eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art27d
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2019
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Das Provokative Essay: Das Phantom der Nonkategorisierung

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Hans Wocken
Die Programmatik der Dekategorisierung wird von der Inklusionskritik gründlich missverstanden. Es geht nicht um eine totale Nonkategorisierung, sondern um die Vermeidung von Stigmatisierungen durch eine kategoriale Bescheidenheit. In der realen Inklusionsentwicklung ist nicht Dekategorisierung das Problem, sondern im Gegenteil eine enthemmte und ausufernde Hyperkategorisierung.
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171 VHN, 88. Jg., S. 171 -177 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art27d © Ernst Reinhardt Verlag DAS PROVOK ATIVE ESSAY Das Phantom der Nonkategorisierung Wider die Hyperkategorisierung im pädagogischen Umgang mit Verschiedenen Hans Wocken Oberasbach Zusammenfassung: Die Programmatik der Dekategorisierung wird von der Inklusionskritik gründlich missverstanden. Es geht nicht um eine totale Nonkategorisierung, sondern um die Vermeidung von Stigmatisierungen durch eine kategoriale Bescheidenheit. In der realen Inklusionsentwicklung ist nicht Dekategorisierung das Problem, sondern im Gegenteil eine enthemmte und ausufernde Hyperkategorisierung. Schlüsselbegriffe: Dekategorisierung, moderate Inklusion, Ressourcensteuerung The Phantom of Non-Categorization Against the Hypercategorization in the Pedagogical Approach to Different People Summary: Inclusion criticism thoroughly misunderstands the call for de-categorization. It is not a question of complete non-categorization, but of avoiding stigmatization through categorial modesty. In the development of inclusion in the real world, the problem is not de-categorization; it is, on the contrary, an uninhibited and escalating hyper-categorization. Keywords: Decategorization, moderate inclusion, resource management 1 Die „moderate“ und die „radikale“ Kategorisierung Zu jenen Themen, die zwischen den beiden Inklusionslagern „moderate“ Inklusion und „radikale“ Inklusion (Brodkorb & Koch, 2012; Felder & Schneiders, 2016) umstritten sind, gehört die sog. „Dekategorisierung“. Worum geht es bei der Dekategorisierung? Es ist durchaus hilfreich, in einem ersten Schritt zu sagen, worum es bei diesem Thema nicht geht. Dekategorisieren bezieht sich nicht auf den wissenschaftlichen Umgang mit Begriffen, Kategorien und Klassifikationen; das ist ein ganz anderes Feld. Die geistreichen erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Traktate, die bemüht werden, um den Nutzen und die Notwendigkeit von Kategorien zu demonstrieren, werden in allen Ehren gehalten, sie haben allerdings mit dem pädagogischen Problem des Dekategorisierens wenig zu tun. Dekategorisieren thematisiert in der Pädagogik den Umgang mit unterscheidbaren Anderen. Diese Rahmenthematik beinhaltet zwei unterschiedliche Problemkreise: 1) Das Problem der Ressourcensteuerung: Strittig ist der Modus der Ressourcensteuerung: Erfordert eine verlässliche und gerechte Zuteilung von zusätzlichen (sonder)pädagogischen Ressourcen notwendigerweise, dass bedürftige und anspruchsberechtigte Kinder mit Behinderung durch eine formelle Statusdiagnostik identifiziert und mit einem förmlichen Behinderungsetikett namentlich benannt werden? Oder wäre zwecks Vermeidung von möglichen Stigmatisierungseffekten auch eine unpersönliche, systemische Ressourcenzuteilung an Schulen und Klassen denkbar, die über diverse Bedarfsparameter rational begründet wird? VHN 3 | 2019 172 HANS WOCKEN Das Phantom der Nonkategorisierung DAS PROVOK ATIVE ESSAY 2) Das Problem der Handlungssteuerung: Strittig ist hier der Nutzen von Kategorien. Sind für einen angemessenen, fachlich qualifizierten (sonder)pädagogischen Umgang mit behinderten Schüler/ innen die hergebrachten Behinderungskategorien und die Zuordnung der Schüler/ innen zu den entsprechenden Förderschwerpunkten notwendig und hilfreich? Oder stiften umgekehrt Behinderungskategorien eher dazu an, die verschiedenen Schüler/ innen der gleichen Behinderungsart bzw. des gleichen Förderschwerpunktes auch unterschiedslos gleich zu behandeln und auf eine individualisierende Personalisierung des pädagogischen Umgangs zu verzichten? Auf diese beiden Grundfragen geben die widerstreitenden Inklusionskonzepte recht unterschiedliche Antworten, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Die „moderate“ Inklusion besteht nachdrücklich und uneingeschränkt auf einer individuellen Statusdiagnose einschließlich einer kategorialen Attribuierung des Förderschwerpunktes. Alle Schüler/ innen mit einem mutmaßlichen sonderpädagogischen Förderbedarf werden ausnahmslos einer sorgsamen und intensiven Förderbedarfsdiagnose unterworfen und im Falle einer positiven Feststellung durch die förmliche Vergabe eines Statusetiketts einer behinderungsspezifischen Förderkategorie zugeordnet. Die Zuweisung und Organisation besonderer Angebote, Ressourcen und Maßnahmen erfolgt streng persongebunden und setzt immer ein individuelles Behinderungslabel voraus. Kategorisierung gilt als das A und O, als die unabdingbare Voraussetzung und notwendige Bedingung für die Ressourcen- und Handlungssteuerung. In einem unerwarteten Kontrast zu dem sympathischen Konzept-Label „moderat“ betreibt die „moderate“ Inklusion im konkreten inklusiven Alltag also eine „radikale“ Kategorisierung. Die sog. „Moderaten“ sind in Wahrheit „radikale“ Kategorisierer! Sie begründen die Notwendigkeit kategorialer Diagnosen und Etiketten mit der Ermöglichung und Gewährleistung einer „passgenauen“ Förderung aufgrund fachwissenschaftlicher Kenntnisse über differenzielle Störungsbilder. Die „radikale“ Inklusion hingegen rät - erwartungswidrig zu ihrem Label - zu einer kategorialen Mäßigung und plädiert insbesondere bei den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Verhalten für eine Dekategorisierung, d. h. für einen Verzicht auf eine statusdiagnostische Etikettierung. Sie sieht deutliche Grenzen einer Dekategorisierung bei speziellen und komplexen Behinderungen aufgrund der Sozialgesetzgebung und der offensichtlichen Salienz von Beeinträchtigungen. Sie votiert daher für eine „moderate“ Dekategorisierung nur in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Verhalten, die möglichst durch eine systemische Finanzierung und Ressourcensteuerung in Verbindung mit einer Korrektur durch einen sozialraumspezifischen Index flankiert werden soll. Der partielle Verzicht auf unnötige Kategorisierungen wird vornehmlich mit der Gefahr von identitätsschädigenden Stigmatisierungen begründet (Wocken, 2015 a). Die gebräuchlichen Lagerkategorien „radikal“ und „moderat“ funktionieren also bei der Kategorisierungsfrage nicht mehr in der gewohnten Weise. Es ist eine Kontroverse mit vertauschten Rollen: Die „Radikalen“ kategorisieren „moderat“, die „Moderaten“ hingegen kategorisieren „radikal“! 2 Die maßlose Unterstellung einer „radikalen“ Dekategorisierung Keine Frage: Die Positionen sind unterschiedlich. Die Kontroverse verläuft nach dem sozialpsychologischen Drehbuch von Ingroup-Outgroup-Konflikten. Die intergruppale kognitive Verzerrung äußert sich darin, dass die „mode- VHN 3 | 2019 173 HANS WOCKEN Das Phantom der Nonkategorisierung DAS PROVOK ATIVE ESSAY rate“ Inklusion ihrem Kontrahenten entgegen seinem Selbstverständnis eine „radikale“ Position in der Kategorisierungsfrage unterstellt und anhängt. n Bernd Ahrbeck zufolge fordern die „radikalen Inklusionsbefürworter“, „alle personbezogenen sonderpädagogischen Förderkategorien abzuschaffen“ (Ahrbeck, 2011 b, S. 8). Der „radikalen“ Inklusion wird unterstellt, sie wolle die hergebrachten sonderpädagogischen Förderkategorien „weitgehend, wenn nicht gar vollständig abschaffen“ (Ahrbeck, 2014, S. 8). Durch derlei Formulierungen wird aus Dekategorisierung unter der Hand tendenziell eine totale Nonkategorisierung. Von dem suggerierten, übersteigerten Feindbild einer totalen Dekategorisierung kann sich dann die „moderate“ Inklusion freundlich absetzen. n Als Motiv für das Dekategorisierungsbemühen der „radikalen Inklusion“ wird von der Inklusionskritik nicht etwa die Vermeidung identitätsschädigender Stigmatisierungseffekte angegeben. Im Gegenteil. Die „moderate“ Inklusion wirft der „full inclusion“ eine „übertriebene Angst“ und „überzogene Sorge“ (Ahrbeck, 2011 a, S. 73) vor Abwertung und Ausgrenzung vor. Die Gefahr von Stigmatisierungsschädigungen wird also eher bagatellisiert und heruntergespielt: „Was ist so unerträglich an einem besonders langsamen und wenig erfolgreich lernenden Kind, dass es sich verbietet, seine Schwierigkeiten kategorial zu benennen? “ (ebd.). Diese Haltung läuft auf eine fahrlässige Verniedlichung und wenig empathische Ignoranz von Leiden hinaus, die durch Stigmata verursacht werden können. n Dekategorisierung sei letztlich eine Realitätsverweigerung, eine „wortmagische Verleugnung von Leiden“ (Niedecken, 2000, zit. nach Ahrbeck, 2011 a, S. 76). Wenn Behinderungen nicht mehr etwas Besonderes, vom Normalen Abweichendes sind, sondern lediglich eine Variante einer unendlichen Vielfalt menschlichen Andersseins, dann werde ihre Eigenart, ihre besondere Individualität auch nicht mehr wahrgenommen. Dekategorisierung habe die Unsichtbarkeit von Besonderheiten und Besonderungen zur Folge. Und wo die Besonderheit von Behinderten nicht mehr wahrgenommen werde, erführen diese auch keine hervorgehobene Beachtung und Aufmerksamkeit mehr. Inklusive Pädagogik tendiere zu einer „wohlwollenden Vernachlässigung“ (Rappaport, 1985, zit. nach Ahrbeck, 2014, S. 47). „Wenn Behinderung durch Begriffsentsorgung unsichtbar gemacht wird, bleiben behinderte Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen auf der Strecke. Die Qualität der pädagogischen Arbeit sinkt“ (Ahrbeck, 2011 b, S. 8). Mit anderen Worten: Dekategorisierung führt zu einer sträflichen (sonder)pädagogischen Vernachlässigung behinderter Kinder! Die Anklagen und Vorwürfe wiegen schwer. Sie wären durchaus geeignet, über die Dekategorisierung den Stab zu brechen. Aber: Die aufgelisteten Kritikpunkte sind in dieser Form maßlose Übertreibungen! Diese beklagte und kritisierte Dekategorisierung gibt es so gar nicht, weder in der Theorie und schon gar nicht in der Praxis. Das vorgeblich „radikale“ Dekategorisierungsverständnis der „radikalen Inklusion“ ist ein phantasiertes Trugbild, ein imaginiertesPhantom.DasDekategorisierungskonzept der sog. „radikalen Inklusion“ ist gerade nicht genuin „radikal“, sondern die „Radikalität“ der „radikalen Dekategorisierung“ ist eine Erfindung, ein Produkt der „moderaten Inklusion“. Die unterstellte Radikalität ist - der sozialpsychologischen Ingroup-Outgroup- Kontrastierung folgend (Wocken, 2015 a) - nichts weiter als die verzerrte, radikalisierte Wahrnehmung eines intergruppalen Konflikts und ein Ausdruck des Bedürfnisses, sich von einem Kontrahenten durch eine Radikalisierung der gegnerischen Position, durch ein projektives Feindbild in einer selbstgefälligen Wei- VHN 3 | 2019 174 HANS WOCKEN Das Phantom der Nonkategorisierung DAS PROVOK ATIVE ESSAY se abzugrenzen. Die suggerierte Radikalität der „radikalen Inklusion“ in der Dekategorisierungsfrage ist ein Machwerk der „moderaten Inklusion“. Dekategorisierung ist - in der radikalisierten Interpretation durch die „moderate Inklusion“ - ein Phantom; ein nützliches Phantom des Schreckens, das brave Bürger zurückschrecken lässt und in die Arme der „moderaten Inklusion“ treibt. Sind die Vorhaltungen der Inklusionskritik gegen die Dekategorisierung begründet und gerechtfertigt? Katharina Walgenbach (2018) hat jüngst die einschlägige Fachdebatte zur Dekategorisierung systematisch rekonstruiert. In die umfängliche Recherche wurden die einschlägigen Publikationen von Rainer Benkmann, Hans Eberwein, Andreas Hinz, Andreas Köpfer und Hans Wocken einbezogen. Der summarische Befund ihrer Analyse soll durch einige signifikante Textpassagen deutlich gemacht werden: n „Die Kategorie Behinderung selbst wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt“ (Walgenbach, 2018, S. 23). n „Wie ihre Kritikerinnen und Kritiker sind die Vertreterinnen und Vertreter des Dekategorisierungsansatzes der Ansicht, dass [Wissenschaft und pädagogische Praxis] Kategorien brauchen, um sich den Gegenstand zu erschließen und Phänomene sichtbar zu machen, das heißt, sie auf den Begriff zu bringen. Die Autoren des Dekategorisierungsansatzes wenden sich folglich gegen stigmatisierende Klassifikationen bei gleichzeitiger Anerkennung eines (pädagogischen) Problems“ (ebd., S. 33). n „Das wirklich Provozierende am Ansatz der Dekategorisierung ist also die Hinterfragung des Modus der Organisation (sonder)pädagogischer Interventionen. Der kritische Impuls besteht weniger in einem ‚Verzicht auf Kategorien‘ - dies könnte man getrost als Gedankenspielerei ‚radikaler Inklusionisten‘ abtun. Es geht vielmehr um das Plädoyer, die personbezogene Förderung in einen systemischen Förderansatz zu transformieren“ (ebd., S. 27). Die ausgewählten Zitate aus der rekonstruktiven Expertise von Walgenbach sind ein qualifizierter Beleg dafür, dass die Unterstellung einer „radikalen“ Dekategorisierung nichts weiter als ein irrlichtendes Phantom ist. Die Dekategorisierungskritik beruht auf fehlerhafter und selektiver Literaturrezeption, behauptet eine vermeintliche sonderpädagogische Vernachlässigung von Kindern mit Behinderungen und schürt - unbedacht oder gar gewollt - antiinklusive Ressentiments. In einer früheren Arbeit habe ich die maßlosen Unterstellungen der „moderaten Inklusion“ an die Adresse der Dekategorisierung mit folgenden Worten zurückgewiesen: „Eine ‚totale‘ Dekategorisierung ist weder erkenntnistheoretisch noch sozialpsychologisch möglich und machbar. Die Unterstellung der Dekategorisierungskritik, es ginge bei der Dekategorisierung um ‚Unsichtbarmachung‘ von Behinderungen und um ‚Begriffsentsorgung‘ (Ahrbeck, 2011; Geyer, 2014) ist ein künstlicher Popanz, den es real gar nicht geben kann! Die Interpretation von Dekategorisierung als Kategorienblindheit oder soziales Versteckspiel beruht auf einem sozialpsychologisch uninformierten Missverständnis“ (Wocken, 2015 a, S. 106f.). Dekategorisierung und Nonkategorisierung unterscheiden sich, sie meinen Verschiedenes. Dekategorisierung heißt nicht Nonkategorisierung; sie meint: weniger, sparsamer, moderater, achtsamer, taktvoller, respektvoller. Die Inklusionskritiker werfen aber beides in einen Topf - zwecks Radikalisierung der „radikalen Inklusion“. Die Inklusionskritik verteufelt die Dekategorisierung als totale Nonkategorisierung. Da wird recht ungnädig auf die Dekategorisierung eingedroschen, wobei in Wirklichkeit die totale Nonkategorisierung die argumentative Hintergrundfolie abgibt. VHN 3 | 2019 175 HANS WOCKEN Das Phantom der Nonkategorisierung DAS PROVOK ATIVE ESSAY 3 Die maßlose Kategorisierung von (sonder)pädagogischen Förderbedarfen Während die „moderate Inklusion“ der „radikalen Inklusion“ - zu Unrecht! - eine maßlose Dekategorisierung oder gar Nonkategorisierung unterstellt, praktiziert sie selbst eine maßlose Kategorisierung von (sonder)pädagogischen Förderbedarfen. Dieser Vorwurf ist empirisch bestens belegbar anhand der Parameter Exklusionsquote und Inklusionsquote. Exklusionsquote meint den prozentualen Anteil jener Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, der in Sonder- oder Förderschulen separiert ist. Im Schuljahr 2008/ 2009, also im Jahr vor der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention, betrug in Deutschland die Exklusionsquote 4,9 %, im Schuljahr 2017/ 2018 4,3 %. Innerhalb von neun Jahren konnte also die Separation von Schüler/ innen mit Behinderung gerade mal um magere 0,6 % vermindert werden. Ein klägliches Ergebnis einer inklusiven Systementwicklung. Inklusionsquote meint hier den prozentualen Anteil von Schüler/ innen mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf in allen allgemeinen Schulen (Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule). Der Anteil dieser diagnostizierten und etikettierten „Inklusionskinder“ stieg in Deutschland von 18,4 % im Schuljahr 2008/ 2009 auf satte 41,7 % im Schuljahr 2017/ 2018. Eine imponierende Steigerung der Inklusionsquote! Sie könnte ein berechtigter Anlass für gehörigen Stolz auf messbare Fortschritte beim Aufbau eines inklusiven Bildungssystems sein, wenn da nicht zugleich ernsthafte, zweifelnde Fragen nach den Gründen dieser „Inklusionsexplosion“ wären. Die große Frage ist: Woher kommen denn all die neuen inkludierten Schüler/ innen mit (sonder)pädagogischem Förderbedarf ? Aus den Sonderschulen können die neuen Inklusionsschüler nämlich nicht kommen, denn die sind ja weiterhin recht gut gefüllt. Die Schülerzahl in den Förderschulen ist ja, wie dargestellt, nur um bescheidene 0,6 % zurückgegangen. Auf das Rätsel gibt es eine eindeutige und klare Antwort: Die „neuen“ Inklusionsschüler/ innen sind jene Schüler/ innen in allgemeinen Schulen, die auch „Problemschüler“, „Risikoschüler“ (PISA) oder „von Behinderung bedrohte Schüler“ (Deutscher Bildungsrat) genannt werden. Diese „neuen“ Inklusionsschüler hat es immer schon in allgemeinen Schulen gegeben. Während sie aber in früheren, vorinklusiven Zeiten als namenlose, nicht etikettierte Schüler in den Bänken der allgemeinen Schulen hockten, sind es nun in Zeiten der Inklusion förmlich diagnostizierte und kategorial etikettierte „Inklusionsschüler“! Die „neuen“ Inklusionsschüler sind also die alten, wohlbekannten Problem- und Risikoschüler. Es gibt mithin gar keine wundersame Vermehrung von realen „Inklusionskindern“, sondern das wahre Geheimnis der explosiven Inklusionsentwicklung ist eine massenhafte, völlig enthemmte Diagnostizierung, Etikettierung und Kategorisierung von schwachen und schwierigen Schülern. Die „neuen“ Inklusionskinder sind „alte“ Regelschüler, die aber nun per kategorialer Diagnose als Schüler/ innen mit (sonder)pädagogischem Förderbedarf gehandelt werden. Die „neuen“ Inklusionskinder werden „konstruiert“! Ich benenne die beschriebenen Entwicklungen als „Separationsstillstand“ in den Förderschulen und als „Etikettierungsschwemme“ in den allgemeinen Schulen (Wocken, 2015 b). Beide Entwicklungen, den Separationsstillstand und die Etikettierungsschwemme, bewerte ich als Ausdruck einer „verkehrten Inklusion“ (Wocken, 2014). Der Separationsstillstand ist ein empirisches Indiz für eine fehlende Minimierung von Separation, die Etikettierungsschwemme ist ein Indiz für eine Maximierung der Kategorisierung. VHN 3 | 2019 176 HANS WOCKEN Das Phantom der Nonkategorisierung DAS PROVOK ATIVE ESSAY Der geistige Ziehvater dieser verfehlten Inklusionsentwicklung ist ohne Frage die „moderate Inklusion“, ist ihr kategorisches Votum für Kategorisierung. Wer Kategorisierung predigt, muss sich nicht wundern, wenn er auch Kategorisierung erntet! Für die Maßlosigkeit der Statusdiagnostik und die grassierende Etikettierungsschwemme ist die „moderate Inklusion“ maßgeblich verantwortlich, weil sie Kategorisierung zum Programm erhoben hat. Die lautstark vorgetragene Befürchtung, Dekategorisierung würde Behinderungen „unsichtbar“ machen und „entsorgen“, erweist sich angesichts der real existierenden „Inklusion“ als gegenstandslos, unbegründet, wirklichkeitsfremd, absurd. Die „moderate Inklusion“ hat auf der Vorderbühne Angst vor Dekategorisierung verbreitet, aber auf der Hinterbühne gleichzeitig eine Inklusion, die diesen Namen verdient, subversiv untergraben und destruktiv hintergangen. Eine perfekte Vertuschung der wahren Verhältnisse und eine Perversion der Inklusion! Inklusion will eine diskriminierungsfreie Gemeinsamkeit der Verschiedenen. Die „moderate“ Inklusion produziert hingegen eine kategoriale Spaltung der Verschiedenen und eine Stabilisierung der Aussonderung in Sonderschulen. Die Inklusionskritik diskutiert das falsche Problem. Nicht Dekategorisierung ist das Problem, sondern die Hyperkategorisierung. Nutznießer dieser expansiven Kategorisierungspraxis ist die Sonderpädagogik. Die „moderate Inklusion“ hat die Reviere der Sonderpädagogik erheblich vergrößert. Das Territorium der Sonderpädagogik ist dank der zugewanderten „Inklusionskinder“ größer geworden, und die Zuständigkeit der Sonderpädagogik wurde um weitere Klientele gesteigert. Die triumphale „Leistung“ der „moderaten Inklusion“ hat aus meiner Sicht gravierende, nachhaltige Schädigungen der allgemeinen Pädagogik und der Inklusion zur Folge. Die „Sonderpädagogisierung“ der allgemeinen Schule hat die Normalitätstoleranz gegenüber Andersartigkeit und Verschiedenheit nicht gesteigert, sondern im Gegenteil erheblich verringert. Die Sonderpädagogisierung hat den einseitigen Defizitblick in die allgemeine Schule hineingetragen. Auch geringfügige Schwächen, Abweichungen und Auffälligkeiten sind nun stets gefährdet, als „sonderpädagogischer Förderbedarf “ identifiziert und kategorial ausgewiesen zu werden. Über dem Alltag von Schüler/ innen ohne Behinderung, aber mit allfälligen Entwicklungs- und Lernproblemen schwebt fortan allgegenwärtig das Damoklesschwert der Kategorisierung. Helmut Reiser hat diese Praxen als eine „sonderpädagogische Verseuchung der allgemeinen Schule“ (Reiser, 1989, S. 163) gegeißelt. Eine namenlose, unbescholtene Existenz wird für alle Grenzgänger, die sich am Rande der Normalität befinden, trotz Inklusion zunehmend schwierig. Sie müssen fürchten, diagnostisch identifiziert zu werden und dann auf der Brust eine kategoriale Erkennungsmarke tragen zu müssen. Das Fazit der empirischen Beweisaufnahme und theoretischen Interpretation kann kurz und knapp gefasst werden: Nicht Dekategorisierung ist das wahre Problem der Inklusionsentwicklung, sondern die maßlose Hyperkategorisierung, die von der „moderaten“ Inklusion zu verantworten ist. Literatur Ahrbeck, B. (2011 a). Der Umgang mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer. Ahrbeck, B. (2011 b). Das Gleiche ist nicht für alle gleich gut. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 286, 8. Dezember. Ahrbeck, B. (2014). Inklusion. Eine Kritik. Stuttgart: Kohlhammer. Brodkorb, M. & Koch, K. (Hrsg.) (2012). Das Menschenbild der Inklusion. Erster Inklusionskongress M-V. Dokumentation. Rostock: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern. VHN 3 | 2019 177 HANS WOCKEN Das Phantom der Nonkategorisierung DAS PROVOK ATIVE ESSAY Felder, M. & Schneiders, K. (2016). Inklusion kontrovers. Herausforderungen für die soziale Arbeit. Schwalbach: Wochenschau. Reiser, H. (1989). Probleme der Kooperation zwischen allgemeinen Pädagogen und Sonderpädagogen. In Der Senator für Schulwesen, Berufsausbildung und Sport (Hrsg.), Sonderpädagogik heute - Bewährtes und Neues, 146 -164. Berlin: Selbstverlag. Walgenbach, K. (2018). Dekategorisierung - Verzicht auf Kategorien? In O. Musenberg, J. Riegert & T. Sansour (Hrsg.), Dekategorisierung in der Pädagogik. Notwendig und riskant? , 11 -42. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Wocken, H. (2014). Verkehrte Inklusion: Über die ungerührte Fortsetzung der Separation und die ungeziemende Eingemeindung der Nichtbehinderten. Eine statistische Analyse der schulischen Inklusionsentwicklung in Bayern. In H. Wocken, Bayern integriert Inklusion. Über die schwierige Koexistenz widersprüchlicher Systeme, 63 -81. Hamburg: Feldhaus Verlag. Wocken, H. (2015 a). Dekategorisierung: Eine Einladung zur kategorialen Bescheidenheit. Sozialpsychologische Grundlagen und inklusionspädagogische Konsequenzen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 84 (2), 100 -112. https: / / doi.org/ 10.2378/ vhn20 15.art12d Wocken, H. (2015 b). Die verführerische Faszination der Inklusionsquote. Ein Aufschrei gegen die Etikettierungsschwemme und den Separationsstillstand. In H. Wocken, Am Haus der inklusiven Schule. Anbauten - Anlagen - Haltestellen, 45 -65. Hamburg: Feldhaus Verlag. Anschrift des Autors Prof. Dr. Hans Wocken Frühlingstraße 13 D-90522 Oberasbach E-Mail: hans-wocken@t-online.de