eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 88/VHN Plus

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2019
88VHN Plus

Fachbeitrag: Das Pädagogische der Sonderpädagogik?

11
2019
Andreas Kuhn
Sowohl die aktuelle allgemeinpädagogische Debatte um das Verhältnis von Theorie und Empirie als auch die Diskussion um die Legitimation und Begründung der Sonderpädagogik im Kontext der Inklusionsdebatte referieren auf die Frage nach Einheit und Differenz der Pädagogik / Erziehungswissenschaft sowie auf die Frage, was das Pädagogische der Pädagogik sei. Anknüpfend an diese Fragen rekonstruiert der Beitrag knapp die historische Verständigung des Pädagogischen in der Pädagogik / Erziehungswissenschaft sowie in der Sonderpädagogik. Im Anschluss an neuere allgemein- und sonderpädagogische Arbeiten wird eine Perspektive auf eine pädagogische Begründung der Sonderpädagogik entwickelt, die sich durch die Thematisierung und Bearbeitung der pädagogischen Konstitution von Gleichheit / Ungleichheit sowie Teilhabe / Ausschluss entlang der Unterscheidung von Pädagogischem/Nicht-Pädagogischem auszeichnet.
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1 VHN plus , 88. Jg. (2019) DOI 10.2378/ vhn2019.art04d © Ernst Reinhardt Verlag FACH B E ITR AG Sonderpädagogik im Diskurs Das Pädagogische der Sonderpädagogik? Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik zwischen Einheit und Differenz des Pädagogischen Andreas Kuhn Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Zusammenfassung: Sowohl die aktuelle allgemeinpädagogische Debatte um das Verhältnis von Theorie und Empirie als auch die Diskussion um die Legitimation und Begründung der Sonderpädagogik im Kontext der Inklusionsdebatte referieren auf die Frage nach Einheit und Differenz der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft sowie auf die Frage, was das Pädagogische der Pädagogik sei. Anknüpfend an diese Fragen rekonstruiert der Beitrag knapp die historische Verständigung des Pädagogischen in der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft sowie in der Sonderpädagogik. Im Anschluss an neuere allgemein- und sonderpädagogische Arbeiten wird eine Perspektive auf eine pädagogische Begründung der Sonderpädagogik entwickelt, die sich durch die Thematisierung und Bearbeitung der pädagogischen Konstitution von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss entlang der Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht-Pädagogischem auszeichnet. Schlüsselbegriffe: Wissenschaftstheorie, Praxis/ Theorie/ Empirie, Sonderpädagogik, Pädagogik, Einheit/ Differenz The Pedagogy in Special Education? Considerations on the Pedagogical Justification of Special Education between Unity and Difference of Pedagogy Summary: The current general pedagogical debate on the relationship between theory and empiricism as well as the discussion on the legitimacy and justification of special education in the context of the inclusion debate, refer to the question of unity and difference in pedagogy/ educational science as well as to the question what pedagogy is. Following up on these questions, the article reconstructs the historical understanding of pedagogy in pedagogy/ educational science as well as in special education. Subsequent to recent general and special educational work, a perspective is developed on a pedagogical justification of special education, which is characterized by the discussion and elaboration of the pedagogical constitution of equality/ inequality as well as participation/ exclusion along the distinction between pedagogical/ non-pedagogical. Keywords: Philosophy of science, practice / theory / empiricism, special education, pedagogy, unity / difference VHN plus 2 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG 1 Die Frage nach dem Pädagogischen im Kontext aktueller Debatten Den Kontext zu den folgenden Überlegungen bilden mindestens zwei Debatten in der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft seit den 2000er Jahren. Zum einen geht es im Rahmen einer aktuell vielfach konstatierten Dominanz empirischer Forschung erneut um die Frage, was Pädagogik als Wissenschaft auszeichnet, und um die Frage nach Bedeutung und Funktion der Arbeit an der Theorie (Bellmann, 2011; Glaser & Keiner, 2015; Dinkelaker, Meseth, Neumann & Rabenstein, 2016; Dederich & Felder, 2016). Zum anderen wird in der aktuellen Inklusionsdebatte wiederholt die Frage nach der Legitimation und Begründung der Sonderpädagogik aufgeworfen (Hinz, 1993, 2009; Moser, 2003; Prengel, 2006). Gemeinsam ist den Debatten, dass es zentral, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise, um die Frage nach Einheit und Differenz der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft geht und dass sie auf die Frage verweisen, was das Pädagogische der Pädagogik ist. Diesen Fragen soll im Folgenden, mit Blick auf eine pädagogische Begründung der Sonderpädagogik, nachgegangen werden. Während die Frage nach einer Theorie der Sonderpädagogik bis Anfang der 2000er Jahre im Fach kritisch diskutiert wurde (Lindmeier, 1993; Moser, 2003; Weisser, 2005), scheint mit der zunehmenden Diskussion um Behinderung im Kontext der Disability Studies und um Inklusion als eine allgemeinpädagogische Aufgabe die Frage nach einer Theorie der Sonderpädagogik zunehmend in den Hintergrund zu treten. Gleichzeitig ist, auch in der Sonderpädagogik, eine erneute empirische Wende zu verzeichnen. Zwar gewinnt die Sonderpädagogik mit der Diskussion um Behinderung als pädagogische Problemstellung sowie mit der Debatte um Inklusion als schulpädagogische Aufgabe Anschluss an die erziehungswissenschaftliche Diskussion um Heterogenität und Differenz sowie um die Gestaltung und Entwicklung von Schule. Jedoch finden sich in der Sonderpädagogik nach wie vor kaum Anschlüsse an die Frage nach dem Pädagogischen. In diesem Zusammenhang bleibt weiterhin weitgehend unklar, wie sich Sonderpädagogik als Pädagogik versteht und wie sich Sonderpädagogik pädagogisch begründen lässt (Moser, 2003; Kuhn, 2015). Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, entlang der Frage nach dem Pädagogischen einige Perspektiven auf die Möglichkeit und Notwendigkeit einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik zu entwickeln. Im ersten Schritt soll dazu der Frage nach dem Pädagogischen und der Pädagogik nachgegangen werden (2). In Anschluss daran geht es um die Frage nach dem Pädagogischen der Sonderpädagogik (3). Vor diesem Hintergrund wird dann ausgeführt, wie eine pädagogische Begründung der Sonderpädagogik aussehen könnte (4). 2 Das Pädagogische und die Pädagogik Was ist das Pädagogische der Pädagogik? - Die Frage nach dem Pädagogischen verweist auf die Frage nach einer Eigenheit des Pädagogischen, auf die eigentümliche Verfasstheit pädagogischen Denkens und Handelns. Nicht zuletzt geht es um die Frage nach der Einheit der Pädagogik und ihrer (relativen) Autonomie gegenüber weiteren Bereichen menschlichen Denkens und Handelns und somit auch um die Unterscheidung von Pädagogischem und Nicht- Pädagogischem bzw. Pädagogik und Nicht- Pädagogik. Seit Herbart werden diese Fragen unter Verweis auf die „einheimischen Begriffe“ aufgeworfen, die eben der Beschreibung der Eigenheit pädagogischen Handelns und der Etablierung und Abgrenzung der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft gegenüber weiteren Bereichen menschlichen Handels sowie Diszipli- VHN plus 3 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG nen und Professionen dienen. Insgesamt geht es dabei um die Verständigung der Frage nach dem Gegenstand der Pädagogik (Benner, 2001; Prange, 2005; Dinkelaker et al., 2016; Neumann, 2010). Ausgehend von der historischen Annahme einer (relativen) Autonomie pädagogischer Praxis und vermittelt in der Vorstellung einer Einheit der Pädagogik in Praxis und Theorie (und Empirie), gleichsam die disziplinäre Eigenständigkeit der Pädagogik begründend, gehört die Frage nach dem Pädagogischen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu den selbstverständlichen und zentralen Themen der Pädagogik. Mit dem Fraglichwerden des Zusammenhangs von Praxis, Theorie und Empirie verliert sie seit den 1960er Jahren jedoch ihren selbstverständlichen Platz in der pädagogischen Verständigung. Spätestens mit der universitären Etablierung der Pädagogik als (Erziehungs-)Wissenschaft sowie ihrer disziplinären, institutionellen und professionellen Ausdifferenzierung und Expansion seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird die Frage nach dem Pädagogischen prekär (Benner & Brüggen, 2000; Benner, 2001; Dinkelaker et al., 2016). Dabei verweist die Frage nach dem Pädagogischen, die spätestens seit den 1990er Jahren die Frage nach der Pädagogik zunehmend ablöst und verdrängt, selbst auf die Pluralisierung, Entgrenzung und Diffusion des Pädagogischen in Praxis, Theorie und Empirie (Oelkers & Tenorth, 1991). In diesem Kontext verzichtet die Pädagogik/ Erziehungswissenschaft zunehmend auf systematische Gesamtentwürfe einer Einheit der Pädagogik und wendet sich einerseits verstärkt der Mikrostruktur pädagogischen Handelns zu (Combe & Helsper, 1996; Kade & Seither, 2007; Berdelmann & Fuhr, 2009). Andererseits thematisiert sie Form und Struktur pädagogischen Wissens sowie - selbstreferenziell - die Pädagogik als Wissenschaft im Rahmen von Wissenschaftsforschung (Oelkers & Tenorth, 1991). Angesichts der institutionellen, professionellen und disziplinären Ausdifferenzierung der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft sowie ihrer gleichzeitigen Diffusion stellt sich nun zum einen die Frage, ob und wie sich noch sinnvoll von einer Einheit der Pädagogik sprechen lässt (Benner, 2001). Zum anderen kommt mit dem Fraglichwerden des Zusammenhangs von Praxis, Theorie und Empirie nicht nur die pädagogische Praxis als selbstverständlicher und gemeinsamer Bezugspunkt von pädagogischer Theorie und Empirie sowie als (quasi-gegenständliche) Einheit stiftende Figur abhanden. Darüber hinaus wird fraglich, was das Besondere der Erziehungswissenschaft in ihrem Verhältnis zu weiteren (Sozial-)Wissenschaften markiert, wenn dieses weder in der Spezifik eines methodischen Zugangs noch in einem besonderen, der Pädagogik eigenen Gegenstand - z. B. pädagogischer Praxis - begründet werden kann (Meseth, Dinkelaker, Neumann & Rabenstein, 2016; Neumann, 2010). Die Frage nach dem Pädagogischen scheint in besonderer Art und Weise begründungsbedürftig geworden zu sein, zumindest versteht sie sich nicht mehr von selbst. Und gleichzeitig scheint die Pädagogik/ Erziehungswissenschaft sich dieser Frage nicht entledigen zu können, ohne dabei selbst auf der Strecke zu bleiben. Vielmehr erweist sich die Frage in und durch gegenläufige Konjunkturen hindurch und in verschiedenen Kontexten in ganz unterschiedlicher Art und Weise als unverzichtbar (Benner, 2001; Prange, 2005; Neumann, 2010; Glaser & Keiner, 2015; Dinkelaker et al., 2016). Mit der Betonung der Differenz von (pädagogischer) Praxis, Theorie und Empirie und der gleichzeitig zunehmenden Selbstreferenzialität der Pädagogik als Wissenschaft und ihrer Autonomisierung gegenüber der pädagogischen Praxis stellt sich die Frage nach dem Pädagogischen gewissermaßen in dreifach verschiedener Art und Weise: 1. als Frage nach der VHN plus 4 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG (praktischen) Konstitution des Pädagogischen im Rahmen unterschiedlicher Bereiche und Praktiken pädagogischen Handelns, 2. als Frage nach der Konzeptualisierung des Pädagogischen im Rahmen der theoretischen Reflexion und praktischen Orientierung sowie der empirischen Erforschung von pädagogischer Praxis und pädagogischem Handeln und 3. als Frage nach der Selbstthematisierung der Konstitution des Pädagogischen im Rahmen der theoretischen Verständigung und empirischen Erforschung des Pädagogischen in der Praxis der Wissenschaft im Sinne einer reflexiven Pädagogik/ Erziehungswissenschaft. In diesem Sinne lassen sich verschiedene Bereiche unterscheiden, in denen das Pädagogische in unterschiedlicher Art und Weise hervorgebracht wird. So unterscheiden Dinkelaker et al. (2016) ausgehend von der „Differenz zwischen den in der Wissenschaft entwickelten Konzepten des Pädagogischen und den in den Erziehungsrealitäten selbst hergestellten Konturierungen“ eine „Empirie des Pädagogischen“ und eine „Empirie der Erziehungswissenschaft“. Eine „Empirie des Pädagogischen“ zielt auf die empirische Erschließung der „Eigenlogiken der untersuchten Felder“ der Erziehungswirklichkeit und damit auf eine Irritation der „gängigen Vorstellungen über das Wesen pädagogischer Sachverhalte durch empirische Analysen“ (ebd., S. 17). Eine „Empirie der Erziehungswissenschaft“, nimmt „in einer reflexiven Bewegung erziehungswissenschaftliches Forschen selbst noch einmal empirisch in den Blick“ und macht so „die erziehungswissenschaftliche Produktion von Wissen als einen gesellschaftlich situierten Vorgang und eine epistemische Praktik thematisierbar“ (ebd., S. 16). Während Dinkelaker et al. die Differenz von Wissenschaft und pädagogischer Praxis zum Ausgangspunkt der Irritation und Reflexion pädagogischen Wissens durch Empirie nehmen, fokussiert Bellmann mit der Entwicklung einer „theorieorientierten Bildungsforschung“ auf eine „Empirisierung der Grundlagendiskussion“ im Sinne der „(Re-)Konzeptualisierung eines Formalobjektes der Erziehungswissenschaft“ (Bellmann, 2011, S. 208). Theorieorientierter Forschung geht es „um die zur Beschreibung des pädagogischen Feldes in Verwendung befindlichen Kategorien und ihren Wandel“ (ebd., S. 200). „Ziel ist dabei nicht ein technologisches Wissen zur Lösung gegebener Probleme, sondern eine (Re-)Problematisierung herkömmlicher oder neuer Beschreibungen des pädagogischen Feldes, die zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden und an deren Konstruktion eine theorieorientierte Forschung zugleich mitwirkt“ (ebd.). Anschließend an Bellmann und Dinkelaker et al. ergeben sich folgende Problemstellungen: Die Reflexion und Thematisierung des Verhältnisses, der Anschlussfähigkeit sowie der Leistung und der Grenzen verschiedener traditioneller - einheimischer - Begriffe (z. B.: Bildung, Erziehung, Bildsamkeit, Mündigkeit, pädagogischer Bezug) sowie neuer und aktueller begrifflicher Fassungen des Pädagogischen (z. B.: pädagogische Kommunikation, Vermitteln/ Aneignen, Zeigen und Lernen, Kompetenz, Angebot und Nutzung) (Neumann, 2010). Die Reflexion und Thematisierung der Leistung und der Grenzen unterschiedlicher methodischer Konzepte von Forschung und theoretisch-begrifflicher Fassungen des Pädagogischen bezüglich der Möglichkeit der Erfassung der Konstitution des Pädagogischen im Rahmen pädagogischer Praxis und Wissenschaft. Die Reflexion und Thematisierung der Konstitution des Pädagogischen als Forschungsgegenstand im Kontext unterschiedlicher sozialtheoretischer, gegenstandstheoretischer und methodologischer Vorannahmen (Dinkelaker et al., 2016, S. 19; Neumann, 2010) sowie die Analyse praxisformierender Effekte im Sinne einer „Rekursivität von Forschung und Forschungsgegenstand“ (Bellmann, 2011, S. 206). VHN plus 5 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wendet sich der Blick vom Bemühen um eine einheitliche und allgemeingültige, quasigegenständliche Bestimmung des Pädagogischen hin zur Thematisierung und Reflexion der Differenz unterschiedlicher Bestimmungen sowie der Vielfalt der Darstellungsformen des Pädagogischen in Praxis, Theorie und Empirie. Dinkelaker beschreibt das als „Übergang […] von einer Erziehungswissenschaft, die Einheit begründet, zu einer Erziehungswissenschaft, die Vielfalt beobachtet“ (Dinkelaker, 2010, S. 37). Das Pädagogische rückt im Modus seiner Verständigung ins Zentrum des Interesses. Der unübliche transitive Gebrauch des Begriffs der „Verständigung“ verweist hierbei darauf, dass das Pädagogische nicht als etwas (Gegebenes) zu haben ist, über das man sich verständigen könnte, vielmehr wird es erst in der und durch die Verständigung als Bestimmtes hervorgebracht. Das heißt zum einen in seiner Bestimmtheit, als pädagogisch Bestimmtes sowie als nicht-pädagogisch Bestimmtes, in dem ein Verständnis des Pädagogischen auf Dauer gestellt und so verständigt bzw. vergegenständlicht oder objektiviert wird. Zum anderen in der diskursiven Formation unterschiedlicher Bestimmungen des Pädagogischen. Und nicht zuletzt als (neu) zu Bestimmendes, im Prozess der Bestimmung und Aushandlung der Unterscheidung von Pädagogischem und Nicht-Pädagogischem. Die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Verständigung des Pädagogischen lässt sich so weder material, ausgehend von einer angenommenen Einheit des Pädagogischen als empirischem Gegenstand, noch begrifflich-systematisch, im Sinne eines (vor-)gegebenen einen und einheitlichen Verständnisses des Pädagogischen, begründen. Lediglich ausgehend von der Fraglichkeit der Frage nach der Eigenheit des Pädagogischen - das heißt entlang der Unterscheidung von Pädagogischem und Nicht- Pädagogischem - sowie der historischen Kontinuität und Diskontinuität der Verständigung des Pädagogischen selbst - das heißt entlang der Einheit und Differenz der Verständigung unterschiedlicher Positionen - lässt sich die Möglichkeit und Notwendigkeit einer fortgesetzten Verständigung des Pädagogischen begründen (Benner, 2001; Kuhn, 2015). 3 Das Pädagogische der Sonderpädagogik und die Einheit und Differenz von Pädagogik und Sonderpädagogik Die Frage nach dem Pädagogischen durchzieht ebenfalls die historische Selbstverständigung der Sonderpädagogik von Beginn an und folgt, z. T. bis heute, der Frage nach den Grenzen der Pädagogik sowie deren Thematisierung entlang der außerpädagogisch bestimmten Problemstellung „Behinderung“. Im Kontext der institutionellen, professionellen und disziplinären Etablierung der Sonderpädagogik findet sich die Thematisierung des Pädagogischen der Sonderpädagogik insbesondere im Rahmen ihrer Abgrenzung von der Medizin. Gleichzeitig erfolgte eine Abgrenzung hin zur Pädagogik, insbesondere zur Sozial- und Schulpädagogik, entlang der Vorläuferkategorien von Behinderung (z. B. Entartung, Seelenschwäche, Entwicklungshemmung, Wertsinnminderung) (Moser, 2000, 2003). Dabei bildet die sonderpädagogische Praxis der Arbeit mit als behindert bezeichneten Kindern und Jugendlichen den zentralen Referenzpunkt der Selbstverständigung der Sonderpädagogik sowie der Begründung einer in Theorie und Praxis eigenständigen Sonderpädagogik (Moser, 2003). Bezüge auf die Verständigung der Pädagogik als Wissenschaft und Anschlüsse an die allgemeinpädagogische Verständigung finden sich insbesondere seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entlang wissenschaftstheore- VHN plus 6 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG tischer und methodologischer Fragen, während die gegenstandstheoretische Verständigung der Sonderpädagogik weiterhin der Problemstellung Behinderung folgt (Bleidick, 1974; Jantzen, 1974); zunächst ohne in eine Verständigung der Frage nach dem Pädagogischen einzutreten. Stattdessen findet sich in diesem Zusammenhang, insbesondere im Kontext der Thematisierung von Behinderung, eine Orientierung an sozialwissenschaftlichen Kategorien wieder (z. B. Sozialisation, Interaktion, Kommunikation). Die Thematisierung von Behinderung als pädagogischer Aufgabe dient hier insbesondere der Legitimation und Begründung der Sonderpädagogik als Pädagogik der Behinderten (Bleidick, 1974, 1999). Mit der Entwicklung von Behinderung zur zentralen Kategorie der Sonderpädagogik setzt dann eine, in den 1980er Jahren zunehmende, Kritik an der Kategorie der Behinderung ein, die nicht zuletzt auf die Nicht-Anschlussfähigkeit des Behinderungsbegriffs an die pädagogische Verständigung fokussiert (Möckel, 1988; Speck, 1996). Ausgehend davon setzen einerseits Versuche einer alternativen Bestimmung der Sonderpädagogik ein, die jedoch ebenfalls nicht ohne Rekurs auf die „Semantik ‚Behinderung‘“ auskommen (Moser, 2003, S. 53; vgl. auch Möckel, 1988; Speck, 1996; Lindmeier, 1993), andererseits Bemühungen um eine Aufhebung der Sonderpädagogik in einer integrativen/ inklusiven wahrhaft allgemeinen Pädagogik, entlang der Verabschiedung von Behinderung als legitimatorischer Kategorie (Hinz, 1993; Eberwein, 1995). Markiert der Zusammenhang von Pädagogik und Behinderung bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht nur das Selbstverständliche der Sonderpädagogik, sondern bestimmt auch die Selbstverständigung der Sonderpädagogik zwischen Legitimation und Aufhebung, wird seit den 90er Jahren der Zusammenhang von Pädagogik und Behinderung in der Sonderpädagogik von unterschiedlicher Seite grundlegend infrage gestellt, ohne dabei zwangsläufig die Legitimation der Sonderpädagogik infrage zu stellen (Lindmeier, 1993, 2012; Zirfas, 1999; Moser, 2003; Weisser, 2005). Aus der Sonderpädagogik selbst wird auf die Schwierigkeit oder sogar Unmöglichkeit verwiesen, Sonderpädagogik entlang einer individualisierenden und anthropologisierenden Klientelbeschreibung zu begründen. Dagegen wird die Möglichkeit und Notwendigkeit einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik betont (Lindmeier, 1993; Moser, 2003). Auch in der allgemeinpädagogischen Diskussion finden sich diesbezügliche Einwände (Zirfas, 1999). Aus dem Bereich der Disability Studies wird insbesondere die Legitimation und Begründung der Sonderpädagogik entlang der stellvertretenden Bearbeitung der Problemstellung Behinderung und, in diesem Zusammenhang, eine verkürzte Diskussion der Problemstellung Behinderung in der Sonderpädagogik grundlegend infrage gestellt (Waldschmidt, 2003; Weisser, 2005). Auch in der aktuellen Diskussion um Inklusion wird, anschließend an die Integrationsdiskussion und forciert durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere mit Blick auf den Bereich Schule, Behinderung als allgemeinpädagogische Aufgabe und Problemstellung des Erziehungs- und Bildungssystems dargestellt, was nicht zwangsläufig mit einer Delegitimation der Sonderpädagogik einhergeht, jedoch das Legitimationsproblem neu stellt, wenn die stellvertretende Bearbeitung von Behinderung fraglich wird (Hinz, 1993, 2009; Eberwein, 1995; Prengel, 2006). Gegenläufig dazu ist gegenwärtig, nicht zuletzt durch den Erfolg der Disability Studies, ebenfalls eine Wiederbelebung von Behinderung als zentraler sonderpädagogischer Theoriefigur zu beobachten. Gleichzeitig betonen traditionell sonderpädagogisch argumentierende VHN plus 7 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG Arbeiten weiterhin die Bedeutsamkeit eines individuums- und anwendungsbezogenen Behinderungsbegriffs (Ahrbeck, 2011). Auch wenn die erneute Hinwendung zu Fragen einer Theorie der Behinderung im Kontext einer nahezu allgemein zu nennenden Revision des Behinderungsbegriffs nicht grundsätzlich zu problematisieren ist, täuscht sie doch erneut über die uneingelöste Notwendigkeit einer Verständigung des Pädagogischen in der Sonderpädagogik hinweg. Gerade aktuell muss daher wieder daran erinnert werden, dass sich die Frage nach einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik nicht ausgehend von der Frage nach Behinderung als vor- und außerpädagogisch bestimmter Problemstellung bearbeiten lässt. Das gilt im Übrigen ebenfalls für die Begründung einer inklusiven Pädagogik ausgehend von den Problemstellungen von Heterogenität/ Ungleichheit/ Differenz als außerpädagogisch bestimmter. Und umgekehrt kommt eine pädagogische Bestimmung und Thematisierung von Behinderung genauso wie von Heterogenität/ Ungleichheit/ Differenz nicht ohne die vorgängige Frage nach dem Pädagogischen aus (Kuhn, 2011). Die Frage nach dem Pädagogischen gehört in der Sonderpädagogik, trotz und entgegen der fortgesetzten Behauptung, Sonderpädagogik sei Pädagogik, zu den vernachlässigten, nahezu vergessenen Fragestellungen (Möckel, 1988; Moser, 2003). Der Rekurs auf die Selbstverständlichkeit des Pädagogischen steht hier anstelle einer pädagogischen Selbstvergewisserung. In diesem Sinne vernachlässigt die Sonderpädagogik die Thematisierung der Differenz des Pädagogischen zugunsten der Begründung und Legitimation einer Einheit der Sonderpädagogik und ihrer Unterscheidung von einer Normalpädagogik oder auch der Forderung ihrer Aufhebung in einer geeinten, heilen, inklusiven Pädagogik. Dabei bezieht sich Sonderpädagogik (nahezu ausschließlich) auf eine reflexive Theoretisierung und Anleitung einer Praxis der Erziehung und Bildung als behindert bezeichneter Kinder sowie auf die historische Verständigung der Sonderpädagogik, weitestgehend ohne an die gegenstandstheoretische Verständigung der Pädagogik anzuschließen (Moser, 2003). Auch die allgemeinpädagogische gegenstandstheoretische Verständigung kommt weitestgehend ohne Referenzen auf die sonderpädagogische Verständigung aus. Die Verständigung des Pädagogischen scheint so entlang der Unterscheidung von Pädagogik und Sonderpädagogik diskursiv geteilt. Die Frage nach dem Pädagogischen stellt sich also in der Sonderpädagogik sowohl im Kontext ihres nach wie vor ungeklärten pädagogischen Selbstverständnisses, im Zusammenhang mit ihrer vor- und außerpädagogischen Bestimmtheit entlang der Problemstellung Behinderung. Sie stellt sich auch im Rahmen der allgemeinpädagogischen Frage nach Einheit und Differenz des Pädagogischen, im Sinne der Frage nach der Eigenheit des Pädagogischen oder auch der Eigenständigkeit der Pädagogik angesichts ihrer institutionellen, professionellen und disziplinären Ausdifferenzierung sowie der Pluralisierung, Entgrenzung und Diffusion des Pädagogischen. Eine pädagogische Begründung der Sonderpädagogik lässt sich daher lediglich im Anschluss an die gegenstandstheoretische Verständigung der Frage nach dem Pädagogischen bestimmen. In diesem Sinne entwickelt Moser (2003) eine Begründung der Sonderpädagogik als Disziplin gerade nicht als Reflexion und Theoretisierung sonderpädagogischer Praxis und sonderpädagogischen Handelns, sondern geht zum einen von einer historischen (-systematischen) Rekonstruktion der disziplinären Selbstverständigung der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft und zum anderen von einer systemtheoretischen Analyse von Aufgabe, Leistung und VHN plus 8 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG Funktion des Erziehungssystems aus. Die mit der „Semantik ‚Behinderung‘“ (Moser, 2003, S. 53) als zentraler Begründungsfigur der Sonderpädagogik einhergehenden Schwierigkeiten entwickelt Moser dabei aus der Analyse und Rekonstruktion einer anthropologischen und subjektbezogenen Begründung von Erziehung und Bildung im Rahmen traditioneller allgemeinpädagogischer Konzepte (Erziehungsbedürftigkeit, Bildsamkeit als Eigenschaft des Individuums, Perfektibilität, Mündigkeit), in deren Konsequenz Ungleichheit an der Person thematisiert und bearbeitet wird. Entlang des systemtheoretischen Fokus auf die gesellschaftliche Seite von Erziehung und Bildung begründet Moser die Teilhabe an Erziehung und Bildung gerade nicht anthropologisch, gewissermaßen vom Bedarf des Einzelnen, sondern im Kontext des Inklusionsgebotes funktional differenzierter Gesellschaften. Ungleichheit und Differenz erscheinen in diesem Zusammenhang nicht mehr als quasi-natürlich gegebene, dem Individuum anhaftende Phänomene, sondern als Folgeprobleme von Inklusion und Exklusion im Erziehungssystem und vor diesem Hintergrund als pädagogisch und gesellschaftlich hervorgebrachte Problemstellungen, die mit Blick auf die Teilhabe an Erziehung und Bildung im Sinne von „Exklusionsvermeidung“ und „Inklusionsvermittlung“ (Moser, 2003, S. 147) fortgesetzt zu bearbeitend sind. Auch Tenorth verortet, aus einer allgemeinpädagogischen und (wissenschafts-) historiographischen Perspektive, die historische Entstehung der Sonderpädagogik im Kontext der Konstitution moderner Pädagogik. Entlang der Rekonstruktion der „Gleichzeitigkeit von Universalisierung und Partikularisierung“ (Tenorth, 2006, S. 504) der Idee der Bildsamkeit zeigt Tenorth, wie über verschiedene Vorstellungen von Bildsamkeit sowie konkrete pädagogische Technologien gleichzeitig Teilhabe an und Ausschluss von Erziehung und Bildung reguliert werden. „Denn hier wird mit Kriterien der Bildsamkeit z. B. ein Unterschied zwischen ‚Normalen‘ und ‚Behinderten‘ begründet und über diese Differenz sogar Inklusion oder Exklusion in das Bildungswesen definiert“ (ebd., S. 503; vgl. auch Zirfas, 1999; Moser, 2003). Inklusion und Exklusion werden so durch jeweils konkrete und unterschiedliche Formen ihrer pädagogischen Methodisierung und, im Zusammenhang damit, ihrer Professionalisierung und Institutionalisierung als pädagogisch bestimmte und zu bestimmende Problemstellung begreifbar. Im Anschluss an die Überlegungen von Moser und Tenorth lässt sich ein systematischer Zugang entwickeln, der auf den Zusammenhang von Pädagogik und Behinderung sowie die Konstruktion einer Differenz von Pädagogik und Sonderpädagogik in der Begründung der Sonderpädagogik verzichtet und stattdessen nach der Möglichkeit einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik entlang der Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen im Rahmen der Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht-Pädagogischem in Praxis, Theorie und Empirie fragt. Dabei tritt der Zusammenhang von Inklusion/ Exklusion, Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss systematisch an die Stelle von Behinderung. Was sich als anschlussfähig sowohl an die historische Verständigung der Pädagogik als auch an aktuelle allgemeinpädagogische Arbeiten erweist (Kuhn, 2015). 4 Perspektiven, Reichweite und Grenzen einer pädagogischen Verständigung und Begründung der Sonderpädagogik Sonderpädagogik lässt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen, mit Blick auf die Thematisierung und Bearbeitung der pädagogischen Konstitution von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss ent- VHN plus 9 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG lang der Verständigung und Gestaltung der Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht- Pädagogischem, gegenstandstheoretisch im Rahmen der Verständigung des Pädagogischen verorten und somit als Pädagogik ausweisen und begründen (Kuhn, 2015). Inklusion und Exklusion beziehen sich in diesem Zusammenhang nicht zuerst und notwendig auf die individuelle Seite von Pädagogik, sondern auf die (konkrete) Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen entlang der Unterscheidung von Pädagogischem und Nicht- Pädagogischem selbst. Inklusion beschreibt das, was im Rahmen der Verständigung des Pädagogischen als pädagogisch bestimmt wird, während Exklusion auf das verweist, was als nicht-pädagogisch bestimmt wird oder pädagogisch unbestimmt bleibt. Erst vermittelt über die Verständigung der Unterscheidung von Pädagogischem und Nicht-Pädagogischem (Inklusion/ Exklusion) werden Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss als pädagogisch bestimmte, individualisierte Problemstellungen hervorgebracht. Gleichheit und Ungleichheit erscheinen so entweder als vor- und außerpädagogisch gegebene Problemstellungen, das heißt nicht erst durch die Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht-Pädagogischem hervorgebrachte. Oder aber Gleichheit und Ungleichheit erscheinen als im Rahmen der Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen vermittelt über Teilhabe und Ausschluss als pädagogisch hervorgebrachte, d. h. pädagogisch bestimmte (und zu bestimmende). Teilhabe und Ausschluss beziehen sich hierbei auf die Adressierung von Personen im Rahmen der Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen sowie auf die individuelle Realisierung von Teilhabemöglichkeiten. Teilhabe und Ausschluss konstituieren in diesem Sinne Gleichheit und Ungleichheit als pädagogisch hervorgebrachte. Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss erscheinen zwar vermittelt über die Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen als pädagogisch bestimmte Formen von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss, sind jedoch im Rahmen konkreter Konzeptualisierungen des Pädagogischen nicht notwendig als pädagogisch bestimmte und hervorgebrachte thematisierbar und bearbeitbar. Wenn Teilhabe/ Ausschluss sowie Gleichheit/ Ungleichheit im Rahmen der konkreten Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen als nichtpädagogisch bestimmte erscheinen oder pädagogisch unbestimmt bleiben, lassen sie sich nicht mehr pädagogisch thematisieren und bearbeiten. In diesem Sinne markiert Exklusion einen blinden Fleck in der konkreten Verständigung des Pädagogischen. Aufgabe der Sonderpädagogik wäre es in diesem Sinne, Exklusion als pädagogisch bestimmte zu thematisieren und dadurch Teilhabe/ Ausschluss sowie Gleichheit/ Ungleichheit wiederum mit Blick auf die Verständigung des Pädagogischen thematisierbar und bearbeitbar zu machen. Es macht in diesem Zusammenhang einen bedeutsamen Unterschied für die pädagogische Konstitution von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss, wie das Pädagogische konzipiert wird - z. B.: als Standeserziehung; als Notwendigkeit, Möglichkeit und Leichtigkeit der Verwirklichung einer göttlichen Bestimmung (Comenius); als Verwirklichung individueller Anlagen; ausgehend von einem (Menschen-)Recht auf Bildung; ausgehend von der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen; ausgehend von Bildsamkeit als einer Verhältnisbestimmung pädagogischer Interaktion (Benner); als Einführung in die Teilbereiche menschlicher Praxis (Benner); ausgehend von der Vorausgesetztheit des Lernens und der Möglichkeit der Koordination von Zeigen und Lernen (Prange); entlang der Unterscheidung von Vermitteln und Aneignen, als Unwahrscheinlichkeit von Erziehung und operative Unerreichbarkeit von Aneignung (Kade). VHN plus 10 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG Eine pädagogische Verständigung und Begründung der Sonderpädagogik als pädagogische Praxis, Theorie und Empirie entlang der Verständigung der Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht-Pädagogischem bleibt grundsätzlich an die Anerkennung der Frage nach der Eigenheit des Pädagogischen gebunden. Im Ausgang von der Frage nach der Eigenheit des Pädagogischen fokussiert der hier vorgelegte Entwurf auf die Differenz in der Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen und damit auf die Verortung der Sonderpädagogik in der allgemeinpädagogischen Verständigung. Damit einher geht der Verzicht sowohl auf die Begründung einer Einheit der Sonderpädagogik und ihrer Eigenständigkeit gegenüber einer Normal- oder Regelpädagogik als auch auf die Forderung und Begründung einer Auflösung der Sonderpädagogik in einer geeinten wahrhaft allgemeinen Pädagogik. Die der Sonderpädagogik eigene Koppelung von Klientel, Profession und Disziplin wird in diesem Zusammenhang zugunsten einer Betonung der Differenz von pädagogischer Praxis und Pädagogik als Wissenschaft aufgegeben. Dagegen fokussiert der hier vorgelegte Entwurf auf eine Begründung der Sonderpädagogik als Wissenschaft. Mit der Betonung der Differenz von Praxis, Theorie und Empirie werden auch die Konzeptionen einer praxisanleitenden Theorie genauso wie einer anwendungsorientierten Empirie fraglich. Stattdessen liegt der Fokus auf der Frage, wie das Pädagogische in pädagogischer Praxis, Theorie und Empirie jeweils als Bestimmtes hervorgebracht wird. Die Verständigung und Gestaltung des Pädagogischen in Praxis, Theorie und Empirie bringt ein jeweils spezifisches Verhältnis von pädagogischer Inklusion im Sinne des pädagogisch Bestimmten und pädagogischer Exklusion als dem als nicht-pädagogisch Bestimmten sowie dem pädagogisch Unbestimmten hervor. Dieses Verhältnis gilt es ausgehend von der Frage nach Einheit und Differenz des Pädagogischen, entlang der Thematisierung von Teilhabe/ Ausschluss sowie Gleichheit/ Ungleichheit als pädagogisch bestimmter Problemstellungen, mit Blick auf die konkrete Bestimmtheit einzelner Ansätze und Konzepte zu reflektieren sowie mit Blick auf eine Neubestimmung des Pädagogischen zu bearbeiten. Insbesondere für die praktische Konstitution von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss im Rahmen der konkreten Verfasstheit und Gestaltung pädagogischer Praxis und pädagogischen Handelns stellt sich die Frage, wie sich diese im Sinne einer „Empirie des Pädagogischen“ thematisieren lässt ohne einfach die gegenstandstheoretischen Vorstellungen der Wissenschaft in die pädagogische Praxis hinein zu verlängern und sie so zu reifizieren. Insbesondere im Kontext anwendungsorientierter empirischer Forschung sowie praxisanleitender Handlungstheorie wäre zu reflektieren, welche Effekte von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss diese selbst in der pädagogischen Praxis hervorbringen. In diesem Zusammenhang erlangen die Fragen nach einem reflexiven Bezug der Sonderpädagogik als Pädagogik/ Erziehungswissenschaft auf ihre „epistemischen Praktiken“ ihre Bedeutung. So wäre grundsätzlich zu fragen, welche Konzepte von Gleichheit/ Ungleichheit, Teilhabe/ Ausschluss sowie Inklusion/ Exklusion im Rahmen der Verständigung des Pädagogischen genutzt werden und inwiefern sich diese als anschlussfähig an die Verständigung des Pädagogischen erweisen oder geeignet sind, diese zu irritieren. Im Kontext einer reflexiven empirischen Forschung geht es dann um die Reflexion der Angemessenheit und Anschlussfähigkeit von theoretisch-begrifflichen Konzepten und Konzepten empirischer Forschung sowie um die Offenlegung, Reflexion und Kritik der gegen- VHN plus 11 ANDREAS KUHN Überlegungen zu einer pädagogischen Begründung der Sonderpädagogik FACH B E ITR AG standskonstitutiven Effekte objekttheoretischer, sozialtheoretischer und methodologischer Vorannahmen mit Blick auf die Möglichkeit der Thematisierung von Gleichheit/ Ungleichheit sowie Teilhabe/ Ausschluss als pädagogisch bestimmter und hervorgebrachter Problemstellungen. Das bezieht sich auf die Möglichkeit der empirischen Erfassung der Konstitution des Zusammenhangs von Gleichheit/ Ungleichheit, Teilhabe/ Ausschluss sowie Inklusion/ Exklusion im Kontext pädagogischer Praxis und pädagogischen Handelns und ebenso auf den Zusammenhang der Produktion erziehungswissenschaftlichen Wissens (Dinkelaker et al., 2016; Neumann, 2010). Einer „theorieorientierten Bildungsforschung“ geht es um die Frage, wie Gleichheit/ Ungleichheit und Teilhabe/ Ausschluss in der Verständigung der Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht-Pädagogischem, im Verhältnis pädagogischer Inklusion und Exklusion, in unterschiedlichen empirischen und theoretischen Konzeptualisierungen des Pädagogischen, als pädagogisch bestimmte hervorgebracht werden. Ausgehend davon geht es um die Frage, wie sich Gleichheit/ Ungleichheit und Teilhabe/ Ausschluss entlang der Verständigung der Unterscheidung von Pädagogischem/ Nicht- Pädagogischem so konzeptualisieren lassen, dass sie mit Blick auf das Verhältnis pädagogischer Inklusion und Exklusion theoretisch und empirisch thematisierbar und bearbeitbar werden (Bellmann, 2011). Literatur Ahrbeck, B. (2011). Der Umgang mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer. Bellmann, J. (2011). Jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft. In J. Bellmann & T. 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