Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art15d
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Rezension: Mürner, Christian (2018): Autobiografie und Behinderung. Markante Lebensberichte seit 1950
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Martin Baumgartner
Mürner, Christian (2018): Autobiografie und Behinderung. Markante Lebensberichte seit 1950 Weinheim: Beltz Juventa. 219 S., € 19,95 Die Autobiografie wurde auch schon als „Zwischending der Literatur“ bezeichnet, da sie weder der Belletristik noch der Sach- und Fachliteratur zugerechnet werden kann und manchmal auch ein bisschen von beidem ist. Autobiografien kennt man von außergewöhnlichen Menschen, die ein bewegtes Leben haben oder hatten und aus ihrer persönlichen Perspektive darüber berichten wollen; daneben gibt es auch Autobiografien von Menschen „wie du und ich“, welche von „normalen“ Lebensläufen und ihren vielfältigen Fährnissen und Wendungen erzählen. Und es gibt erstaunlich viele Autobiografien von Menschen mit Behinderungen.
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VHN 1 | 2019 90 REZE NSION E N Mürner, Christian (2018): Autobiografie und Behinderung. Markante Lebensberichte seit 1950 Weinheim: Beltz Juventa. 219 S., € 19,95 Die Autobiografie wurde auch schon als „Zwischending der Literatur“ bezeichnet, da sie weder der Belletristik noch der Sach- und Fachliteratur zugerechnet werden kann und manchmal auch ein bisschen von beidem ist. Autobiografien kennt man von außergewöhnlichen Menschen, die ein bewegtes Leben haben oder hatten und aus ihrer persönlichen Perspektive darüber berichten wollen; daneben gibt es auch Autobiografien von Menschen „wie du und ich“, welche von „normalen“ Lebensläufen und ihren vielfältigen Fährnissen und Wendungen erzählen. Und es gibt erstaunlich viele Autobiografien von Menschen mit Behinderungen. Der in Hamburg wohnhafte Schweizer Sonderpädagoge Christian Mürner ist bekannt für Veröffentlichungen zu Themen, die sich eher am Rand des heil- und sonderpädagogischen Diskurses bewegen, die dem Fach aber gerade deshalb immer wieder überraschende Farbtupfer verleihen. Seine neueste Publikation bestätigt dies einmal mehr. Mürner stellt darin 55 (hauptsächlich) deutschsprachige oder ins Deutsche übersetzte Autobiografien von Menschen mit Behinderungen vor, die seit 1950 erschienen sind. Um es vorwegzunehmen: Es ist ein unkonventionelles Überblickswerk, ein beeindruckendes Kompendium, das Mürner zusammengestellt hat. In 55 Kurzrezensionen präsentiert er das jeweilige Buch, skizziert den Inhalt und stellt den Autor bzw. die Autorin vor. Wenn Mürner auf S. 35 aber behauptet, die Besprechungen und Präsentationen folgten keinem Schema, so stimmt das natürlich nicht. Denn ein roter Faden zieht sich durch jede von ihnen in der Form einer mehr oder weniger detaillierten Beschreibung des Buchumschlags, dessen Gestaltung in Beziehung zum Inhalt sowie zur Autorin oder zum Autor gesetzt wird. Dabei eröffnen sich dem Leser, der Leserin ungeahnte Zusammenhänge und verborgene Deutungsmuster, die man sonst wohl übersehen hätte. So erfährt man z. B., dass sich das Cover eines der Bücher von der ersten zur zweiten Auflage verändert hat und dadurch auch der erste Eindruck vom Werk ein ganz anderer ist, da die grafischen Akzente anders gesetzt worden sind. Auffallend und positiv hervorzuheben ist die nüchterne, sachliche, informative Sprache, derer sich Mürner in den Kurzrezensionen (wie im ganzen Buch) bedient. In angenehmer Diskretion tritt er hinter die Autoren und Autorinnen der Autobiografien zurück und fungiert als Berichterstatter, der sich jeglicher Wertung enthält. Denn es geht nicht darum, ein Urteil über die vorgestellten Werke zu fällen, es geht auch nicht um Literaturkritik (zumal die wenigsten der hier versammelten Autobiografien einen hohen literarischen Anspruch erheben - die Lebensnähe hat Vorrang). Es geht vielmehr um eine vorurteilsfreie Bestandsaufnahme. Im Anschluss an die 55 Kurzrezensionen folgen einige „kompakte längere Textpassagen“ (so der Titel des Kapitels), welche beispielhaft charakteristische Aspekte der Autobiografien illustrieren sollen, sowie „theoretische Konzepte“ zu ihrer fachlichen Einordnung. Eine Autobiografie hat viel mit der Identität des Menschen zu tun, der sie geschrieben hat, wie er oder sie sich im sozialen Umfeld situiert und sich mit den je eigenen Lebensumständen auseinandersetzt und zurechtfindet. Die Identität eines Menschen mit Behinderung ist in ihrer Entwicklung zudem mit Herausforderungen konfrontiert, die das Selbst- und das Fremdbild der Person entscheidend beeinflussen. Gerade für Heil- und Sonderpädagoginnen und -pädagogen dürfte es daher von besonderem Interesse sein, Lebenswege und -umstände von Menschen mit Behinderung kennenzulernen. Das Medium der Autobiografie ermöglicht einen viel direkteren Zugang als professionell verfasste „Fallberichte“, weil es eine ganz individuelle, subjektive Sicht vermittelt, Innenansichten eines Lebenslaufs sozusagen. Mürners Handbuch kann einem als Wegweiser dienen, diejenigen Werke zu finden VHN 1 | 2019 91 REZE NSION E N und kennenzulernen, die einen besonders ansprechen, von denen man aber bislang nicht gewusst hat, dass es sie überhaupt gibt. Es lädt zu spannenden Entdeckungen ein, und zwar nicht nur, was die sich selbst porträtierenden Autorinnen und Autoren betrifft - die Autobiografien behinderter Menschen sagen auch unweigerlich etwas über die Zeit aus, in der sie geschrieben worden sind, und besonders über die Einstellung zu behinderten Menschen in der jeweiligen Epoche. Es ist Christian Mürners Verdienst, mit seinem Buch auf eine außerhalb eines kleinen Kreises von Betroffenen und Fachleuten wenig bekannte Literaturgattung aufmerksam zu machen. Ob das Werk allerdings über diesen Kreis hinaus Impulse wird geben können, ist fraglich. Zu wünschen wäre es ihm jedenfalls. Lic. phil. Martin Baumgartner CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2019.art15d
