eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art44d
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2019
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Trend: Zwischen Superkrüppel und Cybathlon: Behinderung und Spitzensport in den Medien

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Thomas Hoffmann
Gregor Wolbring
Leistung, Leistungsfähigkeit und Leistungsgerechtigkeit spielen im aktuellen Inklusionsdiskurs eine zunehmend wichtige Rolle (s. Lütje-Klose, Boger, Hopmann & Neumann, 2017; Textor, Grüter, Schiermeyer-Reichl & Streese, 2017; Sansour, Musenberg & Riegert, 2018). Menschen mit Behinderung werden dabei in der Regel als Opfer einer hochgradig ökonomisierten Leistungsgesellschaft dargestellt, die bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgrenzt, benachteiligt oder diskriminiert. [...]
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321 321 VHN, 88. Jg., S. 321 -324 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art44d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Zwischen Superkrüppel und Cybathlon: Behinderung und Spitzensport in den Medien Thomas Hoffmann Universität Innsbruck Gregor Wolbring University of Calgary TRE ND TH EME NSTR ANG In shape or out? Zur (sport-)pädagogischen Relevanz exkludierender Momente in gegenwärtigen Körperkulturen Leistung, Leistungsfähigkeit und Leistungsgerechtigkeit spielen im aktuellen Inklusionsdiskurs eine zunehmend wichtige Rolle (s. Lütje- Klose, Boger, Hopmann & Neumann, 2017; Textor, Grüter, Schiermeyer-Reichl & Streese, 2017; Sansour, Musenberg & Riegert, 2018). Menschen mit Behinderung werden dabei in der Regel als Opfer einer hochgradig ökonomisierten Leistungsgesellschaft dargestellt, die bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgrenzt, benachteiligt oder diskriminiert. Demgegenüber wird mit der Leitidee der Inklusion/ Integration ein „grundlegend neues Leistungsverständnis“ (Schildmann, 2017, S. 87) verbunden, das auf die Anerkennung vielfältiger menschlicher Leistungsmöglichkeiten und Leistungsniveaus abzielt (vgl. Ruin & Giese, 2018, S. 186). Was genau dabei unter Leistung, Leistungsfähigkeit oder Leistungsgerechtigkeit verstanden wird, bleibt allerdings oft unklar. Wie Schäfer überzeugend dargelegt hat, ist dies kein Zufall, sondern hat System: Handelt es sich bei dem Begriff der „Leistungsgerechtigkeit“ doch letztlich um einen „entleerten Signifikanten“ (Schäfer, 2018, S. 53), das heißt um einen „Signifikanten ohne Signifikat“ (Laclau, 2002, S. 65), der gerade durch seine Unschärfe und Unbestimmtheit eine Vielzahl von Äquivalenzen und Differenzen erzeugt, durch die sich das hegemoniale Leistungsprinzip gegen Kritik von außen immunisiert und stabilisiert. Fragen der Leistungsgerechtigkeit dürfen daher nicht bloß unter dem Aspekt der Chancengleichheit oder „Fairness“ (Prengel, 2015, S. 161) diskutiert werden. Ausgangspunkt muss vielmehr die Perspektive der vom Leistungsprinzip Ausgeschlossenen sein (vgl. Jantzen, 2016, S. 142), also jener Exkludierten, für die der meritokratische Grundsatz „Leistung gegen Teilhabe“ gerade nicht mehr gilt, indem ihnen ein Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft schlicht verweigert wird (vgl. Bude, 2008, S. 14f.). Eine interessante Perspektive eröffnen hier die in den Disability Studies unternommenen Forschungen zum Konzept des Ableism/ Disableism (vgl. Wolbring & Yumakulov, 2015), in denen nach den Fähigkeiten und Fähigkeitserwartungen gefragt wird, die bestimmten gesellschaftlichen Leistungsidealen zugrunde liegen (vgl. Hoffmann, 2018, S. 73). Einer kritischen Revision bedarf nach Schönwiese (2008) auch die Opferrolle, die Menschen mit Behinderung in diesem Zusammenhang zugedacht wird. Sie erscheint genauso reduktionistisch wie ihr Gegenstück, der Heldenmythos vom „Superkrüppel“ (engl. „super cripple“), der allen Schicksalsschlägen zum Trotz sein Leben selbst in die Hand nimmt und sich mit eisernem Willen immer wieder zu neuen Höchstleistungen aufschwingt (vgl. Scholz, VHN 4 | 2019 322 THOMAS HOFFMANN, GREGOR WOLBRING Behinderung und Spitzensport in den Medien TRE ND 2010, S. 126). Beispielhaft dafür erscheint das Lebensmotto des US-Amerikaners Noah Galloway, eines ehemaligen Irak-Kämpfers und Extremsportlers, der im Krieg das linke Bein und den linken Arm verloren hat und in seiner Autobiografie „Living with no excuses“ (2016) seine Maxime mit den Worten umschreibt: „You can choose to be bitter or you can choose to be better 1 .“ Sierck stellt fest, dass weder Opfernoch Heldenbild der Realität von Behinderung gerecht werden: „Das wohlmeinende Zeigen auf vorbildliche, mutige, erfolgreiche oder sportlich herausragende behinderte Frauen und Männer der Gegenwart entkommt nicht der Zwickmühle zwischen Hervorhebung und Verharmlosung“ (Sierck, 2017, S. 11). In der öffentlichen Berichterstattung über den Behindertensport ist die Tendenz zur falschen Heroisierung besonders stark ausgeprägt. Dies liegt gewiss zum Teil in der Natur der Sache, da die mediale Aufmerksamkeit sich grundsätzlich eher dem Außergewöhnlichen, Sensationellen und Herausragenden zuwendet als dem alltäglichen Leben und dessen realer Komplexität. Hinzu kommt, dass mit zunehmender Kommerzialisierung auch im Behindertensport Spitzenleistungen immer mehr an Bedeutung gewinnen und das Klischee des „Superkrüppels“ vielfältige Möglichkeiten der (Selbst-) Vermarktung eröffnet: angefangen bei TV- Berichten über spektakuläre „Stunts“, wie die Erstbesteigung des Mount Everest mit einem amputierten Bein durch Tom Whittaker im Jahr 1998, der dabei nur von einem CBS-Kameramann begleitet wurde, über Auftritte als Motivations-Coach und Festredner bei Unternehmensfeiern 2 bis hin zu werbewirksamen Großereignissen wie den Paralympics. Die herausragende Bedeutung des „Superkrüppel“-Motivs konnte in verschiedenen Untersuchungen zur Berichterstattung über die Paralympics in der New York Times (vgl. Tynedal & Wolbring, 2013), zur medialen Darstellung der Paralympischen Spiele 2012 in London (vgl. Crow, 2014) und zu Berichten der kanadischen Presse über Paratriathleten (vgl. Wolbring & Martin, 2018) aufgezeigt werden. Ein Trickle- Down-Effekt, d. h. ein positiver Einfluss der öffentlichen Anerkennung des Behinderten- Spitzensports auf den Breitensport von Menschen mit Behinderung, ließ sich dabei bisher kaum nachweisen (vgl. Wolbring & Litke, 2012; Mahtani et al., 2013). Hier verhindern noch immer allgemeine gesellschaftliche Vorurteile, sportpädagogische Körperpraxen und strukturelle Barrieren (Organisation, Mobilität, Finanzierung) die Inklusion behinderter Menschen im Sport (vgl. Fitzgerald, 2018; Ruin & Giese, 2018, S. 187ff.). Eng mit dem „Superkrüppel“-Thema verbunden sind Berichte über das High-Tech-Equipment behinderter Spitzensportler/ innen und das dadurch evozierte Bild des Cyborgs, das spätestens mit der breiten Sichtbarkeit des Läufers Oscar Pistorius und des Streits um seine Teilnahme an den Olympischen Spielen 2008 entstanden ist (vgl. Tynedal & Wolbring, 2013). 2016 fand an der ETH Zürich die erste Cyborg-Olympiade statt: Dieser „Cybathlon“ war ein Wettkampf für körperbehinderte Sportler/ innen, die in sechs Disziplinen gegeneinander antraten, darunter ein Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation, ein Parcours mit robotischen Exoskeletten und ein virtuelles Rennen mit Gedankensteuerung 3 . In der Berichterstattung der Medien standen vor allem technische Aspekte im Mittelpunkt. Die Sportler/ innen wurden vornehmlich durch medizinische Kategorien beschrieben. Es wurde viel Werbung für die neuen technologischen Möglichkeiten der Verbesserung und Modifizierung des menschlichen Körpers gemacht, die sowohl die Grenzen menschlicher Fähigkeiten als auch die des Sports erweitern sollen. Kritische Kommentare zu den möglichen ethischen und gesellschaftlichen Problemen gab es dagegen nicht (vgl. Wolbring, 2018). VHN 4 | 2019 323 THOMAS HOFFMANN, GREGOR WOLBRING Behinderung und Spitzensport in den Medien TRE ND Die mediale Darstellung behinderter Spitzensportler/ innen als „Superkrüppel“ oder Cyborg vermittelt ein verzerrtes Bild von Behinderung: In beiden Fällen erscheint der behinderte Körper als Projektionsfläche für allgemeine gesellschaftliche Fähigkeitserwartungen der Selbstbestimmung, Selbstüberwindung, Selbstverbesserung oder Selbstvervollkommnung, die letztlich die Körperlichkeit und Verletzlichkeit des Menschen negieren. Im Fall des „Superkrüppels“ überwindet der starke Wille den schwachen Körper, im Fall des Cyborgs wird die fehlende oder nicht der Norm entsprechende Leistungsfähigkeit des Körpers durch technische Ergänzungen kompensiert, normalisiert und verbessert. Die Alternative zu diesen gesellschaftlichen Phantasmen, an deren Idealen der normierten Leistungsfähigkeit und permanenten Leistungssteigerung auch nicht-behinderte Menschen regelmäßig scheitern, läge in einem kritischen Diskurs über die dabei zugrunde liegenden Normvorstellungen und Fähigkeitserwartungen sowie in einer respektvollen Haltung gegenüber der Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers. Anmerkungen 1 Siehe http: / / noahgalloway.com 2 Siehe http: / / www.tomwhittaker.com 3 Vgl. http: / / www.cybathlon.ethz.ch/ de/ diszipli nen.html Literatur Bude, H. (2008). Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München: Carl Hanser. Crow, L. (2014). Scroungers and superhumans: Images of disability from the summer of 2012: A visual inquiry. Journal of Visual Culture, 13 (2), 168 -181. https: / / doi.org/ 10.1177/ 1470412914 529109 Fitzgerald, H. (2018). Disability and barriers to inclusion. In I. Brittain & A. Beacom (eds.), The Palgrave Handbook of Paralympic Studies, 55 -70. London, UK: Springer. https: / / doi.org/ 10.1057/ 978-1-137-47901-3_4 Galloway, N. (2016). Living with No Excuses. New York: Center Street. Hoffmann, T. (2018). Leistungsfähigkeit und Leistungsgerechtigkeit aus behinderten- und inklusionspädagogischer Perspektive. In T. Sansour, O. Musenberg & J. Riegert (Hrsg.), Bildung und Leistung: Differenz zwischen Selektion und Anerkennung, 70 -80. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Jantzen, W. (2016). Paranoider Raum und Grenze als Grundbegriffe einer Soziologie der Exklusion. Behindertenpädagogik, 55 (2), 125 -145. Laclau, E. (2002). Emanzipation und Differenz. Wien, Berlin: Turia + Kant. Lütje-Klose, B., Boger, M.-A., Hopmann, B. & Neumann, P. (Hrsg.) (2017). Leistung inklusive? Inklusion in der Leistungsgesellschaft, Bd. I. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Mahtani, K. R., et al. (2013). Can the London 2012 Olympics ‘inspire a generation’ to do more physical or sporting activities? An overview of systematic reviews. BMJ Open, 3 (1). https: / / doi. org/ 10.1136/ bmjopen-2012-002058 Prengel. A. (2015). Pädagogik der Vielfalt: Inklusive Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung. Erwägen Wissen Ethik 26 (2), 157-167. Ruin, S. & Giese, M. (2018). (Im-)perfekte Körper: Ableistische Analysen zu körperbezogenen Normalitätsidealen in der Sportpädagogik. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 87 (3), 185 -190. https: / / doi. org/ 10.2378/ vhn2018.art20d Sansour, T., Musenberg, O. & Riegert, J. (Hrsg.) (2018). Bildung und Leistung: Differenz zwischen Selektion und Anerkennung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Schäfer, A. (2018). Das problematische Versprechen einer Leistungsgerechtigkeit. In T. Sansour, O. Musenberg & J. Riegert (Hrsg.), Bildung und Leistung: Differenz zwischen Selektion und Anerkennung, 11 -56. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Schildmann, U. (2017). Leistung in der Inklusiven Pädagogik - normalismustheoretisch reflektiert. In B. Lütje-Klose, M.-A. Boger, B. Hopmann. & P. Neumann (Hrsg.), Leistung inklusive? Inklusion in der Leistungsgesellschaft, Bd. I, 83 -90. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. VHN 4 | 2019 324 THOMAS HOFFMANN, GREGOR WOLBRING Behinderung und Spitzensport in den Medien TRE ND Scholz, M. (2010). Presse und Behinderung: Eine qualitative und quantitative Untersuchung. Wiesbaden: VS Verlag. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-92112-9 Schönwiese, V. (2008). Über die Schwierigkeit, Behinderung zu verstehen. Rede zum IMEW-Preis, Berlin, 10. 10. 2008. Abgerufen am 1. 2. 2019 von http: / / bidok.uibk.ac.at/ library/ schoenwiese-dan kesrede.html Sierck, U. (2017). Widerspenstig, eigensinnig, unbequem: Die unbekannte Geschichte behinderter Menschen. Weinheim: Beltz Juventa. Textor, A., Grüter, S., Schiermeyer-Reichl, I. & Streese, B. (Hrsg.) (2017). Leistung inklusive? Inklusion in der Leistungsgesellschaft, Bd. II. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Tynedal, J. & Wolbring, G. (2013). Paralympics and its athletes through the lens of the New York Times. Sports, 1 (1), 13 -36. https: / / doi.org/ 10. 3390/ sports1010013 Wolbring, G. (2018). Media coverage of Cybathlon 2016: Implication for ParaSport. In I. Brittain & A. Beacom (eds.), The Palgrave Handbook of Paralympic Studies, 439 -459. Basingstoke, UK.: Palgrave MacMillan. Wolbring, G. & Litke, B. (2012). Superhip to supercrip: the ‘trickle-down’ effect of the Paralympics. Abgerufen am 1. 2. 2019 von https: / / theconversation.com/ superhip-to-supercripthe-trickle-down-effect-of-the-paralympics- 9009 Wolbring, G. & Yumakulov, S. (2015). Education through an Ability Studies Lens. Zeitschrift für Inklusion, 10 (2). Abgerufen am 1. 2. 2019 von https: / / www.inklusion-online.net/ index.php/ inklusion-online/ article/ view/ 278/ 261 Wolbring, G. & Martin, B. J. S. (2018). Analysis of the coverage of paratriathlon and paratriathletes in Canadian newspapers. Sports, 6 (3), 87. https: / / doi.org/ 10.3390/ sports6030087 Anschriften der Autoren Prof. Dr. Thomas Hoffmann Universität Innsbruck Professur für Inklusive Pädagogik Fürstenweg 176 A-6020 Innsbruck E-Mail: thomas.hoffmann@uibk.ac.at Dr. Gregor Wolbring University of Calgary Rehabilitation and Disability Studies 3330 Hospital Drive NW CA-T2N4N1 Calgary E-Mail: gwolbrin@ucalgary.ca