Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art13d
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2019
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Rezension: Abelein, Philipp/ Stein, Roland (2017): Förderung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen
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Dominik Robin
Abelein, Philipp; Stein, Roland (2017): Förderung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen Stuttgart: Kohlhammer. 234 S., € 29,– Der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurde bereits viel Literatur gewidmet, warum also ist ein weiteres Buch dazu nötig? Philipp Abelein und Roland Stein, beide aus dem Bereich der Sonderpädagogik, stellen sich diese Frage zu Beginn des Buches gleich selbst. Ihre Antwort: Es fehle bisher an einer „genuin pädagogischen Auseinandersetzung“ (S. 13) mit dem Thema.
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VHN 1 | 2019 87 REZE NSION E N Abelein, Philipp; Stein, Roland (2017): Förderung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen Stuttgart: Kohlhammer. 234 S., € 29,- Der Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurde bereits viel Literatur gewidmet, warum also ist ein weiteres Buch dazu nötig? Philipp Abelein und Roland Stein, beide aus dem Bereich der Sonderpädagogik, stellen sich diese Frage zu Beginn des Buches gleich selbst. Ihre Antwort: Es fehle bisher an einer „genuin pädagogischen Auseinandersetzung“ (S. 13) mit dem Thema. Das Buch verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll die vorherrschende wissenschaftliche ADHS-Perspektive kritisch betrachtet werden, zum anderen soll der Fokus auf pädagogische Handlungsfelder und Fördermöglichkeiten gerichtet werden. Das Werk kann in zwei Teile gegliedert werden: Kapitel 1 bis 4 vermitteln wichtiges Grundlagenwissen, unter anderem zur Begriffsklärung, zu den Ursachen des Phänomens, zur Epidemiologie, Diagnostik und Therapie. Kapitel 5 und 6 hingegen beleuchten, wie betroffene Kinder pädagogisch gefördert werden können. ADHS ist ein vielschichtiges und komplexes Phänomen. Der dominierende Forschungsdiskurs werde jedoch einseitig geführt und das Gesamtbild weise einen „erheblich medizinisch-biologischen Schwerpunkt” (S. 206) auf. Die komplette begriffliche und konzeptionelle Grundlage sei primär durch die internationalen Klassifikationssysteme ICD (International Classification of Diseases) und DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) gesteuert. Anhand dieser Klassifikationssysteme würden die Symptomatik des Störungsbildes definiert und betroffene Kinder diagnostiziert und therapiert. Abelein und Stein stellen als Kontrastprogramm eine interaktionistische Perspektive vor, wobei Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt in den Vordergrund rücken. So üben bspw. beschleunigte Lebensverhältnisse unserer Gesellschaft, etwa Zeitverknappung und Reizüberflutung, einen Einfluss auf das Alltagsleben der Kinder aus. Manche Kinder reagieren mit innerer Unruhe und Unkonzentriertheit auf hektische Zeitumstände und Leistungsdruck. Aufgrund der Dominanz dieses medizinisch-biologischen Diskurses sehen die Autoren auch einen Entwicklungsbedarf für präventive und pädagogische Ansätze. Sie stellen verschiedene Förderkonzepte und Trainingsprogramme wie das THOP (Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten) VHN 1 | 2019 88 REZE NSION E N vor und diskutieren deren Umsetzung und Wirkung. Lehrpersonen finden dabei auch konkrete Hilfen bezüglich der Gestaltung von Unterrichtssituationen. Wichtig sei insbesondere eine Strukturgebung, z. B. bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes. Die Förderprogramme werden unter dem Stichwort der „Dialektik” (S. 173) auch kritisch besprochen, denn je mehr Hilfe die Kinder durch solche Programme erfahren, desto weniger können sie eigenständig lernen, mit den realen schulischen Anforderungen umzugehen. Aufbauend auf einer interaktionistischen Sichtweise seien Förderprogramme vor allem dann effektiv, wenn es zu einer Zusammenarbeit verschiedener mit dem Problemfeld in Verbindung stehender Akteure komme (z. B. Eltern, Lehrpersonen, Therapeuten). Während Kapitel 5 und 6 klar auf eine pädagogische Leserschaft gerichtet sind, ist der Fokus des ersten Buchteils etwas diffuser. Die Kapitel 1 bis 4 wenden sich vornehmlich an eine Leserschaft, die sich professionell mit dem Thema ADHS auseinandersetzt, also Wissenschaftler/ innen, Therapeut/ innen usw. Interessierte Eltern können von dem Buch partiell auch profitieren. An mancher Stelle, z. B. über die Wirkung von Methylphenidat, werden für den Laien allerdings komplizierte und technische Details geliefert. Die etwas unscharfe Leserschaft-Fokussierung des ersten Buchteils ist aber auch eine Stärke, denn die Autoren vermehren genau da die Kenntnisse, wo es dringend nötig ist. Dem Buch gelingt es, ADHS als komplexes Phänomen zu erfassen und es aktuell, weitsichtig und mehrere Perspektiven berücksichtigend zu diskutieren. Beispielsweise wird bei den möglichen Ursachen von ADHS ein so umfassendes Bild gezeichnet, wie man es in der einschlägigen Literatur nur ganz selten vorfindet. Für mich persönlich ist dieses Buch ein wichtiger Schritt, um den aktuellen medizinischen Diskurs zu ADHS umzuwälzen und ergänzend dazu individuelle, regionale, schulische und gesellschaftliche Besonderheiten und Bedingungen zu berücksichtigen. Lic. phil. Dominik Robin CH-8401 Winterthur DOI 10.2378/ vhn2019.art13d
