Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2019.art45d
101
2019
884
Peereinfluss und Peerbeziehungen an Schulen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung - Die Studie KomPeers
101
2019
Christoph Michael Müller
Zahlreiche Forschungsarbeiten zeigen, dass die Entwicklung typisch entwickelter Kinder und Jugendlicher in erheblichem Maße durch die sie umgebende Peergruppe geprägt wird (Übersicht z.B. Bukowski et al., 2018). In Bezug auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung wird Peereinfluss hingegen selten betrachtet und zumeist auf die Rolle von individuellen Faktoren, Eltern und Fachpersonen fokussiert. In der Tat ist bisher weitgehend unklar, inwiefern die Peers die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung beeinflussen. [...]
5_088_2019_4_0008
325 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE VHN, 88. Jg., S. 325 -327 (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art45d © Ernst Reinhardt Verlag Peereinfluss und Peerbeziehungen an Schulen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung - Die Studie KomPeers Christoph Michael Müller Universität Freiburg/ CH Zahlreiche Forschungsarbeiten zeigen, dass die Entwicklung typisch entwickelter Kinder und Jugendlicher in erheblichem Maße durch die sie umgebende Peergruppe geprägt wird (Übersicht z. B. Bukowski et al., 2018). In Bezug auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung wird Peereinfluss hingegen selten betrachtet und zumeist auf die Rolle von individuellen Faktoren, Eltern und Fachpersonen fokussiert. In der Tat ist bisher weitgehend unklar, inwiefern die Peers die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung beeinflussen. Als zentraler Ort der Peersozialisation gilt die Schule, da dort ein Großteil des Tages verbracht wird. In der vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Studie „KomPeers - Kompetent mit Peers“ werden deshalb die schulischen Peerbeziehungen und Peereinflussprozesse bei Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung detailliert untersucht. Ein besonderer Schwerpunkt der Studie liegt dabei auf der Frage, welche Bedeutung sozialer Einfluss auf die Entscheidungsprozesse von Schüler/ innen mit einer geistigen Behinderung hat. Neben der Rolle der Peers für die Schüler/ innen wird in KomPeers auch die Bedeutung der Lehrerkolleg/ innen als Peergruppe der Lehrpersonen betrachtet. Hierbei wird untersucht, inwiefern Eigenschaften des Lehrerkollegiums die individuelle Belastung von Lehrpersonen durch Verhaltensprobleme von Schüler/ innen abpuffern können. Hintergrund Um die Bedeutung der Peers für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung besser zu verstehen, stellt sich zuerst die Frage, von welchen Peers diese Schüler/ innen in der Regel umgeben sind. Trotz Bemühungen um eine integrative Beschulung wird ein großer Teil der Schüler/ innen mit einer geistigen Behinderung (insbesondere jene mit einer schwereren Beeinträchtigung und mit herausforderndem Sozialverhalten) in spezialisierten Schulen für diesen Personenkreis unterrichtet (z. B. KMK, 2016; Sermier Dessemontet et al., 2011). Für den Schweizer Kontext liegen bisher erst wenige Informationen zur Zusammensetzung der Schülerschaft an solchen Schulen vor (z. B. Lienhard, 2002). Um den Peerkontext genau beschreiben zu können, gilt es deshalb als Erstes, zentrale Charakteristika der Schülerschaft an Schulen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung zu erfassen (z. B. Alltagskompetenzen, Sozialverhalten; s. a. Dworschak et. al., 2012). Der Peerkontext der Schule und der Schulklasse könnte dabei einerseits als Ganzes einen Einfluss auf die Kompetenz- und Sozialentwicklung von Kindern und Jugendlichen haben (Müller & Zurbriggen, 2016). Andererseits beeinflussen sich Schüler/ innen häufig auch innerhalb kleinerer sozialer Netzwerke, wie beispielsweise in Freundschaften oder Cliquen (Laursen, 2018). Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Studie auch untersucht, welche sozialen Beziehungen zwischen Schüler/ innen innerhalb von Schulen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung bestehen. Auf dieser Basis können Bedingungen für die soziale Akzeptanz und Ablehnung von Schüler/ innen ermittelt und Peereinflussprozesse betrachtet werden. Über den sozialisierenden Einfluss der Mitschüler/ innen hinaus stellt sich die Frage, welche Rolle der soziale Einfluss bei Entscheidungsprozessen von Schüler/ innen mit einer geistigen Behinderung spielt. So deuten manche Studien darauf hin, dass sich Menschen mit einer geistigen Behinderung in unsicheren Entscheidungssituationen stark an anderen Personen orientieren und sich durch diese manchmal auch zu mehr Risikoverhalten verleiten lassen (z. B. Bexkens et al., 2018; Khemka & Hickson, 2006). In KomPeers wird deshalb auch untersucht, inwiefern sich Jugendliche mit einer geistigen Behinderung in spezifischen Entscheidungssituationen an der Meinung anderer Personengruppen (z. B. Kinder, Jugendliche, Erwachsene) orientieren. Neben diesen schülerbezogenen Fragestellungen wird in KomPeers die berufliche Situation von Lehrpersonen an Schulen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung betrachtet. So können die an diesen Schulen oftmals stark VHN 4 | 2019 326 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE ausgeprägten Verhaltensprobleme von Schüler/ innen für Lehrpersonen eine Belastung darstellen und zu Beeinträchtigung des Wohlbefindens, Burnout sowie Stellen- oder Berufswechsel beitragen (z. B. Aldrup et al., 2018; Tsouloupas et al., 2010). Es ist deshalb zentral zu verstehen, inwiefern neben individuellen Eigenschaften von Lehrpersonen auch das Peerumfeld der Kolleg/ innen eine Rolle dabei spielt, wie belastend problematisches Schülerverhalten erlebt wird. Methode Zur Beantwortung der Fragen zu Peereinfluss und Peerbeziehungen unter Schüler/ innen mit einer geistigen Behinderung umfasst KomPeers einerseits eine umfangreiche, fragebogenbasierte Längsschnittstudie mit zwei Messzeitpunkten, die auf anonymen Auskünften von Lehrpersonen basiert. Andererseits werden mit Schüler/ innen mit geistiger Behinderung computerbasierte Aufgaben zu sozialen Einflussprozessen durchgeführt. Im Rahmen der Fragebogenstudie werden mithilfe standardisierter schriftlicher Befragungen von Lehrpersonen Informationen zu den Alltagskompetenzen, dem Sozialverhalten und Hintergrundmerkmalen der Schülerschaft an Deutschschweizer Heilpädagogischen Schulen ermittelt (Informationen zu > 1000 Schüler/ innen aller Altersgruppen aus sechs Kantonen). Die Datenerhebung am Anfang und am Ende eines Schuljahres erfolgt vollkommen anonym, d. h. die Forschenden haben niemals Zugang zu den Namen von Lehrpersonen oder Schüler/ innen. Peerbeziehungen werden anschließend mithilfe sozialer Netzwerkanalysen ermittelt. Die Untersuchung von Peereinflusseffekten in der Schule erfolgt anhand mehrebenenanalytischer Verfahren. Die Frage des sozialen Einflusses in Entscheidungssituationen wird mithilfe von standardisierten Computeraufgaben bearbeitet. Diese Aufgaben werden von Jugendlichen mit einer leichten geistigen Behinderung sowie typisch entwickelten Kindern und Jugendlichen gelöst. Die Aufgaben stellen die Teilnehmenden vor verschiedene Entscheidungen (z. B. Bewertung der „Coolness“ von Kleidungsstücken), wobei jeweils betrachtet wird, welche Rolle die Meinung fiktiver anderer für die eigene Entscheidungsfindung spielt. Ergebnisse werden u. a. durch Vergleiche zwischen und innerhalb der Teilnehmergruppen gewonnen. Die Fragen zur Belastungssituation und zu den damit im Zusammenhang stehenden sozialen Prozessen unter Lehrpersonen werden unter Einsatz standardisierter Instrumente mithilfe anonymer Lehrerfragebogen beantwortet. Die diesbezüglichen Datenanalysen erfolgen voraussichtlich mithilfe von Strukturgleichungsmodellen. Relevanz der Studie Die Ergebnisse von KomPeers lassen sowohl grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse als auch praktische Implikationen erwarten. Die systematische Beschreibung der Schülerschaft an Heilpädagogischen Schulen in Bezug auf Alltagskompetenzen, Sozialverhalten und Hintergrundfaktoren wird wichtige Einblicke in die pädagogischen Bedürfnisse an solchen Schulen geben. Die Ergebnisse zu Peerbeziehungen und Peereinfluss bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung werden Wissen dazu liefern, wie bedeutsam der Peerkontext für die Entwicklung dieses Personenkreises ist. Basierend auf solchen Erkenntnissen können pädagogische Ansatzpunkte für den Aufbau positiver Beziehungen und die Unterstützung positiver Einflussprozesse zwischen Schüler/ innen entwickelt werden. Befunde zur Bedeutung von sozialem Einfluss in Entscheidungssituationen können dazu beitragen, besser zu verstehen, wie Personen mit einer geistigen Behinderung ihre Entscheidungen treffen und wie sie ggf. angemessen dabei unterstützt werden können. Die Angaben zum Belastungserleben der Lehrpersonen werden empirisch fundierte Aussagen zur Beanspruchung von Lehrpersonen an Heilpädagogischen Schulen erlauben. Von besonderem Interesse ist dabei zu sehen, welche Formen von Verhaltensproblemen von Lehrpersonen als belastend erlebt werden, so dass ggf. spezifische Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen ergriffen werden können. Ebenso könnten die Erkenntnisse zur Bedeutung sozialer Prozesse innerhalb von Lehrerkollegien konkrete Perspektiven für die schulweite Unterstützung von Lehrpersonen in Belastungssituationen erbringen. VHN 4 | 2019 327 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Die Studie KomPeers wird am Departement für Sonderpädagogik der Universität Freiburg/ CH in enger Zusammenarbeit mit 16 Heilpädagogischen Schulen in der Deutschschweiz durchgeführt. Sie hat eine Laufzeit von 30 Monaten und wird seit 1/ 2018 durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziert (SNF-172773; Studienleitung: Prof. Dr. Christoph Michael Müller, Universität Freiburg/ CH; Projektpartner: Prof. Dr. Toon Cillessen, Radboud University/ NL; Prof. Dr. Christian Huber, Bergische Universität Wuppertal/ D). Im Rahmen von KomPeers und der Studie angegliederten Forschungsprojekten an der Universität Freiburg werden mehrere Dissertationen erstellt (Meta Amstad, Sara Egger, Gina Nenniger, Noemi Schoop-Kasteler). Mit ersten publizierten Ergebnissen ist im Jahr 2020 zu rechnen. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei christoph.mueller2@unifr.ch
