Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art14d
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Rezension: Lindmeier, Bettina/ Stahlhut, Hanna/ Oermann, Lisa/ Kammann, Cornelia (2018): Ein Praxisbuch für die Arbeit mit erwachsenen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und ihren Familien
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Christian Mürner
Lindmeier, Bettina; Stahlhut, Hanna; Oermann, Lisa; Kammann, Cornelia (2018): Biografiearbeit mit einem Lebensbuch Ein Praxisbuch für die Arbeit mit erwachsenen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und ihren Familien Weinheim: Beltz Juventa. 236 S., € 19,95 „Biografiearbeit mit einem Lebensbuch“ – wer bringt dies unmittelbar in Zusammenhang mit Mut machen, Freude haben, Wünsche äußern, Erinnerungen aufzeichnen? Klingt es nicht eher nach Anstrengung und schwerwiegendem Bericht? Doch „Biografiearbeit“ im Sinn einer kreativen Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben gehört zur Idee des gleichnamigen Weiterbildungsprojekts, das zwischen 2013 und 2016 an den Osnabrücker Werkstätten stattfand.
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VHN 1 | 2019 88 REZE NSION E N Lindmeier, Bettina; Stahlhut, Hanna; Oermann, Lisa; Kammann, Cornelia (2018): Biografiearbeit mit einem Lebensbuch Ein Praxisbuch für die Arbeit mit erwachsenen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und ihren Familien Weinheim: Beltz Juventa. 236 S., € 19,95 „Biografiearbeit mit einem Lebensbuch“ - wer bringt dies unmittelbar in Zusammenhang mit Mut machen, Freude haben, Wünsche äußern, Erinnerungen aufzeichnen? Klingt es nicht eher nach Anstrengung und schwerwiegendem Bericht? Doch „Biografiearbeit“ im Sinn einer kreativen Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben gehört zur Idee des gleichnamigen Weiterbildungsprojekts, das zwischen 2013 und 2016 an den Osnabrücker Werkstätten stattfand. Die deutschen „Werkstätten für behinderte Menschen“ haben einen offiziellen „Doppelauftrag“. Ihre Beschäftigten sind neben der Mitwirkung am wirtschaftlichen Betrieb auch in der Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Zu Letzterem kann das Angebot eines Bildungskurses unter dem genannten Titel „Biografiearbeit mit einem Lebensbuch“ gezählt werden. Voraussetzung an dessen - grundsätzlich freiwilliger - Teilnahme war nur das Interesse, „etwas über sich, über sein Leben herausfinden“ (S. 220) zu wollen. Die Aufmerksamkeit für die persönliche Lebensgeschichte ist groß, auch wenn oft kränkende Erfahrungen dazuzählen. Die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen stellen nämlich schnell fest, dass sie neben den üblichen Benachteiligungen für einmal „mit ihrer Geschichte im Mittelpunkt“ stehen (S. 75). Doch wie gewährt „Biografiearbeit“ im sozialpädagogischen Bereich Loyalität? Die gegenseitige Vertrauensfrage stellt sich wegen des Datenschutzes und der Hierarchien. Interessante Details einer Lebensgeschichte, die zur Darstellung kommen, können sowohl Diskriminierungen wiederholen als auch Vorurteile widerlegen. Wie ist mit dieser Ambivalenz zwischen Offenheit und Schweigepflicht zu verfahren? VHN 1 | 2019 89 REZE NSION E N Das Projekt „Biografiearbeit mit einem Lebensbuch“ setzte bei der Situation „älterer Familien“ an. D. h. Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung im mittleren Lebensalter zwischen 40 und 50 wohnen bei ihren über 65 Jahre alten Eltern. Das sind in Deutschland schätzungsweise die Hälfte aller Menschen mit Behinderungen. Die „älteren Familien“ beurteilen ihr langjähriges Zusammenleben selbst als positiv, während die Fachkräfte der Sozialarbeit diese Familiensituation eher als problematisch betrachten. Dies thematisiert die Ambivalenz zwischen dem Fürsorgeprinzip und dem Prinzip der Selbstbestimmung (S. 24). Auch wenn eines dieser Leitprinzipien zeitbedingt theoretisch und partiell praktisch dominiert, z. B. Wohneinrichtungen und ambulante Pflegedienste gegenüber dem Leben in der Familie, kann deren Bewertung relativ erscheinen. Die stellvertretende Begleitung ist eine Frage des Aushandelns zwischen den Betroffenen, den Angehörigen und den Fachkräften. Zur Identitätsfindung und zur „Gestaltung von Übergängen“ (S. 42), z. B. beim Tod der Eltern, kann das Vorhandensein biografischer Kompetenz Erhebliches beitragen. Mit einem „Lebensbuch“ als „Kommunikationsbuch“ - wobei darunter nicht allein verbale Kommunikation verstanden wird - können Menschen „mit größtmöglicher Selbstständigkeit aus ihrem Leben erzählen“ (S. 51f.). Das „Lebensbuch“ gliedert sich in Kapitel wie „Über mich“, „Dinge, die ich tue“, „Dinge, die ich kann“ oder „Meine Gesundheit“. Es entsteht im Rahmen des Bildungskurses zur „Biografiearbeit“, der in sieben Einheiten zu je vier Stunden stattfindet. Er beginnt mit der Anfertigung eines „Körperumrisses“ der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, der wörtlich ausgefüllt wird mit der Darstellung der Eigenschaften, wie man sich selbst sieht, was man mag oder nicht, wie man wohnt usw. Dann geht es um das Plakat eines „Lebensbaums“, der an seinen Ästen und Blättern alle Personen versammelt, die einem wichtig sind. Hier verwundert es, dass der schemenhaft vorgegebene „Lebensbaum“ (S. 105) ziemlich einfallslos wirkt, angesichts der originellen Malerei von Künstlern mit Behinderung. Der Lebensweg wird zum Schluss des „Lebensbuches“ auf einer Zeitleiste dargestellt, mit persönlichen Höhepunkten und Krisen. Das ist grob zusammengefasst das einfache, aber stimmige Gerüst des Kurses zur „Biografiearbeit mit einem Lebensbuch“. Das strukturierte, angeleitete, je individuelle „Lebensbuch“ kann sowohl im Stillen erfreuen als auch anderen präsentiert werden als Einstieg für Kontakte und Kooperationen oder gesellschaftliche Anlässe im spielerischen Umgang. Es ist ein Dokument, das verdeutlicht, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oft zu Unrecht unterschätzt werden, ihnen z. B. Bildungsunfähigkeit unterstellt wird. Man kann davon ausgehen, dass viele Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen mehr verstehen und aufnehmen als sie zeigen, aufschreiben oder reproduzieren können (S. 66). Die Evaluation des Projektes konnte einen Zuwachs an biografischer Kompetenz feststellen. Viele Angehörige überwanden ihre anfängliche Skepsis, auch wenn die Eltern weiter davon ausgehen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter nicht in eine Wohneinrichtung wechseln, sondern als Wunschlösung nach ihrem Tod bei den Geschwistern leben sollte. Die sozialpädagogischen Fachkräfte lernten die Situation der Familien und der Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen näher kennen und relativierten ihre klare Position, die dem aktuellen Leitprinzip der Selbstbestimmung und Teilhabe folgt. „Ältere Familien werden nicht mehr vorrangig als problematisch wahrgenommen, sondern bezüglich ihrer Lebensleistung und den vorhandenen Ressourcen gesehen“ (S. 187). Das Oszillieren zwischen familiären und fachlichen Positionen, zwischen eingespielten Lebensstilen und professioneller Begleitung, zwischen individuellen und inklusiven Prinzipien entspricht dem Erkennungszeichen von Lebensbeschreibungen mit produktiver Ambivalenz. Aber sicher verhält man sich im Privaten zu Hause ein wenig anders als in einem halböffentlichen Bildungskurs, obwohl man nahezu derselbe oder dieselbe bleibt. Das Autorinnenteam Bettina Lindmeier, Hanna Stahlhut, Lisa Oermann und Cornelia Kammann legt unter dem Titel „Biografiearbeit mit einem Lebensbuch“ eine anregende, an der Praxis orientierte Publikation vor, die mit sensiblen Beispielstudien und differenzierten Erläuterungen überzeugt. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2019.art14d
