad beachtet. Ähnlich geeignet wie „Blindheit“ ist das Motiv „Gehörlosigkeit“. 1978 wird in der DDR eine Marke publiziert zu „200 Jahre Gehörlosenbildung“ [18] (Entwurf: Joachim Rieß). Zu sehen ist ein Schüler im leicht seitlichen Porträt mit Kopfhörer bzw. Hörhilfe, der den Buchstaben L nach dem Fingeralphabet bildet, daneben werden drei einzelne Handzeichen abgebildet, die mit a, b und c markiert sind. - Die Briefmarke der deutschen Bundespost von 1980 zum „Intern. Kongreß für Erziehung und Bildung Hörgeschädigter“ [19] (Entwurf: Erwin Poell) behandelt das Thema auf den ersten Blick abstrakt. Sie bildet mehrere horizontale Schwingungen ab, farblich gestaltet von rot über blau, grün, gelb wieder zu rot, eine Bildschirmdarstellung auf einem Oszillogramm, das allerdings in der rechten Hälfte von einem weißen Bereich unterbrochen wird. Schaut man genau hin, ist zu erkennen, dass hier fein die Umrisse einer Ohrmuschel eingeprägt sind. - Ein ausnahmslos abstraktes Motiv findet sich auf einer Briefmarke von 1978 [20], überschrieben mit „Den Behinderten Österreichs“. Sie bildet drei schwarz umrandete Quadrate ab, die wiederum drei ineinander geschachtete Quadrate mit einem schwarzen Mittelpunkt enthalten. Das mittlere dieser Quadrate erscheint zerknautscht - bezogen auf die Überschrift eine vielsagende, nicht unbedingt verständliche Symbolisierung. VHN 1 | 2019 77 CHRISTIAN MÜRNER Behinderungen auf Briefmarken TRE ND Wenn ich recht sehe, kommen in den letzten Jahren neben den Zeichnungen und Grafiken vermehrt auch Fotografien auf den Briefmarken zum Zug, was vor allem mit Sportmotiven im Zusammenhang steht. Eine schweizerische Briefmarke zu den „Special Olympics National Games 2014“ [21] möchte ich herausstellen. Sie zeigt formatfüllend das Foto eines Basketballspielers in einem mit zwei Streifen rot umrandeten weißen Tenue. Gut erkennbar ist die Spielernummer 11 auf dem Leibchen und der Hose. Der Mann hat kurze schwarze Haare und trägt schwarze Basketballschuhe. Seine Haltung ist ganz auf die Ballführung konzentriert. Er scheint aus der Briefmarke herauszulaufen, da er mit der Fußspitze schon über den roten Rand des so gestalteten Hintergrunds mit angedeuteten Spielfeldmarkierungen tritt. Selbstverständlich fragt man sich bei dieser offensiven Darbietung sofort: Wer ist das? Wie heißt dieser Basketballspieler? Links unten in der Ecke, quasi neben den Schuhen des Spielers, steht ein Name, und man könnte ihn eigentlich auf den Sportler beziehen. Hier wird aber in der Regel der Name der Gestalter oder Grafikerinnen notiert, und das ist auch der Fall: Jenny Leibundgut. Sie hat unter Hinzufügung der Spielfeldmarkierungen einen Ausschnitt aus einer Aufnahme der Fotografin Alexandra Wey/ Photopress verwendet, die bei den Special Olympics World Games 2001 in Athen entstanden ist anlässlich des Qualifikationsspiels zwischen der Schweiz und Neuseeland. Der Spieler heißt Florian Klauser, er ist Mitglied der Selbsthilfeorganisation Procap Sport Sargans-Werdenberg im St. Galler Rheintal. Die bisher beschriebenen und ausgesuchten Briefmarken hatten alle Motive über Behinderungen. War also die Idee naheliegend, eine Briefmarke mit von Menschen mit Behinderung selbst geschaffenen Bildern zu gestalten? 2011 wählte die schweizerische Post vier Briefmarkenmotive vier junger Nachwuchskünstlerinnen und Nachwuchskünstler mit Handicap aus, von Christian Oppliger, Claudia Aebi- Torre, Flavia Trachsel und Bajram Mahmuti. Die Post wurde auf sie aufmerksam durch das integrative Kunstprojekt „mehrlebenswert - c’estbonlavie“ von Pro Infirmis Kanton Bern. Auf Anhieb lässt sich die hochformatige, leicht überbreite Briefmarke von Bajram Mahmuti [22] (geb. 1988 im Kosovo) als abstraktes Bild verstehen. Dessen Grund- und Hauptfarbe ist ein sattes Blau, das zwei Drittel ausfüllt. Es wird in der linken sowie in der rechten oberen Ecke von je einem klaren roten länglichen Viertelkreis überdeckt. In der Mitte sind sozusagen die Eckenelemente spiegelbildlich zu einem länglichen Halbkreis zusammengefügt, dazwischen verlaufen oder entstehen so zwei blaue Zwischenstücke, an deren Anfang noch zwei leuchtend gelbe Punkte platziert sind. Erfährt man nun aber den Titel des Motivs, „Latzhose“, verändert sich die Ansicht diametral. Das Blau der Hose rückt in den Vordergrund, das Rot erscheint als das darunter getragene T-Shirt, und mit dem runden Gelb können die Trägerknöpfe gemeint sein. Der in dünnem Gelb im unteren blauen Teil breit aufgekritzelte Name in Großbuchstaben „BAJRAM“ ist wohl der Besitzer und Träger der Latzhose, die er in einem konzentrierten Ausschnitt gemalt hat. Briefmarken werden offiziell Postwertzeichen genannt. Ihr Wert bezieht sich auf die Frankatur, auf das Porto, auf den Transport in die Nähe oder Ferne abhängig vom Gewicht der Sendung und nicht auf die Darstellungsart, obwohl viele Marken als begehrenswerte Kleinkunstwerke gelten können. Briefe sind verschlossen, Briefmarken aber prinzipiell allen zugänglich. Fast 180 Jahre nach ihrer Erfindung ist zu befürchten, dass sie von einem Strichcode abgelöst werden. Ihr prägnanter Ausdruck im kleinen Format im öffentlichen Raum wird fehlen. Es werden auch kaum mehr Briefe geschrieben und in Umschlägen mit Briefmarken verschickt, obwohl auch E-Mails neben dem @ noch immer mit einem Briefumschlag auf dem Computerbildschirm sowie in leichter Sprache illustriert werden. Überleben Briefmarken mit VHN 1 | 2019 78 CHRISTIAN MÜRNER Behinderungen auf Briefmarken TRE ND Zahlen, Porträtköpfen, Wappen oder vielfältigen anderen Bildmotiven nur als Sammelobjekte? Briefmarkenhändler werden auch seltener, heißt es. Soll im Zeitalter der Inklusion auch auf die Veranschaulichung von Behinderungen und behinderten Menschen auf Briefmarken verzichtet werden? Die Postwertzeichen haben sich jeweils zeitbedingt der veränderten Terminologie („Behinderte“ zu „Menschen mit Behinderung“) angepasst, aber ihre Symbolisierungen gehen darüber hinaus, d. h. sie vermitteln eine Präsenz zwischen Alltagsbildern und innovativen Ideen. Sie schaffen Aufmerksamkeit und enthalten Informationen, die fokussiert sind auf einen komplexen Sachverhalt wie die Behinderung eines Menschen. Die Briefmarke bindet individuelle Beeinträchtigungen in soziale Situationen ein. Ihre Vielschichtigkeit in ein kleines Bild zu fassen, das sofort zeichen-, aber nicht schemenhaft verständlich wirkt, fordert die Gestaltung wie die Betrachtung heraus. Dabei wird die Ambivalenz nicht verschwiegen, die in Sonderpostwertzeichen oder Wohlfahrtsmarken zum Ausdruck kommt oder wenn behinderte Beschäftigte z. B. in Bethel Briefmarken für Sammler zum Verkauf ausschneiden. Aus den Darstellungen zu Behinderungen auf Briefmarken resultiert ein Stück anschauliche Zeit- und Kulturgeschichte. Anmerkungen 1 Aus urheberrechtlichen Gründen ist es nicht möglich, die im Text erwähnten Briefmarken abzubilden. Interessierte Leserinnen und Leser können beim Autor oder bei der VHN-Redaktion ein Dokument (persönlich und nur zum privaten Gebrauch) beziehen, auf welchem die Briefmarken abgebildet sind. Die Zahlen in eckigen Klammern im Text beziehen sich auf die in diesem Dokument wiedergegebenen Marken. Im Prinzip sind von allen beschriebenen Briefmarken im Internet Reproduktionen unter den Stichwörtern „Briefmarke, Behinderung“ unter „Bilder“ zu finden. 2 Vgl. Kurt Karl Doberer: Kulturgeschichte der Briefmarke, Frankfurt a. M. 1973, S. 221. 3 Vgl. das Exponat „Die Integration der Menschen mit Behinderung“. Ich bedanke mich bei Rainer Lange, Gemünden, dass er mir sein einzigartiges, eindrucksvolles Exponat als Kopie zur Verfügung gestellt hat. Es ist eine beispiellose thematische Briefmarkensammlung zum Motiv „Behinderung“, „behinderte Menschen“, „Teilhabe“, „Integration“, „Inklusion“ und „selbstbestimmtes Leben“, gegliedert in drei Abschnitte zu Behinderungsarten, zu Rehabilitationsmitteln und zur Arbeitswelt der Menschen mit Behinderung, mit der Absicht, dass die Philatelie einen Beitrag zur Gleichberechtigung liefern könne. Das Exponat von Rainer Lange umfasst mehr als 500 Briefmarken, die Ausstellungstafeln werden alle zwei Jahre aktualisiert. 4 So hat der Deutsche Blindenverband zu seinem 75-jährigen Bestehen mehr als 600 Briefmarken zum Motivfeld Blindheit und Sehbehinderung aus 150 Ländern für eine Ausstellung zusammengetragen, wie der blinde Journalist Keyvan Dahesch Ende 1987 berichtete. In erster Linie wurden Porträts bekannter blinder Persönlichkeiten abgebildet: der König von Hannover Georg V., die amerikanische Schriftstellerin Helen Keller, der Erfinder der Blindenschrift Louis Braille, der Publizist Joseph Pulitzer, aber auch bekannte Augenärzte. Die Ausstellungsintention war: „Vorurteile abbauen“. Anschrift des Autors Dr. phil. Christian Mürner Brunsberg 26 D-22529 Hamburg E-Mail: c.muerner@t-online.de Internet: www.christian-muerner.de