eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art22d
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2019
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Die kontroverse Debatte: Differenz statt Integration! Oder: Die Wirkmacht des einheitswissenschaftlichen Ideals

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2019
Andreas Kuhn
In der VHN bzw. VHNplus wurde ein Diskurs systematisch angestoßen, in dem zwei Wissenschaftler (Andreas Kuhn und Jan Kuhl) aus sehr unterschiedlichen Perspektiven individuell zu identischen Leitfragen Stellung beziehen. Der vorliegende Kurzbeitrag soll nun auf den Hauptartikel von Jan Kuhl (2019) eingehen. Dabei folgt der Beitrag Kuhls Einschätzung der Unergiebigkeit eines Richtungsstreites, kritisiert jedoch die Perspektive auf eine Integration verschiedener Wissensformen als voraussetzungsreich und verkürzt. Stattdessen wird die Differenz unterschiedlicher Wissensformen betont. Weiterhin problematisiert der Beitrag, dass sich ausgehend von metatheoretischen Überlegungen Fragen der gegenstandstheoretischen Verständigung nicht in den Blick bringen lassen.
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152 152 VHN, 88. Jg., S. 152 -158 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art22d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Differenz statt Integration! Oder: Die Wirkmacht des einheitswissenschaftlichen Ideals Ein Kommentar zum Artikel von Jan Kuhl Andreas Kuhn Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Zusammenfassung: In der VHN bzw. VHN plus wurde ein Diskurs systematisch angestoßen, in dem zwei Wissenschaftler (Andreas Kuhn und Jan Kuhl) aus sehr unterschiedlichen Perspektiven individuell zu identischen Leitfragen Stellung beziehen. Der vorliegende Kurzbeitrag soll nun auf den Hauptartikel von Jan Kuhl (2019) eingehen. Dabei folgt der Beitrag Kuhls Einschätzung der Unergiebigkeit eines Richtungsstreites, kritisiert jedoch die Perspektive auf eine Integration verschiedener Wissensformen als voraussetzungsreich und verkürzt. Stattdessen wird die Differenz unterschiedlicher Wissensformen betont. Weiterhin problematisiert der Beitrag, dass sich ausgehend von metatheoretischen Überlegungen Fragen der gegenstandstheoretischen Verständigung nicht in den Blick bringen lassen. Difference Instead of Integration! Or: The Power of the Ideal of Unified Science - A Comment on the Paper of Jan Kuhl Summary: In VHN plus , a discourse was systematically initiated in which two scientists (Andreas Kuhn and Jan Kuhl) take an individual stand on identical key questions from very different perspectives. This short article will now deal with the main article by Jan Kuhl (2019). The article follows Kuhl’s assessment of the unproductiveness of a factional dispute, but criticizes the perspective of an integration of different forms of knowledge as preconditionrich and shortened. Instead, the difference between different forms of knowledge is emphasized. Furthermore, the contribution problematizes the fact that based on metatheoretical considerations, questions of object-theoretical understanding cannot be brought into focus. DI E KONTROVE RSE D E BAT TE Sonderpädagogik im Diskurs 1 Annäherung an Kuhls Position und Ausgangspunkte der Kritik Jan Kuhl (2019) entwickelt in seinem Beitrag in vier Schritten eine Vorstellung von Sonderpädagogik als handlungsanleitender und interventionsorientierter Wirkungsforschung, die „geisteswissenschaftliche, gesellschaftskritische und empirische Ansätze integriert“ (S. 10) und sich dabei auf Fragen der „Behinderung der ‚Aneignungsmöglichkeiten von Welt‘ (Jantzen, 1992, S.16) von Personen mit Beeinträchtigungen oder Störungen und die daraus resultierende Notwendigkeit einer besonderen Unterstützung“ (S. 6) bezieht. Dazu geht Kuhl (2019) im ersten Schritt von einer historisch angelegten Skizze wissenschaftlicher Kontroversen aus, um eine Perspektive auf die Synthese und Integration unterschiedlicher konkurrierender wissenschaftlicher Ansätze zu entwickeln. Im zweiten Schritt werden deskriptive, normative und präskriptive pädagogische Forschung als drei Wissensformen unterschieden, um Erziehungswissenschaft und Sonderpädagogik mit Blick auf die Bereitstel- VHN 2 | 2019 153 ANDREAS KUHN Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE lung handlungsorientierenden und -anleitenden Wissens als präskriptive Forschung auszuweisen, die gleichwohl auf deskriptives und normatives Wissen verwiesen bleibt. Der Gegenstand der Sonderpädagogik wird im dritten Schritt entlang der Spezifizierung der Zielgruppe Menschen mit Behinderung und Beeinträchtigung bestimmt. Sonderpädagogik befasse sich als eine Pädagogik unter erschwerenden Bedingungen mit dem Zusammenhang von Behinderung, erschwerten Aneignungsmöglichkeiten und der resultierenden Notwendigkeit besonderer Unterstützung, so Kuhl (2019). Im vierten Schritt konkretisiert Kuhl seine Vorstellung einer„SonderpädagogikalsWirkungsforschung“ insbesondere mit Blick auf Reichweite und Grenzen seines Zugangs. Dabei geht es um den Zusammenhang deskriptiver, normativer und präskriptiver Aussagen mit Blick auf die Frage des Verhältnisses von Theorie, Empirie und Praxis, die Frage des Verhältnisses von gesellschaftskritischem Ansatz und Ansatz der Wirkungsforschung sowie des Verhältnisses der Verallgemeinerbarkeit und des Einzelfallbezugs wissenschaftlicher Aussagen einerseits im Kontext experimenteller und quasiexperimenteller Studien und deren Ergebnisse, andererseits mit Blick auf das Verhältnis qualitativer und quantitativer Zugänge. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für die Integration geisteswissenschaftlicher, gesellschaftskritischer und empirischer Ansätze sowie die wechselseitige Wertschätzung unterschiedlicher Zugänge und Ansätze. Meine Auseinandersetzung mit und Kritik an den Überlegungen und Ausführungen Kuhls erfolgt in diesem Beitrag über drei Zugänge: 1. die Argumentation konkurrierender vs. sich ergänzender Ansätze; 2. die Entwicklung einer wertgeleiteten sonderpädagogischen Wirkungsforschung aus der Unterscheidung und Relationierung verschiedener Formen pädagogischen Wissens sowie der Integration verschiedener Ansätze der (Sonder)Pädagogik; 3. die gegenstandstheoretische Verortung der (Sonder)Pädagogik. Meine eigene Argumentation wird dabei in der Art verlaufen, dass ich die Einschätzung der Unergiebigkeit eines Richtungsstreites teile, Kuhls Perspektive auf eine Integration verschiedener Wissensformen jedoch als voraussetzungsreich und verkürzt kritisiere, um ausgehend von der Differenz unterschiedlicher Wissensformen eine knappe Perspektive auf deren Relationierung zu entwickeln. In diesem Zusammenhang zeigt sich dann auch, dass sich ausgehend von metatheoretischen Überlegungen Fragen der gegenstandstheoretischen Verständigung nicht in den Blick bringen lassen. Ungeachtet der im Folgenden zu entwickelnden Kritik besteht die zentrale Leistung von Kuhls Beitrag meiner Ansicht nach darin, im Kontext eines neuen Richtungsstreits in der Erziehungswissenschaft auf die Unergiebigkeit des Streits um den richtigen Weg wissenschaftlicher Erkenntnis hingewiesen zu haben und in diesem Zusammenhang in eine wechselseitige Verständigung über die Frage nach der (Sonder)Pädagogik als Wissenschaft einzutreten. Ausgehend davon verweist Kuhl nicht nur zu Recht auf die Relevanz empirischer Forschung für die (Sonder)Pädagogik, sondern insbesondere auch auf die nach wie vor aktuelle Frage nach der Bedeutung von Theorie und Empirie für die (sonder)pädagogische Praxis. 2 Integration statt Konkurrenz Ausgehend von der „Frage nach dem richtigen Weg zur Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis“ (S. 2) kommt Kuhl (2019) in einem historischen Abriss wissenschaftstheoretischer/ wissenschaftlicher Kontroversen zu dem Schluss, „dass das Konkurrieren wissenschaftlicher Ansätze meist nicht zum vollständigen Triumph einer Seite, sondern vielmehr zu Synthese und Weiterentwicklung führt“ (S. 3) und entwickelt damit das zentrale Motiv der darauf folgenden Überlegungen: Statt der unproduktiven Konkurrenz und Dogmatik sich als wechselseitig ausschließend begreifender Ansätze geht es um VHN 2 | 2019 154 ANDREAS KUHN Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE die Integration sich ergänzender Ansätze mit der Perspektive, dass „langfristig […] durch eine Weiterentwicklung und Synopse der verschiedenen Ansätze ein neuer und erklärungsmächtiger Ansatz entstehen“ kann (S. 3). Unabhängig davon, ob man Kuhls Ausführungen eher geschichtsteleologisch, -affirmativ, normativ oder doch lediglich exemplarisch liest, erlangen sie ihre Plausibilität im Wesentlichen durch die Ausblendung alternativer Einwicklungen und Darstellungen. So lautet die „Bilanz der Paradigmendiskussion“ (Benner et al., 1990) in der Erziehungswissenschaft, die in den 1990er Jahren verschiedentlich gezogen wurde, keineswegs Integration statt Konkurrenz. Zwar geht auch die Bilanzierungsdebatte von der Unproduktivität des Richtungsstreites aus, jedoch wird hier die Differenz pädagogischer Wissensformen statt der Herstellung von Einheit betont: „Statt der Auseinandersetzung über die alten Programme von Wissenschaft kann eine gestiegene Aufmerksamkeit für unterschiedliche Wissensformen registriert werden, bei der von vornherein nicht mehr damit gerechnet wird, mit Einheitsformeln die Differenzen auflösen zu können. Das gilt nicht nur für die Unterschiede in der Forschungsmethodologie, sondern auch für die Verknüpfungen der pädagogischen Theorie mit ethischen Positionen. So […] tritt an die Stelle der ‚großen Erzählungen‘ und der bekannten Sehnsucht nach ‚Ganzheit‘ oder ‚Einheit‘ der Pluralismusbegriff “ (Oelkers & Tenorth, 1991, S. 14). Vor diesem Hintergrund zeigen sich dann auch unterschiedliche Schwierigkeiten in Kuhls Argumentationsfigur Integration statt Konkurrenz. Das, was Kuhl als Notwendigkeit der Geschichte darstellt, erweist sich bei näherem Hinsehen als voraussetzungsreiche Option. So folgt nicht nur der Streit um die recht verstandene Wissenschaft dem einheitswissenschaftlichen Ideal des „richtigen Weges zur Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis“, sondern auch die Perspektive auf eine Integration der unterschiedlichen Zugänge, wie sie im Kontext des Richtungsstreites unter anderem von Wolfgang Klafki, im Anschluss an Jürgen Habermas, entwickelt werden (Benner, 2001; Benner et al., 1990). In diesen Kontext gehören ebenfalls weitere integrationswissenschaftliche Konzeptionen von Erziehungswissenschaft, wie sie unter anderem von Roth oder Thiersch entwickelt werden (Benner, 2001). Während sich die Debatte um eine Unterscheidung von Wissensformen so insbesondere im Kontext des Richtungsstreits an metatheoretischen, methodologischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen orientiert, gewinnen seit den 1990er Jahren Modelle an Bedeutung, die entlang der Unterscheidung von Profession und Disziplin stärker zwischen erziehungswissenschaftlichem Wissen und pädagogischem Wissen unterscheiden (Benner & Brüggen, 2000; Vogel, 1997; Vogel, 2016; Bellmann, 2011; Moser, 2003; Neumann, 2010; Meseth et al., 2016). Insgesamt werden also ganz unterschiedliche Unterscheidungen von Wissensformen entwickelt, von denen sich Kuhl systematisch auf zwei bezieht (Klauer und Klafki), die sich an erkenntnistheoretischen Überlegungen im Kontext der Paradigmendiskussion orientieren. Die Frage nach der Unterscheidung sowie dem Verhältnis von erziehungswissenschaftlichem Wissen (Disziplin) und pädagogischem Wissen (Profession) berührt Kuhl mit der Verortung der Sonderpädagogik im Rahmen präskriptiver Pädagogik implizit, entwickelt sie jedoch nicht systematisch. Mit der Konzeption der Sonderpädagogik als präskriptiver Pädagogik votiert Kuhl für eine starke Koppelung von Disziplin und Profession sowie für die Integration/ Einheit vonTheorie und Empirie mit Blick auf die Gestaltung von Praxis. Die Möglichkeit einer Perspektive auf die Integration der Ansätze (Klauer und Klafki) verdankt sich dabei nicht zuletzt der Auswahl der Ansätze selbst sowie der spezifischen Form ihrer Relationierung. Dieser Zusammenhang soll im Weiteren betrachtet werden. VHN 2 | 2019 155 ANDREAS KUHN Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE 3 Klafki und Klauer - wertgeleitete Wirkungsforschung Ausgehend von der grundlegenden argumentativen Figur Integration statt Konkurrenz (sowie den dargestellten Voraussetzungen einer solchen Perspektive) gestaltet Kuhl (2019) die Entwicklung einer wertgeleiteten Wirkungsforschung konkret in drei Schritten: 1. Unterscheidung und Relationierung deskriptiver, normativer und präskriptiver Forschung; 2. Bestimmung des Gegenstandes; 3. Integration unterschiedlicher Zugänge und Begrenzung des Geltungsanspruchs. In diesem Zusammenhang folgt meine weitere Auseinandersetzung mit Kuhls Argumentation zuerst der Frage nach der Unterschiedlichkeit und Vereinbarkeit der Zugänge, dann dem Wissenschaftsverständnis einer wertgeleiteten Wirkungsforschung, um sich anschließend den gegenstandstheoretischen Überlegungen zu widmen. Während Kuhl (2019) die Unterscheidung deskriptiver, normativer und präskriptiver Forschung ausführt und damit sein Verständnis von Sonderpädagogik als Wirkungsforschung grundlegt, wird die an Klafki anschließende Unterscheidung eines historisch-hermeneutischen, eines empirischen und eines gesellschafts- und ideologiekritischen Ansatzes eher knapp entwickelt. Die Möglichkeit einer Perspektive auf eine Integration der beiden Ansätze folgt dabei einer beiden Ansätzen gemeinsamen, spezifischen Auffassung einer handlungs- und praxisanleitenden Konzeption wissenschaftlicher Pädagogik, die auch Kuhl teilt. An der Stelle, an der bei Klauer (1973) deskriptive und normative Aussagen in einer präskriptiven pädagogischen Forschung zusammenkommen, steht bei Klafki (1985) der Zusammenhang von Empirie und Hermeneutik im emanzipatorischen Erkenntnisinteresse einer gesellschafts- und ideologiekritischen Pädagogik bzw. Didaktik. In diesem Sinne gehen beide Ansätze von einem technologischen Verständnis pädagogischer Einwirkung aus, das einem empirisch gewonnenen nomologischen Wissen folgt (Benner, 2001) und im Falle der kritisch-konstruktiven Didaktik bzw. der kritisch-emanzipatorischen Pädagogik seine Legitimation vom Ziel der Emanzipation her erfährt. Das markiert denn auch die Stelle, an der sich die emanzipatorische Pädagogik in der Dialektik der Aufklärung verfängt und damit genauso zum Gegenstand pädagogischer Kritik wird wie die technologischen Wirkungsvorstellungen einer am kritischen Rationalismus orientierten empirischen Pädagogik (Benner, 2001; Moser, 2003). Was in der Betonung der Gemeinsamkeiten der Ansätze von Klafki und Klauer freilich aus dem Blick gerät, ist, dass sowohl Klafki (1985) mit der Frage nach dem Zusammenhang von Empirie und Hermeneutik als auch die habermassche Interessenlehre (Habermas, 1973), als zentrale Referenz Klafkis, die Möglichkeit einer (sauberen) Unterscheidung deskriptiver, normativer und präskriptiver Aussagen selbst grundlegend in Frage stellen. Es ist keineswegs abwegig, das Wissenschaftsverständnis einer sonderpädagogischen Wirkungsforschung, wie es Kuhl (2019) im Anschluss an Klauers Überlegungen zu einer Unterscheidung deskriptiver, normativer und präskriptiver Forschung entwickelt, als unvereinbar mit den Überlegungen einer kritisch-emanzipatorischen Pädagogik im Sinne Klafkis zu bezeichnen. In diesem Sinne ist Dederich zuzustimmen, wenn er schreibt: „Eine Synthese würde einen übergeordneten, beide Orientierungen umfassenden Logos - ein weitgehend akzeptiertes, in sich kohärentes System von Regeln, Begriffen, Verfahrensweisen usw. - voraussetzen. Angesichts der z. T. erheblichen Differenzen ist aber nicht ersichtlich wie ein solcher Logos aussehen könnte“ (Dederich, 2017, S. 32). So geht die habermassche Interessenlehre gerade von einer Kritik des positivistischen Wissenschaftsverständnisses aus, wie es sich bei Kuhl z. B. in der Auffassung zeigt, Empirie werde benötigt, „um zu prüfen, ob Theorien und Wirklichkeit übereinstimmen“ (Kuhl, 2019, S. 3). VHN 2 | 2019 156 ANDREAS KUHN Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE Pädagogische Wirkungsforschung bezieht sich, auch in ihren deskriptiven Zugängen, nicht im Sinne einer reinen Anschauung auf einen positiv gegebenen Gegenstand der Pädagogik oder nähert sich diesem durch Verifikation und Falsifikation theoretischer Annahmen immer mehr an. Vielmehr bringt sie ihren Gegenstand im Rahmen impliziter und/ oder expliziter methodologischer, gegenstandstheoretischer und sozialtheoretischer Vorannahmen selbst hervor (Neumann, 2010; Benner, 2001). Und diese Vorannahmen sind selbst prinzipiell nicht empirisch überprüfbar - vielmehr konstituieren sie erst den Gegenstand eben durch eine bestimmte Form der Anschauung. Die Behauptung der Möglichkeit einer Unterscheidung deskriptiver, normativer und präskriptiver Forschung verdeckt diesen Zusammenhang mehr, als dass sie ihn (auf-)klärt. Bereits die spezifische Auffassung einer präskriptiven Pädagogik als Integration des probabilistischen Wissens einer deskriptiven Pädagogik über komplexe Ursache-Wirkungs- Zusammenhänge einerseits und einer normativen Festlegung von Erziehungszielen und -zwecken andererseits verweist auf spezifische gegenstandstheoretische Vorannahmen. Gerade das Wissen einer deskriptiven (scheinbar wertfreien) Pädagogik enthält normative Implikationen insbesondere bezüglich der Frage nach der Art und Weise pädagogischer Einwirkungen, die nicht ohne Weiteres mit traditionellen, aber auch aktuellen Vorstellungen pädagogischer Wirksamkeit zusammengehen. 4 Gegenstandstheoretische Überlegungen Ausgehend von der allgemeinen Bestimmung des Gegenstandsbereiches der Pädagogik als „gezielte Beeinflussung der Weltaneignung unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen […] bei besonderer Beachtung der institutionellen Erziehung“ (Kuhl, 2019, S. 5), befasse sich Sonderpädagogik, so Kuhl, als eine Pädagogik unter erschwerenden Bedingungen mit dem Zusammenhang von Behinderung, erschwerten Aneignungsmöglichkeiten und der resultierenden Notwendigkeit besonderer Unterstützung. Während die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Kuhls durchaus auf unterschiedliche (kontroverse und als integrierbar angenommene) Konzeptionen von Wissenschaft verweisen, fällt im Rahmen der gegenstandstheoretischen Ausführungen auf, dass hier jeglicher Verweis auf Unterschiede und Unterscheidungen einer gegenstandstheoretischen Bestimmung von (Sonder)Pädagogik fehlt. Es scheint naheliegend, dass Kuhls (2019) gegenstandstheoretische Bestimmung der (Sonder)Pädagogik hier den bereits thematisierten Implikationen des Zusammenhangs einer als deskriptiv und präskriptiv verstandenen Forschung folgt, was sich insbesondere an dem intentional gefassten Erziehungsbegriff und an der völligen Ausklammerung einer Aufgaben- und Zweckbestimmung von Pädagogik zeigt. Im Rahmen dieser allgemeinen Bestimmung erfolgt die gegenstandstheoretische Bestimmung der Sonderpädagogik über die Bestimmung und Abgrenzung der Klientel. Kuhl schließt hier direkt an Bleidicks Bestimmung von Behinderung als intervenierende Variable im Erziehungsprozess und den „logischen Dreischritt: Behinderung als Folge von Schädigung oder funktioneller Beeinträchtigung; Behinderung der Erziehung als Erschwerung des Lernens und der sozialen Eingliederung; Erziehung der Behinderten als ganzheitlicher Prozeß der pädagogischen Förderung“ an (Bleidick, 1999, S. 95). Kuhl ignoriert hier nicht nur die Vielfalt und Differenz der Debatte um die Bestimmung des Gegenstandes der Sonderpädagogik, sondern insbesondere die seit der Einführung des Behinderungsbegriffs vielfältig vorgetragenen Probleme und Schwierigkeiten, die mit einer Bestimmung der Sonderpädagogik über die Beschreibung ihrer Klientel entlang eines vor- VHN 2 | 2019 157 ANDREAS KUHN Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE und außerpädagogisch bestimmten, personbezogenen Behinderungsbegriffs einhergehen (Moser, 2003). Hier zeigt sich: Die Debatte um die Unterscheidung sowie die Integration oder Relationierung unterschiedlicher Wissensformen leistet keinen Beitrag zur Klärung gegenstandstheoretischer Frage- und Problemstellungen. Vielmehr bringen unterschiedliche Wissensformen durch ihre gegenstandskonstitutiven Effekte Fragen und Probleme mit sich, die sich selbst nicht auf der Ebene der Metatheorie beantworten lassen, sondern einer gegenstandstheoretischen Reflexion bedürfen. Entsprechend formulieren Benner et al. in der „Bilanz zur Paradigmendiskussion“: „Die Abstimmungsproblematik zwischen erziehungswissenschaftlicher Forschung und pädagogischer Handlungstheorie übersteigt den Horizont metatheoretischer Überlegungen und methodologischer Reflexionen, bezieht sie sich doch zugleich auf die Verständigungsproblematik über die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns und die von hierher an pädagogische und erziehungswissenschaftliche Aussagen zu stellenden Anforderungen“ (Benner et al., 1990, S. 72). In diesem Sinne lässt sich die gegenstandstheoretische Debatte in der Verständigung der Frage nach der (Sonder)Pädagogik als Wissenschaft nicht einfach ignorieren - dies gilt umso mehr, wenn über den Gegenstand selbst keine Einigkeit besteht. 5 Fazit Kuhls (2019) Perspektive auf eine Integration unterschiedlicher Ansätze verdankt sich 1. der Annahme, dass unterschiedliche Wissensformen zu integrieren seien und grundsätzlich integrierbar sind, 2. einer Selektion dessen, was als zu integrierend in den Blick genommen wird, 3. einer Betrachtung des zu Integrierenden mit Blick auf seine Integrierbarkeit, und das heißt auch der Vernachlässigung der Aspekte, die für eine Nicht-Integrierbarkeit sprechen, 4. einer klaren Annahme, wozu die Integration dienen soll, und in diesem Zusammenhang 5. dem Ignorieren weiter Teile der gegenstandstheoretischen Verständigung der (Sonder)Pädagogik. Das geschichtsteleologische Intro sowie die Selbstverständlichkeit der Verortung der Erziehungswissenschaft als Handlungswissenschaft im Rahmen präskriptiver Pädagogik verdecken hier die Tatsache, dass die Entscheidung darüber, was als (Erziehungs-)Wissenschaft gelten soll, selbst immer eine - mithin normative - Entscheidung ist, und entlasten gleichzeitig von der argumentativen Entwicklung des eigenen Anspruchs gegenüber alternativen - nicht notwendig komplementären - Modellen und Zugängen. Kuhls Darstellung der Unproduktivität einer Konkurrenz widerstreitender Auffassungen von Wissenschaft kann hier abschließend durchaus zugestimmt werden, während seine Unterscheidung von Wissensformen gleichsam zu revidieren und zu erweitern wäre. Ausgehend insbesondere von einer zunehmenden Pluralisierung pädagogischen Wissens bzw. pädagogischer Wissensformen wäre dann die Perspektive auf eine Integration unterschiedlicher Wissensformen durch die Reflexion ihrer Differenzen und die Frage nach ihrer Relationierung zu ersetzen. Die Frage der Relationierung bezieht sich dabei sowohl auf die Frage der Transformations- und Austauschregeln (Vogel, 1997) wie auf die Pluralisierung der Formen wechselseitiger Kritik (Benner & Brüggen, 2000) zwischen unterschiedlichen Wissensformen. Im Rahmen einer so verstandenen reflexiven Erziehungswissenschaft stößt dann freilich auch die Vorstellung wissenschaftlicher Arbeitsteilung, wie sie Kuhl (2019) entwickelt, genauso an ihre Grenzen wie die Konzeption einer handlungsorientierenden und -anleitenden präskriptiven Pädagogik. In diesem Sinne kann sich Erziehungswissenschaft unter Bedingungen der Pluralisierung und Differenz von VHN 2 | 2019 158 ANDREAS KUHN Grundsatzdiskurs in der Sonderpädagogik: Die kontroverse Debatte DI E KONTROVE RSE D E BAT TE der Aufgabe der Reflexion der gegenstandskonstitutiven Effekte gegenstandstheoretischer, sozialtheoretischer und methodologischer Vorannahmen (Neumann, 2010) des eigenen Zugangs genauso wenig entlasten wie von der Frage nach dem Verhältnis zu weiteren Zugängen und Wissensformen mit Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen wechselseitiger Anschlussfähigkeit und Transformation. Literatur Bellmann, J. (2011). Jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft. In: J. Bellmann & T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter Pädagogik, 197 - 216. Wiesbaden: VS. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-93296-5_8 Benner, D. (2001). Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft. 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