eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art41d
101
2019
884

Fachbeitrag: Profil von kommunikativen, sozialen und motorischen Kompetenzen blinder Kinder

101
2019
Klaus Sarimski
Markus Lang
Mithilfe einer Online-Version der „Vineland Adaptive Behavior Scales“ (VABS-II) wurden bei 25 blinden Kindern im Kleinkind- und Vorschulalter die kommuniktiven, sozialen und motorischen Kompetenzen erhoben. Bei einem durchschnittlichen Lebensalter von 49 Monaten ergaben sich in sieben Teilskalen Entwicklungsalterswerte zwischen 23 und 33 Monaten (Entwicklungsquotient: 52–70). Dieses Gesamtergebnis entspricht teilweise dem vorliegenden Forschungsstand. Im Vergleich einzelner Entwicklungsbereiche zeigen sich allerdings Abweichungen. Auffallend ist insbesondere das unerwartet niedrige Entwicklungsniveau im Bereich der kommunikativen Fähigkeiten (v.a. expressive Sprachfähigkeiten). Die diesbezüglichen Befunde werden diskutiert und führen zur Schlussfolgerung, dass sich die VABS-II nur eingeschränkt zur Entwicklungsdiagnostik blinder Kinder in den ersten sechs Lebensjahren eignen.
5_088_2019_4_0004
278 VHN, 88. Jg., S. 278 -290 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art41d © Ernst Reinhardt Verlag Profil von kommunikativen, sozialen und motorischen Kompetenzen blinder Kinder Eine explorative Untersuchung mit den Vineland-Skalen Klaus Sarimski, Markus Lang Pädagogische Hochschule Heidelberg Zusammenfassung: Mithilfe einer Online-Version der „Vineland Adaptive Behavior Scales“ (VABS-II) wurden bei 25 blinden Kindern im Kleinkind- und Vorschulalter die kommunikativen, sozialen und motorischen Kompetenzen erhoben. Bei einem durchschnittlichen Lebensalter von 49 Monaten ergaben sich in sieben Teilskalen Entwicklungsalterswerte zwischen 23 und 33 Monaten (Entwicklungsquotient: 52 - 70). Dieses Gesamtergebnis entspricht teilweise dem vorliegenden Forschungsstand. Im Vergleich einzelner Entwicklungsbereiche zeigen sich allerdings Abweichungen. Auffallend ist insbesondere das unerwartet niedrige Entwicklungsniveau im Bereich der kommunikativen Fähigkeiten (v. a. expressive Sprachfähigkeiten). Die diesbezüglichen Befunde werden diskutiert und führen zur Schlussfolgerung, dass sich die VABS-II nur eingeschränkt zur Entwicklungsdiagnostik blinder Kinder in den ersten sechs Lebensjahren eignen. Schlüsselbegriffe: Entwicklungsdiagnostik, blinde Kleinkinder, adaptive Kompetenzen Profile of Communicative, Social, and Motor Skills of Blind Children An Explorative Study with the Vineland Scales Summary: The parents of 25 blind children in the toddler and preschool age group reported on the communicative, social and motor competencies using an electronic version of the “Vineland Adaptive Behavior Scales”. The average child age was 49 months; a developmental age of between 23 and 33 months (developmental quotient: 52 - 70) was measured on seven subscales. These results are partially consistent with the current state of research. The profile of developmental domains reveals significant intra-individual variability. Particularly striking is the unexpectedly low level of development in the area of communication skills (especially expressive language skills). The findings are discussed and lead to the conclusion that VABS-II is only partially recommended for the developmental assessment of blind children in the first six years of life. Keywords: Developmental assessment, blind children, adaptive competencies FACH B E ITR AG 1 Besonderheiten der Entwicklung blinder Kinder Die visuelle Wahrnehmung stellt in der kindlichen Entwicklung einen zentralen Zugang zur Welt dar. Sehen motiviert und steuert Kommunikationsprozesse sowie die gezielte, eigenständige Auseinandersetzung mit der sozialen und dinglichen Umwelt und schafft auf diese Weise vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten. Ein Kind, das von Geburt an blind ist, muss lernen, das Fehlen von visuellen Eindrücken durch Informationen aus den anderen Sinneskanälen auszugleichen. Die Eindrücke, die auf diesem Wege gewonnen werden, sind jedoch qualitativ anderer Art. Während VHN 4 | 2019 279 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG ein sehendes Kind beiläufig eine Fülle von Informationen aufnimmt, indem es umherschaut, Dinge inspiziert, Personen und ihre Handlungen beobachtet, ist ein blindes Kind darauf angewiesen, aufmerksam zu lauschen, um akustische Informationen aus der Umgebung aufzunehmen, ihren Ort zu lokalisieren, ihnen Gegenstände oder Personen sowie Bedeutung zuzuordnen; Berührungen wahrzunehmen und sich durch aktives Ertasten einen taktilen Eindruck davon zu verschaffen, was es in seiner Umwelt vorfindet. In den meisten Fällen handelt es sich dabei nicht um simultane, sondern um sequenzielle Eindrücke; das heißt, das Kind muss akustische und taktile Informationen miteinander in Verbindung bringen und zu einem „Gesamtbild“ integrieren. Einzelinformationen zusammenzusetzen benötigt mehr Zeit und wird erst dann einfacher, wenn ein Kind bereits Konzepte über die Dinge und Sachverhalte seiner Umwelt erworben hat oder sein Sprachverständnis so weit entwickelt ist, dass es von Erklärungen seiner Bezugspersonen profitiert (Lang, Hofer & Beyer, 2017). Diese Besonderheiten der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen über die Umwelt erklären, dass sich blinde Kinder im frühen Kindesalter viele Kompetenzen erst deutlich später aneignen als Kinder mit unbeeinträchtigtem Sehvermögen (Heyl, 2017). Das spiegelt sich auch in den Ergebnissen von Entwicklungsstudien wider. Hatton, Bailey, Burchinal und Ferrell (1997) berichteten über die Untersuchung von 186 blinden und sehbehinderten Kindern im Alter von 12 - 73 Monaten, die in Abständen von vier bis sechs Monaten mehrfach mit einem Entwicklungstest untersucht wurden. 27 Kinder waren blind oder verfügten höchstens über Lichtscheinwahrnehmung und zeigten keine zusätzlichen Behinderungen. Für diese Gruppe ergab sich im Alter von 30 Monaten ein Entwicklungsalter von 18.1 Monaten (d. h. ein Entwicklungsquotient von ca. 60). Dabei war die Entwicklungsverzögerung im motorischen Bereich deutlich stärker als im kommunikativen Bereich. Brambring (2005) analysierte die Daten von zehn blinden Kindern im Rahmen der „Bielefelder Längsschnittstudie zur Frühförderung und Unterstützung von Familien mit blind geborenen Kindern“ (Brambring, 2000). Die Familien wurden regelmäßig zu Hause besucht. Im Alter von fünf bis sechs Jahren (und bei einer Nachuntersuchung im Alter von 11 - 12 Jahren) konnte mit den Kindern der Verbalteil des HAWIK als Intelligenztest durchgeführt werden. Es zeigte sich, dass die intellektuellen Fähigkeiten nur bei vier Kindern im Durchschnittsbereich der Altersgruppe lagen. Der Entwicklungsverlauf dieser vier Kinder war in den ersten fünf Lebensjahren deutlich günstiger als die Entwicklung der sechs anderen blinden Kinder. Im Alter von 30 Monaten wurde bei ihnen ein Entwicklungsalter von 19 Monaten ermittelt, das den Ergebnissen von Hatton et al. (1997) weitgehend entspricht. Deutliche Entwicklungsverzögerungen zeigten sich in fast allen manuell-lebenspraktischen Fähigkeiten und bei über 70 % der Items, die grobmotorische Fertigkeiten prüfen. Dies galt auch - mit erheblicher interindividueller Variabilität - für die vier Kinder, bei denen sich im weiteren Verlauf eine altersgemäße kognitive Entwicklung zeigte (Brambring, 2006, 2007). Für den Erwerb und die Ausdifferenzierung dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten ist eine visuelle Steuerung und Rückmeldung offenbar von zentraler Bedeutung. Bei der überwiegenden Mehrzahl der sozial-interaktiven und sprachlichen Entwicklungsschritte fanden sich dagegen nur geringe Entwicklungsunterschiede. Der Autor schloss daraus, dass für den Erwerb dieser Fähigkeiten das fehlende Sehvermögen durch die Informationsaufnahme aus anderen Sinnesbereichen weitgehend kompensiert werden kann. VHN 4 | 2019 280 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG 2 Entwicklungsdiagnostik bei blinden Kindern Angesichts der Besonderheiten der Entwicklung von blinden Kindern stellt die Beurteilung des Entwicklungsstandes die Untersucherinnen und Untersucher vor besondere Herausforderungen (Sarimski, 2017). Herkömmliche Entwicklungstests für die Altersgruppe der Kinder unter sechs Jahren enthalten viele Aufgaben, die gänzlich von den Sehfähigkeiten eines Kindes abhängig sind (wie das Benennen von Bildern oder Reproduzieren von Mustern) oder deren erfolgreiche Lösung ganz andere Teilkompetenzen benötigt, wenn die Materialien mit den Händen erkundet werden müssen und nicht visuell erfasst werden können. In diesem Fall kann keineswegs vorausgesetzt werden, dass die entsprechenden kompensatorischen Kompetenzen blinder Kinder in der gleichen zeitlichen Abfolge erworben werden wie die Kompetenzen sehender Kinder. Ein Vergleich mit Altersnormen, die an sehenden Kindern erhoben wurden, ist in diesem Fall nicht tauglich, um die Fähigkeiten eines Kindes einzuschätzen. Viele Untersucherinnen und Untersucher behelfen sich in der Praxis damit, lediglich die sprachbezogenen Teile aus Entwicklungstests für Kleinkinder zu verwenden, da Entwicklungsstudien zeigen, dass sich der Umfang des Wortschatzes und die Beachtung der Regeln von Morphologie und Syntax bei blinden Kindern weitgehend parallel zur Entwicklung sehender Kinder vollziehen (Brambring, 2003). Unterschiede zeigen sich allenfalls in den Zeitpunkten, zu denen spezifische Schritte in der Entwicklung des Lexikons bewältigt werden, z. B. der korrekte Gebrauch von Personal- und Possessivpronomen oder Präpositionen mit räumlicher Bedeutung (z. B. auf, unter, neben). Eine valide Untersuchung, die auch eine Aussage über nicht-sprachgebundene Fähigkeiten erlaubt, erfordert die Adaptation von Entwicklungstests. So können z. B. einige der standardisierten Testmaterialien durch größere Objekte, die für das blinde oder sehbehinderte Kind leichter zu handhaben sind, ersetzt und Zeitgrenzen für die Bearbeitung von Aufgaben modifiziert werden, damit das Kind länger die Möglichkeit hat, das Material zu explorieren. Ruiter, Nakken, Janssen, van der Meulen und Looijestijn (2011) und Visser, Ruiter, van der Meulen, Ruijssenaars und Timmerman (2013) erprobten solche Modifikationen bei verschiedenen Versionen der Bayley-Entwicklungsskalen und konnten die Reliabilität und Validität der adaptierten Versionen bestätigen. Ihre Untersuchungen bezogen sich jedoch nur auf Kinder mit einer Sehbehinderung, die Ergebnisse lassen sich nicht auf blinde Kinder übertragen. Eine Alternative besteht in der Verwendung von Aufgaben und Beobachtungsitems, die speziell für Kinder mit Sehschädigungen entwickelt wurden. Im englischen Sprachraum wurden dazu die „Reynell-Zinkin Scales for young visually handicapped children“ (Reynell, 1979) eingesetzt. Sie umfassen sechs Subskalen: soziale Anpassung, sensomotorisches Verständnis, Exploration der Umgebung, Reaktion auf Geräusche und Sprachverständnis, Vokalisation und Struktur der Sprachäußerungen, Wortschatz und Inhalt von Sprachäußerungen. In den Niederlanden konnten hierzu aktualisierte Altersnormen in einer Stichprobe von 82 Kindern mit Sehbehinderungen erhoben werden (Vervloed, Hamers, van Mens-Weisz, Timmer- Van de Vosse, 2000). Altersnormen für blinde Kinder und eine deutsche Übersetzung sowie Normierung der Skalen liegen jedoch nicht vor. Zur Einschätzung der taktilen Wahrnehmungsfähigkeiten entwickelten Withagen, Vervloed, Janssen, Knoors und Verhoeben (2009) das „Tactual Profile“, eine Reihe von 430 Aufgaben für die Altersgruppe vom ersten Lebensjahr bis zum Alter von 16 Jahren, deren Reliabilität und Validität an 50 blinden Kindern überprüft VHN 4 | 2019 281 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG wurde. Im Alter von vier bis sechs Jahren zeigten sie z. B. im Durchschnitt folgende Leistungen: Wiedererkennen eines Objekts oder einer geometrischen Form, die in einer Reihe von vier Gegenständen präsentiert wird; in einem Steckbrett eine Reihe entlang der Begrenzung bauen; ein Loch in einer Oberfläche ertasten (z.B. den Ausguss einer Teekanne); Einzelteile einem Ganzen zuordnen (z. B. Schuhbändel zu einem Schuh, eine Schale zu einer Apfelsine); die Materialbeschaffenheit eines Gegenstands benennen (z. B. Holz, Plastik oder Papier). Eine deutsche Normierung dieser Experimentalversion steht noch aus. Einen breiten Einsatzbereich deckt die „Entwicklungsbeobachtung blinder Klein- und Vorschulkinder“ ab, die Brambring (1999) veröffentlichte. Diese Beobachtungsbögen entstanden im Rahmen der Bielefelder Entwicklungsstudien zu blinden Kindern und erlauben eine Dokumentation der Fähigkeiten in den Bereichen Grobmotorik, Orientierung und Mobilität, manuelle Fertigkeiten, lebenspraktische Fähigkeiten, kognitive und sprachliche Entwicklung sowie Aspekte der sozial-emotionalen Entwicklung. Die Altersangaben, wann die einzelnen Entwicklungsschritte bewältigt werden, beziehen sich jeweils auf vier Kinder, die sich im weiteren Entwicklungsverlauf als unbeeinträchtigt in ihren intellektuellen Fähigkeiten herausgestellt haben. Zum Vergleich werden die Altersangaben genannt, die sich für Kinder ergaben, bei denen später im Schulalter zusätzliche kognitive Beeinträchtigungen diagnostiziert wurden. Als Alternative zu diesen Skalen wird in der Frühförderung z. T. der „Beobachtungsbogen für mehrfachbehinderte Kinder“ (Nielsen, 2002) verwendet. In diesem Verfahren werden einzelne Fertigkeiten jeweils Entwicklungsstufen im Umfang von drei bzw. sechs Monaten zugeordnet. Das Manual enthält jedoch keine differenzierten Informationen zur Herkunft und statistischen Grundlage dieser Werte. Beide Verfahren sind hilfreich für die Förderplanung eines blinden Kleinkindes, indem sie der Untersucherin bzw. dem Untersucher eine Orientierung erlauben, welche Fähigkeiten ein Kind bereits beherrscht, und die Zone der nächsten Entwicklung abzustecken. Außerdem erlauben sie es den Eltern, sich die Fortschritte ihres Kindes anhand der Tabellen selbst bewusst zu machen. Keines der beiden Verfahren eignet sich jedoch dazu, den Entwicklungsstand der Fähigkeiten eines blinden Kindes mit dem von Kindern ohne Sehbeeinträchtigung zu vergleichen. 3 Beurteilung adaptiver Kompetenzen Ein solcher Vergleich des Entwicklungsstandes eines blinden Kindes mit den Fähigkeiten von Kindern mit unbeeinträchtigtem Sehvermögen wäre über die Befragung von Eltern zu den adaptiven Kompetenzen der Kinder möglich, die sie im Alltag beobachten können. Das Konzept der adaptiven Kompetenzen umfasst drei Dimensionen, durch die die persönliche Kompetenz eines Kindes oder Jugendlichen als - im Sinne der ICF-orientierten Beschreibungen von Behinderungen - individuelle Voraussetzung für die soziale Teilhabe zu erfassen ist: kognitiv-kommunikative, praktische und soziale Kompetenzen. Eine solche drei-faktorielle Struktur hat sich in zahlreichen empirischen Studien belegen lassen. Kognitiv-kommunikative Fähigkeiten umfassen dabei Sprachverständnis, expressive Sprache sowie schulische Fertigkeiten („academic skills“, z. B. Lesen und Schreiben, Umgang mit Geld, Verständnis für Zeit- und Zahlenangaben). Lebenspraktische Fähigkeiten beziehen sich auf Kompetenzen, die für die Alltagsbewältigung von Bedeutung sind. Dazu gehören Fähigkeiten der Selbstversorgung (z. B. beim Essen, Ankleiden, Toilettengang) ebenso wie Fähigkeiten zur Teilhabe im VHN 4 | 2019 282 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG öffentlichen Raum (z. B. Beachtung von Sicherheitsregeln, Gesundheitsvorsorge, Benutzung von Verkehrs- oder Kommunikationsmitteln). Soziale Kompetenzen umfassen u. a. solche, die für die Gestaltung von Beziehungen zu anderen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und das Erfüllen sozialer Erwartungen von Bedeutung sind (zusammenfassend: Tasse et al., 2012). In der internationalen Forschung werden zur diagnostischen Einschätzung der adaptiven Kompetenzen überwiegend die „Vineland Adaptive Behavior Scales - Second edition“ (VABS-II; Sparrow, Cicchetti & Balla, 2005) eingesetzt, die bei Kindern unter sechs Jahren zusätzlich zu den genannten Bereichen der adaptiven Kompetenz auch die fein- und grobmotorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten erheben. Diese Skalen gehen zurück auf die „Vineland Social Maturity Scale“, die bereits 1936 von Doll vorgelegt wurde. Die Autoren legten eine aktualisierte Version mit einer Normierung an einer repräsentativen US-Stichprobe von 3.695 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vor. Bei dieser Normierungsstichprobe wurden auch unterschiedliche Behinderungen in dem jeweiligen Anteil berücksichtigt, mit dem sie in der US-Population auftreten. Eine Normierung des Verfahrens im deutschen Sprachraum ist bisher nicht erfolgt, es liegt jedoch eine Übersetzung des Instruments (durch den Erstautor) als Arbeitsversion vor. Berechnungen der internen Konsistenz, Test- Retest-Reliabilität, Faktorenstruktur sowie Validität bei der Untersuchung verschiedener klinischer Gruppen (Kinder und Jugendliche mit intellektueller Beeinträchtigung, Autismus- Spektrum- und anderen kinderpsychiatrischen Störungen) sind ausführlich im Manual der VABS-II dokumentiert. Die VABS-II liegen als Interviewfassung und als Fragebogen vor, der von Eltern oder pädagogischen Fachkräften ausgefüllt werden kann. Die Auswertung erlaubt die Ermittlung von Entwicklungsalterswerten auf der Ebene übergeordneter Skalen (kommunikative, lebenspraktische, soziale und motorische Kompetenzen), die nochmals in Teilskalen differenziert werden können. Auf diese Weise lässt sich ein individuelles Profil von Stärken und Schwächen bestimmen sowie eine Orientierung vornehmen, welchem Entwicklungsniveau die adaptiven Kompetenzen eines Kindes mit einer Entwicklungsverzögerung entsprechen. Im Manual der VABS-II wird eine Studie zitiert, bei der 36 sehbehinderte und blinde Kinder im Alter von 6 - 18 Jahren untersucht wurden (Sparrow et al., 2005, S. 155f.). Es wurden Standardwerte mitgeteilt (Mittelwert der Altersgruppe: 100; Standardabweichung 15). In dieser Gruppe ergab sich ein durchschnittlicher Standardwert für die adaptiven Kompetenzen von 86.8, d. h. knapp eine Standardabweichung unter dem Altersdurchschnitt. Im Bereich der „Kommunikation“ (M = 95.6, SD = 15.9) wurden etwas höhere Werte erzielt als in den Bereichen „Sozialisation“ (M = 87.4; SD = 16.1) und „Praktische Fertigkeiten“ (M = 82.6; SD = 16.8). Papadopoulos, Metsiou und Agaliotis (2011) berichteten über eine Untersuchung von 46 Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigungen in Griechenland. Die Autoren verwendeten allerdings eine ältere Fassung der Skalen (VABS; Sparrow, Balla & Cicchetti, 1984) und unterschieden jeweils nur zwischen Entwicklungsniveaus der adaptiven Kompetenzen (unterdurchschnittlich - durchschnittlich - überdurchschnittlich). In ihrer Stichprobe ergaben sich unterdurchschnittliche Mittelwerte für den Gesamtscore und die drei Teilbereiche, wobei das Entwicklungsniveau im Bereich der sozialen Fertigkeiten und der expressiven Sprache höher bewertet wurde als im Bereich des Sprachverstehens und der praktischen Fertigkeiten. VHN 4 | 2019 283 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG 4 Fragestellung der eigenen Untersuchung In einer eigenen explorativen Studie sollte die Brauchbarkeit der Vineland Adaptive Behavior Scales (VABS-II) für die Einschätzung des Entwicklungsstandes von blinden Kindern im Kleinkind- und Vorschulalter untersucht werden. Dabei ist zwischen theoretisch-konzeptionellen und teststatistischen Aspekten der Brauchbarkeit zu unterscheiden. Bei theoretisch-konzeptionellen Aspekten geht es um die Frage, ob das Untersuchungsverfahren den besonderen Bedingungen der Entwicklung blinder Kinder gerecht wird. Bei teststatistischen Aspekten geht es um die Frage, ob die Testskalen eine hinreichende interne Konsistenz aufweisen, die Entwicklungsalterswerte in den Teilbereichen miteinander korrelieren und ob sich ein Fähigkeitsprofil abzeichnet, das mit dem Wissensstand über Entwicklungsverläufe unter den Bedingungen von Blindheit vereinbar ist. Im Einzelnen sollen folgende Fragen beantwortet werden: n Erweisen sich die Ergebnisse der Vineland- Skalen (VABS-II) in den Bereichen der kommunikativen, sozialen und motorischen Kompetenzen bei blinden Kindern als intern konsistent und korrelieren sie miteinander? n Ist das Profil der Entwicklungsalterswerte in den einzelnen Kompetenzbereichen mit dem Forschungsstand zur Entwicklung von blinden Kindern in den ersten sieben Lebensjahren vereinbar? 5 Untersuchungsvorgehen Zur Untersuchung der kommunikativen, sozialen und motorischen Kompetenzen wurde eine elektronische Befragung von Eltern durchgeführt. Dazu wurden die entsprechenden Skalen der Vineland-Scales (VABS-II) in ein elektronisches Format überführt und eine Mail an verschiedene Elternvereinigungen blinder und sehbehinderter Kinder versendet mit der Bitte, Eltern, die sich in diesen Gruppen organisiert haben, auf die Untersuchung aufmerksam zu machen und um Teilnahme zu werben. Die Teilnahme war freiwillig und anonym. Über die Rücklaufquote können keine Angaben gemacht werden, da nicht bekannt ist, wie viele Eltern die Mail mit der Bitte um Teilnahme erhalten haben. Es wurden 59 Fragebögen gespeichert, bei denen die Bearbeiter/ innen angaben, dass es sich um ein blindes Kind handelte, das noch nicht im Schulalter ist. Zum Teil wurde die Bearbeitung des Fragebogens jedoch abgebrochen. In die Auswertung einbezogen wurden deshalb nur diejenigen Fragebögen, die hinreichend vollständig ausgefüllt waren. Als hinreichend vollständig ausgefüllt wurden alle Fragebogen gewertet, bei denen in den einzelnen Skalen des Fragebogens nicht mehr als 10 % der Items ausgelassen waren; die ausgelassenen Items wurden als „nicht beobachtete“ Fähigkeiten mit - 0 - kodiert. Dies traf auf 27 Fragebögen zu. Anschließend wurden die Rohdaten auf „Ausreißer“ geprüft, bei denen sich Entwicklungsalterswerte ergaben, die deutlich über dem Durchschnitt der Altersgruppe und den Ergebnissen für die meisten Kinder der Stichprobe lagen. Bei diesen Fragebögen lagen vermutlich Eingabefehler vor. 25 Fragebögen konnten nach dieser Prüfung in die weitere Auswertung einbezogen werden. Die Tab. 1 zeigt die Merkmale der Stichprobe. 21 Fragebögen wurden von den Müttern, vier Fragebögen von den Vätern ausgefüllt. 16 Eltern gaben auf die Frage nach ihrem höchsten Bildungsabschluss einen Hochschulabschluss an, neun Eltern einen niedrigeren Abschluss. Bei den Kindern handelte es sich um 19 Jungen und sechs Mädchen. Sieben Kinder waren unter drei Jahre alt, 12 Kinder zwischen drei und fünf und sechs Kinder über fünf Jahre alt. Das mittlere Alter der Kinder lag bei 49 Monaten (SD = 21 Mon.). Das Alter variierte zwischen 11 Monaten und 7; 6 Jahren. VHN 4 | 2019 284 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG Die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der Fragebögen bezeichneten den Sehstatus aller Kinder als „blind“. Die als Sehschädigungsursache angegebenen degenerativen Krankheitsbilder (z. B. Opticus-Atrophie) waren offensichtlich zum Erhebungszeitpunkt bereits so weit fortgeschritten, dass eine Sehschärfe von ≤ 0,02 oder eine vergleichbare Sehbeeinträchtigung (z. B. entsprechend starke Gesichtsfeldeinschränkung) vorlag. Bei zwei Kindern lag eine geistige Behinderung vor, bei einem Kind eine Cerebralparese und bei einem weiteren Kind eine Kombination beider zusätzlicher Behinderungen. Zwei Kinder besuchten einen Sonder- oder Schulkindergarten für blinde und sehbehinderte Kinder, 12 Kinder eine integrative Einrichtung und sechs Kinder einen allgemeinen Kindergarten. Zehn dieser Kinder wurden von Integrationshelfer/ innen begleitet. Die Angaben im Fragebogen wurden für jeden Entwicklungsbereich zu Rohwertsummen zusammengefasst. Jeder Rohwertsumme wurde nach den Normtabellen der VABS-II (repräsentative US-Normen) jeweils Entwicklungsalterswerte zugeordnet. Die deskriptive Analyse, die Prüfung von Unterschieden zwischen den Entwicklungsalterswerten sowie von Korrelationen zwischen den Skalenwerten wurde mit SPSS 25 durchgeführt. Angesichts des geringen Stichprobenumfangs wurden für statistische Prüfungen parameterfreie Verfahren verwendet. 6 Untersuchungsinstrument Die Vineland Adaptive Behavior Scales (VABS- II) umfassen zehn Skalen und gliedern sich in vier Entwicklungsbereiche. Für die Untersuchung wurden die Skalen zur Untersuchung der kommunikativen, sozialen und motorischen Kompetenzen ausgewählt. Motorische Kompetenzen werden getrennt nach fein- und grobmotorischen Fähigkeiten erhoben; soziale Kompetenzen in drei Skalen mit den Überschriften „Soziale Beziehungen“, „Spiel“ und „Anpassungsfähigkeiten“; kommunikati- Merkmal Zahl % Alter < 3 Jahre Alter 3 -5 Jahre Alter > 5 Jahre 7 12 6 28.0 48.0 22.0 Mädchen Jungen 6 19 22.0 78.0 Opticus-Atrophie Colobom Leber’sche Amaurose Microphthalmie Keine Angabe 5 1 6 3 10 20.0 4.0 24.0 12.0 40.0 Fortschreitende Erkrankung Zusätzliche geistige Behinderung Zusätzliche motorische Behinderung (Cerebralparese) 2 2 2 8.0 8.0 8.0 Tab. 1 Stichprobenmerkmale VHN 4 | 2019 285 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG ve Kompetenzen in den zwei Skalen „rezeptive Sprache“ und „expressive Sprache“ (auf eine dritte Skala dieses Bereichs, die sich auf schriftsprachliche Fähigkeiten und ihre Vorläufer bezieht und nach den Vorgaben der VABS-II bei Kindern ab drei Jahren eingesetzt werden konnte, wurde verzichtet, weil die Items ausschließlich auf Vorläuferfähigkeiten zum Erwerb der Schwarzschrift ausgerichtet sind). Die Tabelle 3 zeigt Beispielitems aus den verwendeten Skalen. 7 Ergebnisse 7.1 Interne Konsistenz und Konvergenz der Entwicklungsalterswerte Die Kennwerte für die interne Konsistenz der Skalen (Cronbach’s Alpha) liegen in dieser Stichprobe alle im Bereich von .94 < α < .98 und sind als sehr gut zu bezeichnen. Alle Rohwertsummen korrelieren signifikant mit dem Lebensalter, d. h. ältere Kinder erzielten auch höhere Entwicklungsalterswerte. Die Berechnung der Zusammenhänge zwischen den Entwicklungsbereichen erfolgte unter Auspartialisierung des Lebensalters und ergab ebenfalls für alle Skalen hochsignifikante Korrelationen (nichtparametrisch nach Spearman) zwischen den Entwicklungsquotienten (r = .56 - .93; p < .001; Tab. 2). 7.2 Entwicklungsalter und -quotienten Tabelle 3 und Abbildung 1 zeigen das mittlere Entwicklungsalter, das den Fähigkeiten der 25 Kinder in den einzelnen Entwicklungsbereichen nach den Normwerten der VABS-II zugeordnet wird. Es zeigt sich in allen Bereichen eine deutliche Diskrepanz gegenüber dem Durchschnitt der Altersgruppe (mittleres Alter 49 Monate). Relative Stärken zeichnen sich im Bereich des Sprachverstehens und der sozialen Anpassung an Regeln ab, in denen das mittlere Entwicklungsalter bei 31.6 bzw. 33.2 Monaten liegt, während im Bereich der grobmotorischen Fähigkeiten und der sozialen Beziehungen mit einem mittleren Entwicklungsalter von 22 Monaten ein deutlich niedrigeres Entwicklungsniveau festzustellen ist. Die deutlichste Diskrepanz zum Altersdurchschnitt zeigt sich im Bereich der expressiven Sprache, in der den Kindern im Mittel nur ein mittleres Entwicklungsalter von 15.2 Monaten zugeordnet wird. Auf der Basis der individuellen Entwicklungsalterswerte wurde durch Division durch das Lebensalter ein Entwicklungsquotient bestimmt. Der mittlere Entwicklungsquotient der Kinder lag bei 52.5 (SD = 26.8). Bei vier Kindern lag er im Durchschnittsbereich der Altersgruppe (EQ > 85), bei weiteren vier Kindern zeigte sich ein leichter Entwicklungsrückstand (EQ 70 - 84), bei neun Kindern ein schwerer Entwicklungsrückstand (EQ < 40, d. h. mehr als Verstehen Sprechen Sozialbez. Spiel Anpassung Grobmot. Feinmot. Verstehen Sprechen Sozialbez. Spiel Anpassung Grobmot. Feinmot. - .67 .56 .58 .63 .73 .75 - .73 .81 .84 .67 .75 - .92 .93 .61 .74 - .88 .74 .75 - .65 .81 - .87 - Tab. 2 Interkorrelationen der Entwicklungsalterswerte (unter Kontrolle des Lebensalters) Anmerkung: Alle Korrelationskoeffizienten sind hochsignifikant (p < .001) VHN 4 | 2019 286 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG Beispielitems Min Max M SD Hören und Verstehen n Hört auf Anweisungen n Zeigt auf mindestens fünf kleine Körperteile, wenn es gefragt wird 1 90 31.6 28.1 Sprechen n Benennt zumindest drei Objekte n Stellt Fragen, die mit „was“ oder „wo“ beginnen 1 60 15.2 15.0 Soziale Beziehungen n Zeigt Interesse an Kindern gleichen Alters n Benutzt Worte, um eigene Emotionen auszudrücken 1 84 22.6 25.8 Spiel und Freizeit n Spielt von sich aus mit anderen Kindern n Benutzt alltägliche Haushaltsgegenstände oder andere Dinge für Rollenspiele 2 99 26.9 25.7 Anpassung an Regeln n Verhält sich angemessen, wenn es Fremden vorgestellt wird n Passt seine Stimmlage dem Ort oder der Situation an 4 102 33.2 27.6 Grobmotorik n Klettert auf Erwachsenenstuhl und wieder hinunter n Geht Treppen im Wechselschritt hinauf 6 46 22.7 12.7 Feinmotorik n Blättert die Seiten eines Buches oder einer Zeitschrift einzeln um n Malt einfache Formen aus; gerät dabei u. U. über die Ränder 1 67 27.6 17.7 Tab. 3 Entwicklungsalter in Teilskalen der VABS-II (in Monaten) Entwicklungsalter (Monate) 35 30 25 20 15 10 5 0 Entwicklungsbereich Hören und Verstehen Sprechen Soziale Beziehungen Spiel und Freizeit Anpassung an Regeln Grobmotorik Feinmotorik Abb. 1 Mittleres Entwicklungsalter blinder Kinder in sieben Bereichen der Vineland Adaptive Behavior Scales (VABS-II; n = 25) VHN 4 | 2019 287 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG vier Standardabweichungen unter dem Altersdurchschnitt). Die übrigen acht Kinder wiesen einen mittelgradigen Entwicklungsrückstand auf (EQ 40 - 55). Tabelle 3 zeigt die sehr große Streuung der Entwicklungsalterswerte der Kinder in den einzelnen Skalen. Fasst man die einzelnen Skalenwerte gemäß den Vorgaben der VABS-II in übergeordnete Kompetenzbereiche zusammen, so ergibt sich ein signifikant niedrigerer Entwicklungsquotient (p = .013) im Bereich der „Kommunikation“ (M = 45.4; SD = 29.2) im Vergleich zu den beiden Bereichen „Sozialisation“ (M = 55.7; SD = 34.2) und „Motorik“ (M = 54.7; SD = 23.7). Bei der Analyse von Unterschieden zwischen den Entwicklungsalterswerten mittels des Friedman-Tests zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Teilbereichen (Chi² = 64.81; df = 7; p < .001). Bei drei Kindern lag eine zusätzliche geistige oder körperliche Behinderung vor. Die Entwicklungsalterswerte dieser drei Kinder sind tendenziell niedriger als die der Kinder, bei denen keine zusätzliche Behinderung vorliegt. Wegen des geringen Umfangs dieser Teilstichprobe wurde auf eine statistische Prüfung der Unterschiede im Entwicklungsniveau verzichtet. 8 Diskussion und Schlussfolgerungen Es wurden die adaptiven Kompetenzen bei 25 blinden Kindern im Kleinkind- und Vorschulalter mittels einer Online-Version der „Vineland Adaptive Behavior Scales“ (VABS-II) erhoben. Die Beurteilung der internen Konsistenz der Skalen als Reliabilitätsmaß ergab sehr gute Werte (Cronbach’s Alpha > .94). Die Rohwertsummen, die die Zahl der nach Einschätzung der Eltern regelmäßig oder teilweise gezeigten Kompetenzen widerspiegeln, korrelierten hoch signifikant mit dem Lebensalter der Kinder. Die Entwicklungsalterswerte in den einzelnen Bereichen der adaptiven Kompetenzen waren - bei Kontrolle des Lebensalters - ebenfalls hoch signifikant miteinander assoziiert. Das spricht für die Konstruktvalidität der Skalen und erlaubt den Schluss, dass sich mit ihnen entwicklungsbedingte Unterschiede zwischen den Kindern zuverlässig erfassen lassen (teststatistische Brauchbarkeit). Bei einem durchschnittlichen Lebensalter von 48.8 Monaten ergaben sich in der Stichprobe in fünf Teilskalen Entwicklungsalterswerte zwischen 23 und 33 Monaten und Entwicklungsquotienten zwischen 52 und 70. Diese liegen auf dem gleichen Niveau wie die Daten, die Hatton et al. (1997) bei der longitudinalen Untersuchung von 27 blinden Kindern in England ermittelten. Manuelle und grobmotorische Fähigkeiten weisen jedoch nicht nur eine erhebliche Verzögerung gegenüber der Entwicklung sehender Kinder auf, sondern auch eine sehr breite individuelle Variabilität, was den Beobachtungen von Brambring (2006, 2007) entspricht. Das Entwicklungsniveau in den Bereichen der sozialen Beziehungen, der grobmotorischen und der sprachlichen Fähigkeiten liegen dagegen deutlich niedriger als in den übrigen Bereichen. Drei Kinder der Stichprobe wiesen - nach Angabe der Eltern - zusätzliche körperliche oder geistige Behinderungen auf. Dies schlägt sich zwar in tendenziell niedrigeren Entwicklungswerten nieder, erklärt jedoch nicht die deutlichen Entwicklungsrückstände, die in dieser Stichprobe zu erkennen waren. Das Entwicklungsprofil entspricht nicht der Erwartung. Auf der Basis der Entwicklungsstudien von Hatton et al. (1997) und Brambring (u. a. 2005) wären zwar deutlichere Entwicklungsrückstände im Bereich der Motorik, nicht aber der expressiven Sprache zu erwarten gewesen. Auch nach den Ergebnissen von Sparrow et al. (2005) und Papadopoulos et al. (2011), die die Vineland-Scales bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter verwendeten, wären ebenfalls relative Stärken im Bereich der sprachlichen Fähigkeiten zu erwarten gewesen. VHN 4 | 2019 288 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG Damit stellt sich die Frage, wie sich diese erwartungswidrigen Ergebnisse erklären lassen. Ein Grund könnte in den unterschiedlichen Altersgruppen vermutet werden, die untersucht wurden. Die beiden Untersuchungen, bei denen die Vineland-Scales bislang bei Kindern mit Sehbeeinträchtigungen eingesetzt wurden, beziehen sich jeweils auf das Schulalter und berichten die Ergebnisse nicht separat für blinde vs. sehbehinderte Kinder. Es könnte sein, dass sich die Unterschiede zu unseren Befunden durch Unterschiede im Alter und der Zusammensetzung der Stichprobe erklären lassen. Das höhere Entwicklungsniveau der sprachlichen Fähigkeiten in den genannten Studien könnte primär auf die Ergebnisse von Kindern mit einer Sehbehinderung zurückzuführen sein, deren Spracherwerb weniger beeinträchtigt ist als bei geburtsblinden und früh erblindeten Kindern, die in unserer Studie untersucht wurden. Dem widersprechen jedoch die Beobachtungen von Hatton et al. (1997) und Brambring (2005), die sich auf blinde Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter beziehen und relative Stärken im Bereich der expressiven Sprache dokumentieren. Ein zweiter Grund könnte sein, dass insbesondere die VABS-II-Skala „Sprechen“ sich in hohem Maße aus Items zusammensetzt, die für blinde Kinder ungeeignet sind. So wird u. a. nach pragmatischen Aspekten der Sprachentwicklung, z. B. Gebrauch von Gesten (Kopf schütteln, Winken usw.), Zeigen auf Gegenstände außer Reichweite, Zeigen auf Gegenstände in Wahlsituationen, den Gebrauch beschreibender Adjektive, Farbbegriffe, Pronomen oder Präpositionen gefragt. Nur ein geringer Teil der Items bezieht sich auf den Umfang des produktiven Wortschatzes im Allgemeinen, die Fähigkeit zur Bildung von Wortkombinationen oder die Beachtung grammatischer Regeln (z. B. Verneinung, Verbformen). Im Gegensatz dazu beziehen sich die Aussagen von Hatton et al. (1997) und Brambring (2005) auf formale Aspekte der Sprachentwicklung wie Wortschatzumfang und grammatische Satzbildung, in denen sich die Fähigkeiten blinder Kinder nach den Ergebnissen dieser beiden Autoren nicht wesentlich von den Fähigkeiten sehender Kinder unterscheiden. Allerdings muss man einräumen, dass sich auch in anderen Teilbereichen der VABS-II ein - unterschiedlich großer - Teil der Items auf Fähigkeiten bezieht, deren Erwerb durch fehlendes Sehvermögen grundsätzlich erschwert ist. Das gilt in der Skala „Hören und Verstehen“ z. B. für Items, bei denen das Kind auf Körperteile zeigen oder mehrteilige Anweisungen befolgen soll; in der Skala „Spiel und Freizeit“ auf das kooperative Spiel mit anderen Kindern, das Teilen von Spielsachen auf Aufforderung oder die Beteiligung an Rollenspielen; in der Skala „Anpassung an Regeln“ auf die Beachtung sozialer Rituale im Kontakt mit Fremden, die Entschuldigung bei unabsichtlichen Fehlgriffen oder die Anpassung der Stimmlage an unterschiedliche Situationen. Das bedeutet, dass nicht nur im sprachlichen Bereich, sondern auch in anderen adaptiven Kompetenzbereichen die Interpretation von Unterschieden zu Fähigkeiten sehender Kinder gleichen Alters immer nur unter Berücksichtigung der besonderen Schwierigkeiten der Entwicklung unter der Bedingung von Blindheit erfolgen darf. Obwohl die Ergebnisse unserer explorativen Studie für die interne Konsistenz der Skalen und korrelative Zusammenhänge zwischen den Teilskalen und dem Lebensalter der Kinder sprechen, scheinen die VABS-II-Skalen aus theoretischkonzeptionellen Gründen für die Beurteilung der Entwicklung blinder Kinder nur begrenzt geeignet. Sie können allenfalls qualitative Anhaltspunkte liefern, bei welchen sozialen Anpassungsanforderungen ein blindes Kind besonderen pädagogischen Unterstützungsbedarf hat. VHN 4 | 2019 289 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG Als Limitation der Interpretierbarkeit der Ergebnisse unserer explorativen Studie sei zudem auf die Zusammensetzung der Stichprobe und die elektronische Form der Datenerhebung hingewiesen. Inwieweit die Einschätzung von 25 Kindern, die in die Auswertung einbezogen werden konnten, repräsentativ für adaptive Kompetenzen blinder Kinder ist, lässt sich nicht beurteilen, da die Eltern selbst entschieden, ob sie sich an der Befragung beteiligen wollten. Auch die elektronische Form mag die Generalisierbarkeit der Ergebnisse einschränken, da sich u. U. nur Eltern mit höherem Bildungsabschluss und Affinität zu modernen Medien zur Teilnahme einer solchen Befragung entschließen. Angesichts des Umfangs des Fragebogens liegt die Annahme nahe, dass sich viele Eltern mit der Vielfalt der Fragen überfordert fühlten; dafür spricht der relativ hohe Anteil von Eltern, die den Fragebogen zwar über den Link aufgerufen, dann aber nicht vollständig bearbeitet haben. Eine weitere methodische Einschränkung liegt in der Entscheidung, auch Fragebögen in die Auswertung einzubeziehen, bei denen bis zu 10 % der Items nicht bewertet wurden, und fehlende Angaben als „nicht gekonnt“ zu bewerten. Wenn Eltern diese Items nicht beantwortet haben, weil die in den Items angesprochenen Fähigkeiten von ihren Kindern bereits früher gezeigt wurden, jetzt aber nicht mehr aktuell sind, könnte dieses Vorgehen dazu geführt haben, die wahren Fähigkeiten der Kinder zu unterschätzen. Für die Praxis muss also empfohlen werden, die „Vineland Adaptive Behavior Scales“ (VABS-II) nur dann als ergänzendes Untersuchungsverfahren zur Einschätzung der Kompetenzen zur Alltagsbewältigung in die Diagnostik einzubeziehen, wenn sie im direkten Gespräch mit den Eltern ausgefüllt werden können. Dabei kann mit ihnen geklärt werden, ob sie einzelne Items angesichts des fehlenden Sehvermögens ihres Kindes überhaupt beantworten oder dabei Beobachtungen zugrunde legen können, die zeigen, dass das Kind über die im Item angezielte Fähigkeit verfügt, diese aber auf andere Weise im Alltag erkennbar wird als bei Kindern mit unbeeinträchtigtem Sehvermögen. Für eine valide Einschätzung der Fähigkeiten ist eine direkte Untersuchung der Kinder unerlässlich; dazu fehlt es weiterhin an standardisierten Verfahren für das Kleinkind- und Vorschulalter, die speziell an die Entwicklungsbedingungen von blinden Kindern adaptiert sind. Literatur Brambring, M. (1999). Entwicklungsbeobachtung und -förderung. Würzburg: edition bentheim. Brambring, M. (2000). „Lehrstunden“ eines blinden Kindes. Entwicklung und Frühförderung in den ersten Lebensjahren. München: Reinhardt. Brambring, M. (2003). Sprachentwicklung blinder Kinder. In G. Rickheit, T. Herrmann & W. Deutsch (Hrsg.), Psycholinguistik. Ein internationales Handbuch, 730 -752. Berlin, New York: De Gruyter. Brambring, M. (2005). Divergente Entwicklung blinder und sehender Kinder in vier Entwicklungsbereichen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 37 (4), 173 -183. https: / / doi.org/ 10.1026/ 0049-86 37.37.4.173 Brambring, M. (2006). Divergent development of gross motor skills in children who are blind or sighted. Journal of Visual Impairment & Blindness, 100 (10), 620 -634. Brambring, M. (2007). Divergent development of manual skills in children who are blind or sighted. Journal of Visual Impairment & Blindness, 101 (4), 212 -225. https: / / doi.org/ 10.1177/ 01454 82x0710100404 Hatton, D., Bailey, D., Burchinal, M. & Ferrell, K. (1997). Development growth curves of preschool children with vision impairments. Child Development, 68 (5), 788 -806. https: / / doi.org/ 10. 2307/ 1132033 Heyl, V. (2017). Blindheit und Sehbehinderung aus der Perspektive einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. In Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V. (Hrsg.), Perspektiven im Dialog. XXXVI. Kongress für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. Kongressbericht. Würzburg: edition bentheim, 89 -103. VHN 4 | 2019 290 KLAUS SARIMSKI, MARKUS LANG Kommunikative, soziale und motorische Kompetenzen blinder Kinder FACH B E ITR AG Lang, M., Hofer, U. & Beyer, F. (2017). Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. Nielsen, L. (2002). Beobachtungsbogen für mehrfachbehinderte Kinder. Würzburg: edition bentheim. Papadopoulos, K., Metsiou, K. & Agaliotis, I. (2011). Adaptive behavior in children and adolescents with visual impairments. Research in Developmental Disabilities, 32 (3), 1086 -1096. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.ridd.2011.01.021 Reynell, J. (1979). Manual for the Reynell-Zinkin Scales, Developmental Scales for Young Visually Handicapped Children - Part 1 Mental Development. Windsor: NFER-Nelson Publishing Company. Ruiter, S., Nakken, H., Janssen, M., van der Meulen, B. & Looijestijn, P. (2011). Adaptive assessment of young children with visual impairment. The British Journal of Visual Impairment, 29 (2), 93 - 112. https: / / doi.org/ 10.1177/ 02646196114 02766 Sarimski, K. (2017). Handbuch Interdisziplinäre Frühförderung. München: Reinhardt. https: / / doi. org/ 10.2378/ fi2017.art19d Sparrow, S., Balla, D. & Cicchetti, D. (1984). Vineland Adaptive Behavior Scales. (VABS). Circle Pines: American Guidance Service. Sparrow, S., Cicchetti, D. & Balla, D. (2005): Vineland Adaptive Behavior Scales. 2 nd edition (Vineland-II). Circle Pines: American Guidance Service. https: / / doi.org/ 10.1037/ t15164-000 Tasse, M., Schalock, R., Balboni, G., Bersani, H., Borthwick-Duffy, S., Spreat, S., … (2012). The construct of adaptive behavior: Its conceptualization, measurement, and use in the field of intellectual disability. American Journal on Intellectual and Developmental Disabilities, 117 (4), 291 -303. https: / / doi.org/ 10.1352/ 1944-75 58-117.4.291 Vervloed, M., Hamers, J., van Mens-Weisz, M. & Timmer-Van de Vosse, H. (2000). New age levels of Reynell-Zinkin developmental scales for young children with visual impairments. Journal of Visual Impairment & Blindness, 94 (10), 613 -624. Visser, L., Ruiter, S., van der Meulen, B., Ruijssenaars, W. & Timmerman, M. (2013). Validity and suitability of the Bayley-III Low Motor/ Vision Version: A comparative study among young children with and without motor and/ or visual impairments. Research in Developmental Disabilities, 34 (11), 3736 -3745. https: / / doi.org/ 10. 1016/ j.ridd.2013.07.027 Withagen, A., Vervloed, M., Janssen, N., Knoors, H. & Verhoeven, L. (2009). The Tactual Profile: development of a procedure to assess the tactual functioning of children who are blind. The British Journal of Visual Impairment, 27 (3), 221- 238. https: / / doi.org/ 10.1177/ 0264619609106362 Anschrift der Autoren Prof. Dr. Klaus Sarimski Pädagogische Hochschule Heidelberg Keplerstraße 87 D-69120 Heidelberg E-Mail: sarimski@ph-heidelberg.de Prof. Dr. Markus Lang Pädagogische Hochschule Heidelberg Keplerstraße 87 D-69120 Heidelberg E-Mail: lang@ph-heidelberg.de