Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art09d
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Aktuelle Forschungsprojekte: HEVE - Herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Schweizer Institutionen des Behindertenbereichs
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Natalie Lustenberger
Manuela Schicka
Hassler
Stefania Calabrese
Eva Büschi
Herausfordernde Verhaltensweisen sind ein aktuelles Thema in vielen Institutionen des Behindertenbereichs. Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit haben sich zum Ziel gesetzt, erstmals eine Datengrundlage zur Situation in der Schweiz zu schaffen und ein systemökologisches Best-Practice-Modell für die praktische Arbeit in den Institutionen zu erstellen.
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79 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE VHN, 88. Jg., S. 79 -81 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art09d © Ernst Reinhardt Verlag HEVE - Herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Schweizer Institutionen des Behindertenbereichs Natalie Lustenberger 1 , Eva Büschi 2 , Stefania Calabrese 1 , Benedikt Hassler 2 , Manuela Schicka 2 1 Hochschule Luzern 2 Fachhochschule Nordwestschweiz Herausfordernde Verhaltensweisen sind ein aktuelles Thema in vielen Institutionen des Behindertenbereichs. Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und die Hochschule Luzern - Soziale Arbeit haben sich zum Ziel gesetzt, erstmals eine Datengrundlage zur Situation in der Schweiz zu schaffen und ein systemökologisches Best-Practice-Modell für die praktische Arbeit in den Institutionen zu erstellen. Herausfordernde Verhaltensweisen (HEVE) wie beispielsweise Selbst- und Fremdaggressionen oder Sachbeschädigungen sind vielfältig und bringen die Begleitpersonen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oft an ihre Grenzen. Oft ziehen Institutionen deshalb externe Beratung zur Unterstützung bei und entwickeln spezialisierte Angebote für diese Klientel. In der Praxis sind Begleitpersonen im Umgang mit HEVE stark gefordert, neue Konzepte und Arbeitsweisen zu entwickeln. Zudem sind sie durch ihr Involviert-Sein in herausfordernde Situationen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt. Schweizweit fehlen bis heute Daten zur spezifischen Situation von HEVE in den Behinderteninstitutionen. Das hier vorgestellte Projekt greift diese Forschungslücke auf und fokussiert auf erwachsene Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und HEVE, die in Schweizer Institutionen des Behindertenbereichs leben. Als theoretische Grundlage dient dem Projekt die systemökologische Perspektive, wonach HEVE keine personeninhärenten Merkmale oder Charaktereigenschaften sind, sondern als Produkte einer Wechselbeziehung zwischen Individuen und deren Umwelt entstehen. Dieser Einstellung gemäß wird ein kritisches Augenmerk auf die Ausgestaltung der Umwelt sowie auf die darin vorherrschenden Bedingungen gerichtet. Zudem werden subjektive Funktionen und Bedeutungen von HEVE eruiert, um die Wechselbeziehung zwischen Person und Umwelt zu erfassen und genauer zu verstehen. Fragestellung und methodisches Vorgehen Das vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Projekt ist Anfang 2018 gestartet und dauert bis Ende 2020. Die zentrale Fragestellung des Projektes lautet: Wie wird mit herausfordernden Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Institutionen des Behindertenbereichs in der Schweiz umgegangen? Untergeordnete Fragen fokussieren auf die Häufigkeit und Formen sowie die Entstehung von HEVE, den Umgang damit und deren Folgen. Um diese Fragen zu beantworten, sind methodisch folgende fünf Projektphasen vorgesehen resp. bereits durchgeführt worden: Phase 1: Vollerhebung mittels standardisiertem Online-Fragebogen In einer nationalen Vollerhebung (N=380 Institutionen) wurden standardisierte Online-Fragebogen an Schweizer Institutionen mit Wohnangebot für Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen versandt. Daraus resultierten Daten zur Definition, Häufigkeit (Anzahl Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen) und Formen von HEVE sowie institutionelle Angaben. Phase 2: Geschichtete Stichproben-Erhebung mittels standardisiertem Fragebogen Eine standardisierte Erhebung mittels Online- Fragebogen an Bezugspersonen (geschichtete Stichprobe aus Institutionen der Phase 1) liefert Daten zu Entstehung von HEVE, zum institutionellen Umgang damit und zu daraus entstehenden Folgen. VHN 1 | 2019 80 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Phase 3: Qualitative Erhebung der Perspektive von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen mittels Einzelinterviews/ Videoaufnahmen 20 Interviews bzw. Videoanalysen mit Erwachsenen, die kognitiv beeinträchtigt sind und HEVE zeigen, erfassen ihre Lebenssituation und -wirklichkeit in Bezug auf HEVE. Die 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden aus Daten der Phase 2 gewählt, je zehn outlier mit positivem und zehn mit problematischem Verlauf bezüglich HEVE. Die Wahl der Erfassungsmethode wird je nach Grad der kognitiven Beeinträchtigung bzw. Einschränkung der Ausdrucksfähigkeit der Person getroffen. Ein zusätzliches Ziel dieser Phase ist die Erprobung methodisch innovativer Wege, um die Perspektive von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen aufzuzeigen. Phase 4: Qualitative Erhebung der Perspektive involvierter Begleitpersonen mittels Gruppendiskussionen/ Einzelinterviews 20 Gruppendiskussionen mit allen in der Begleitung involvierten Personen (interdisziplinäre Teams zu den 20 Personen aus Phase 3) ermöglichen eine systemökologische Analyse des spezifischen Umgangs mit HEVE. So werden förderliche und hinderliche Faktoren für eine erfolgreiche Passung zwischen Individuum und Umwelt herausgearbeitet. Zudem werden 20 Einzelinterviews mit Angehörigen geführt, um auch deren Perspektive zu erfassen. Phase 5: Ergebnistriangulation und Abschluss Die Ergebnistriangulation der quantitativen und qualitativen Daten dient dazu, den Forschungsgegenstand zu erfassen und so seiner Vielschichtigkeit und Komplexität gerecht zu werden. Variable Kategorien Anzahl in % Anzahl Bewohnende (N = 171) 1 -10 28 16.4 11 -30 49 28.7 31 -80 55 32.2 > 80 39 22.8 Anzahl Wohngruppen (N = 172) keine Wohngruppe(n) 8 4.7 1 -3 50 29.1 4 -10 78 45.3 11+ 36 20.9 Plätze mit Intensivbetreuung (N = 172) Ja 67 39.0 Nein 105 61.0 Interner Arbeitsbereich (N = 172) Ja 148 86.0 Nein 24 14.0 Lage der Wohngruppen (Mehrfachnennung) (N = 199) Ländliche Gegend 115 66.9 Stadt mit weniger als 20’000 Einwohnern 42 24.4 Stadt zwischen 20’000 & 100’000 Einwohnern 24 14.0 Stadt oder Großraum mit mehr als 100'000 Einwohnern 18 10.5 Tab. 1 Samplebeschreibung VHN 1 | 2019 81 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Schließlich wird ein empirisch fundiertes systemökologisches Best-Practice-Modell entwickelt, das Handlungsorientierungen für Fachpersonen in der Praxis bietet. Erste Ergebnisse aus Phase 1 Derzeit liegen erste deskriptive Ergebnisse der Erhebung aus Phase 1 vor. Die Rücklaufquote der 380 angeschriebenen Institutionen, welche Wohnangebote für Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen anbieten, war gesamtschweizerisch mit 48.2 % zufriedenstellend. Das Sample ist in Tabelle 1 beschrieben, wobei die meisten teilnehmenden Institutionen mittlerer Größe sind, zwischen 4 und 10 Wohngruppen umfassen und in ländlichem Gebiet gelegen sind. Mehr als ein Drittel der Institutionen bietet Intensivbetreuungsplätze an, und die große Mehrheit verfügt über einen internen Arbeitsbereich. Die Daten zeigten eine HEVE-Prävalenz von 28.21 % (N = 169), wobei diese bei den in den Institutionen wohnhaften Männern deutlich höher war (31.14 %) als bei den Frauen (24.65 %). Aus einer Liste mit 19 Formen von HEVE wurden verbale Aggressionen (84 %), motorische Überaktivität/ Unruhe (69 %) und Selbstverletzung (68 %) als die drei häufigsten genannt. Als die drei herausforderndsten Verhaltensweisen aus Sicht der Institutionsleitenden wurden Fremdverletzungen gegenüber Begleitpersonal (77 %), Fremdverletzungen gegenüber anderen Klientinnen und Klienten (73 %) und Selbstverletzungen (68 %) genannt. Die schon vorliegenden und die künftigen Resultate des Projekts schaffen eine erste Datengrundlage zu Häufigkeit und Form von HEVE, den Entstehungsbedingungen, dem Umgang damit und den Folgen davon in der Schweiz. Damit schließen sie eine Forschungslücke in einem bisher sehr begrenzt bearbeiteten wissenschaftlichen Feld. Neben Anknüpfungspunkten für vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung soll aufgrund der generierten Daten die Bedeutung von HEVE in der Schweiz erfasst und der daraus entstehende Unterstützungsbedarf spezifischer abgeschätzt werden können, was auch in sozialpolitischer Hinsicht relevant ist. In der Praxis soll das empirisch fundierte systemökologische Best-Practice-Modell Handlungsorientierungen im Umgang mit HEVE bieten und dadurch zur Verbesserung der Lebenssituation und Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Institutionen beitragen. Weitere Informationen auf http: / / www.heve.ch Kontaktangaben für interessierte Leserinnen und Leser: Prof. Dr. Eva Büschi, Dr. Stefania Calabrese E-Mail: eva.bueschi@fhnw.ch stefania.calabrese@hslu.ch
