Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Rezension: Gerspach, Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik. Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern
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Lars Dietrich
Rezension Gerspach, Manfred (2018): Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik. Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern Stuttgart: Kohlhammer. 231 S., € 29,–
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VHN 2 | 2019 162 REZE NSION E N Gerspach, Manfred (2018): Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik. Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern Stuttgart: Kohlhammer. 231 S., € 29,- Wie sieht pädagogische Arbeit aus, wenn das Unbewusste der menschlichen Psyche in das Verstehen und die Beziehungsgestaltung miteinbezogen wird? Manfred Gerspach bietet mit seinem Buch „Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik. Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern“ eine umfassende und gelungene Antwort auf diese Frage und nimmt Bezug auf die pränatalen bis spätadoleszenten Entwicklungsstufen. Zwar werden an verschiedenen Stellen auch Ergebnisse quantitativ-empirischer und neurologischer Forschungsarbeiten diskutiert, doch der psychoanalytische Fokus, allem voran das Szenische Verstehen gestörten Verhaltens, zieht sich als roter Faden durch das Buch. Manfred Gerspachs Monografie ist in drei Kapitel eingeteilt. Das erste beschäftigt sich mit Grundlagen psychodynamischer Theorie und Praxis hinsichtlich früh- und spätkindlicher Altersstufen, unter besonderer (und kritischer) Berücksichtigung aktuell sehr populärer oder neuentdeckter fachlicher Bezüge, etwa der der Bindungstheorie und der Neurowissenschaften in ihrer Bedeutung für die Sonderpädagogik. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf die adoleszente Entwicklungsstufe, wobei Themen wie Geschlecht, Migration und Behinderung detailliert unter die Lupe genommen werden. Das letzte (und leider auch mit Abstand kürzeste) Kapitel fasst die zentralen Konzepte psychodynamischen Verstehens zusammen, insbesondere die praktische Bedeutung und Anwendung der Container-Funktion der Pädagog/ innen anhand von praktischen Fallbeispielen. Die monografische Abhandlung ist nicht nur für den überschaubaren Kreis psychoanalytischer Expert/ innen gedacht, auch wenn für die bessere Lesbarkeit ein Grundverständnis psychoanalytischer Begrifflichkeiten sehr hilfreich ist. Tatsächlich sind die Ausführungen von Manfred Gerspach all denen wärmstens zu empfehlen, die die Existenz und Erforschung des Unbewussten als Teil pädagogischer Dynamik anerkennen. Das gilt insbesondere für Pädagog/ innen, Sozialarbeiter/ innen und andere Fachleute, die im Zuge ihrer Praxisarbeit mit Kindern oder Jugendlichen zu tun haben, durch deren Verhalten persönliche und emotionale Grenzen überschritten werden, was bei psychoanalytisch ungeschulten Personen in den meisten Fällen für ihre Klient/ innen zu retraumatisierenden Beziehungsabbrüchen führt. Abschließend soll auf die besonders gelungenen Kapitel des Buches über den Zusammenhang zwischen körperlicher/ geistiger Behinderung und menschlicher Entwicklung hingewiesen werden. Während Sigmund Freud selbst keine Anwendung der Psychoanalyse für Menschen mit Behinderungen erkannte, zeigt Manfred Gerspach nachvollziehbar auf, dass diese Personengruppen nicht nur von psychoanalytischer Arbeit profitieren können, sondern auch, dass das in unserer Gesellschaft immer noch primär durch Vorurteile geprägte Verständnis von Behinderung nur überwunden werden kann, wenn es gelingt, eine psy- VHN 2 | 2019 163 REZE NSION E N chodynamische Perspektive einzunehmen. Denn verlangsamte, eingefrorene oder regressive Entwicklungsprozesse, die bei Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung bisher auf rein biologisch-physische Defizite zurückgeführt wurden, werden äußerst überzeugend als primär durch intrapsychische, interpersonelle und institutionelle Beziehungs-Dysfunktionalitäten verursacht umgedeutet. Damit bietet das Buch „Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik. Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern“ mehr als nur eine gelungene Einführung in das Titelthema. Es wagt darüber hinaus auch einen wichtigen Vorstoß in ein thematisches Gebiet, das das Potenzial hat, psychodynamisches, psychoanalytisches und pädagogisches Verstehen entscheidend weiterzuentwickeln. Lars Dietrich, Ph. D. D-10117 Berlin DOI 10.2378/ vhn2019.art24d
