eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 89/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Fachbeitrag: Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem

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2020
Hendrik Trescher
Gouvernementalität meint eine Form des Regierens bzw. Hineinregierens in bestimmte Diskurse, wodurch diese in spezifischer Art und Weise verändert werden. Der Beitrag legt den Fokus darauf, inwiefern Familien mit Kindern mit geistiger Behinderung davon betroffen sind, wie in erster Linie der Staat und „seine“ Behindertenhilfe Praxen erzeugen und verändern und somit jene Familien unweigerlich (mit) prägen. Es geht also darum, wie die Familienmitglieder zu bestimmtem Handeln bewegt, motiviert und/oder gezwungen werden. Dabei wird Referenz genommen auf das Projekt „Zwischen Herkunftsfamilie und dem Leben im ambulant betreuten Wohnen“ (Trescher, 2018–2020) und an drei Beispielen diskutiert, wie Familien „technisch“ in ihrer Organisationsstruktur, aber auch „sozial“ in ihren Beziehungskonstellationen durch gouvernementale Praxen hervorgebracht werden. Abschließend wird die Ambivalenz des Hilfesystems zwischen Unterstützungserbringung und Behinderungspraxis diskutiert.
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150 150 VHN, 89. Jg., S. 150 -164 (2020) DOI 10.2378/ vhn2020.art22d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem Wie gouvernementale Praxen Familie hervorbringen Hendrik Trescher Philipps-Universität Marburg Zusammenfassung: Gouvernementalität meint eine Form des Regierens bzw. Hineinregierens in bestimmte Diskurse, wodurch diese in spezifischer Art und Weise verändert werden. Der Beitrag legt den Fokus darauf, inwiefern Familien mit Kindern mit geistiger Behinderung davon betroffen sind, wie in erster Linie der Staat und ‚seine‘ Behindertenhilfe Praxen erzeugen und verändern und somit jene Familien unweigerlich (mit) prägen. Es geht also darum, wie die Familienmitglieder zu bestimmtem Handeln bewegt, motiviert und/ oder gezwungen werden. Dabei wird Referenz genommen auf das Projekt „Zwischen Herkunftsfamilie und dem Leben im ambulant betreuten Wohnen“ (Trescher, 2018 -2020) und an drei Beispielen diskutiert, wie Familien ‚technisch‘ in ihrer Organisationsstruktur, aber auch ‚sozial‘ in ihren Beziehungskonstellationen durch gouvernementale Praxen hervorgebracht werden. Abschließend wird die Ambivalenz des Hilfesystems zwischen Unterstützungserbringung und Behinderungspraxis diskutiert. Schlüsselbegriffe: Geistige Behinderung, Gouvernementalität, Familie, Bürokratie, Behindertenhilfesystem Parents and Their Children with Intellectual Disabilities in the Care System. On the Governmental Reproduction of Families Summary: Governmentality is a form of governing or rather governing into specific discourses that are thus changed in a certain way. This article focuses on how families with children with intellectual disabilities are affected by practices of (primarily) the state and ‘its’ disability care system that change the families inevitably. It is therefore a question of how the family members are moved, motivated and/ or forced to act. Reference is made to the study “Between Birth Family and a Life in Assisted Living Institutions” (Trescher, 2018 -2020) and three examples are used to discuss how governmental practices (re)produce families in a technical way in their organizational structure, as well as in a social way in their relationships. Finally, the ambivalence of the disability care system between support and disabling practice is discussed. Keywords: Intellectual disabilities, governmentality, family, bureaucracy, disability care system FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Gouvernementalität und Behinderung 1 Hinführung Gouvernementalität ist zum einen eine Technik der Menschenführung, also „die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert“ (Foucault, 2015, S. 261), und zum anderen werden mit Gouvernementalität diejenigen Prozeduren bezeichnet, mit denen Personen, Strukturen und Praxen auf andere Personen (planvoll) einwirken und diese als je bestimmte Subjekte hervorbringen bzw. Subjektpositionen bereiten, innerhalb VHN 3 | 2020 151 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG derer sich Subjekte selbst hervorbringen 1 . Gouvernementalität ist zu verstehen als „die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben“ (Foucault, 1978, S. 171). In diesem Beitrag steht eine Untersuchung dessen im Fokus, „wie ‚irrationale‘, ‚gewaltförmige‘ oder ‚unökonomische‘ Elemente innerhalb von politischen Rationalitäten artikuliert werden“ (Lemke, Krasmann & Bröckling, 2012, S. 18), also inwiefern das staatliche System der Behindertenhilfe einen gewaltförmigen, Veränderung bewirkenden Kern hat, der nicht nur gegenüber den jeweiligen Adressat/ innen wirkmächtig ist, sondern auch gegenüber ihrem Umfeld - ihrer Familie. Dabei wird Bezug genommen auf Ergebnisse der Studie „Zwischen Herkunftsfamilie und dem Leben im ambulant betreuten Wohnen“ (Trescher 2018 - 2020), die zeigen, inwiefern durch (oft staatliche) gouvernementale Praxen, die bspw. aus Formularen, Verwaltungsvorschriften, Anträgen, Bescheiden usw. erwachsen, von außen in die Familie eines (ggf. auch schon volljährigen) Kindes mit geistiger Behinderung hineinregiert wird und ihr alltägliches Miteinander deutlich (mit-)bestimmt. Jene Praxen verschieben und verändern das Leben (in) der Familie und führen beispielsweise dazu, dass das Thema ‚Behinderung‘ und ihre Versorgung im Alltag eine zentrale Rolle spielen, sich Ablösungsprozesse zwischen Eltern und Kind oft nur schwer vollziehen oder dass Eltern und professionelle Akteur/ innen in einem konfliktbehafteten Verhältnis stehen, in dem sie sich gegenseitig die Expertise bzw. Zuständigkeit für das Kind mit geistiger Behinderung ab- oder zusprechen. Familie, als eigentlich diffuser Ort, wird damit zu einem Spezifikum, wodurch sich die Familienmitglieder in je bestimmten Rollen begegnen (beispielsweise Pflegeerbringer/ in und Pflegeempfänger/ in). Gouvernementale Praxen (re-)produzieren Beziehungspraxen, und somit Sozialbeziehungen, in je bestimmter Art und Weise, was schließlich auch emotional erlebbar wird und die Beteiligten oftmals belastet. Die Aushandlung jener Praxen wird durch die Ambivalenz erschwert, dass eine gewisse bürokratische Regulierung einerseits notwendig ist, um Unterstützung zu bekommen, andererseits allerdings das Leben der Familie maßgeblich beeinflusst und mitbestimmt. 2 Familie, Behinderung und Gouvernementalität Familiensoziologisch können zwei Perspektiven der Konstitution und Analyse von Familie unterschieden werden. Die „Familie als soziale Institution“ (Mühling & Rupp, 2008, S. 79) ist Gegenstand einer makrosoziologischen Herangehensweise, die „das vielschichtige Verhältnis von Gesellschaft und Familie“ (ebd.) fokussiert. In einem mikrosoziologischen Blick interessiert die „Familie als soziale Gruppe“ (ebd.) und darin ihre Binnenstrukturen und internen Praxen (ebd.). Grundsätzlich wird zwischen der Herkunfts- und der Zeugungsfamilie unterschieden, wobei die Person in Erstere hineingeboren wird und Letztere als Elternteil selbst gründet (ebd., S. 77). Familien sind durch je bestimmte Strukturen und eine bestimmte Logik sozialer Beziehungen gekennzeichnet (Karrer, 2015, S. 24), die von Diffusität geprägt sind. Hierbei wird eine (idealtypische) Unterscheidung diffuser und spezifischer Sozialbeziehungen zugrunde gelegt, wobei Erstere die Beziehungen sind, „in denen derjenige, der ein Thema vermeiden oder nicht behandeln will, jeweils die Beweislast trägt, was voraussetzt, dass im Normalfall kein mögliches Thema ausgespart bleibt. Das entspricht genau einer Beziehung zwischen ganzen Menschen“ (Oevermann, 2002, S. 40) - beispielsweise Familienmitgliedern. In Sozialbeziehungen, die VHN 3 | 2020 152 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG spezifisch sind, „trägt derjenige die Beweislast, der ein neues, in der Spezifikation den Rollendefinitionen nichtenthaltenes Thema hinzufügen möchte. Das setzt voraus, dass zuvor ein Bereich beziehungsrelevanter Themen konventionell spezifiziert wurde. Dem entspricht genau die Logik von rollenförmigen Sozialbeziehungen, in denen durch institutionalisierte Normen, per Vertrag letztlich, in Rollendefinitionen festgelegt worden ist, was in diesen Beziehungen thematisch ist“ (ebd.). Familien setzen sich aus entsprechend gekennzeichneten Mitgliedern zusammen, die sozial - diffus - aufeinander bezogen sind (Karrer, 2015, S. 24) und sich relational als solche hervorbringen: „Vater und Mutter ist man nur in Bezug auf Kinder, Kind nur in Bezug auf Eltern, und Bruder oder Schwester nur in Bezug auf das jeweils andere Geschwister“ (ebd., S. 25). Die Mitglieder einer Familie sind einander „persönlich und dauerhaft“ (ebd., S. 27) verbunden. Die Konstruktion von Familie ist soziokulturell-historisch geprägt und beeinflusst die Praxis ‚Familie‘ bzw. bringt diese erst mit hervor (ebd., S. 22f.). Dies kann daran exemplifiziert werden, dass es ein soziokulturell geprägtes Bild davon gibt, was eine ‚gute Mutter‘ ausmacht, und wodurch eine Art (gouvernementaler) Maßstab geschaffen wird, dem sich die Akteur/ innen in ihrer Handlungspraxis kaum entziehen können (ebd., S. 23) 2 . Familie ist also kontingent. Eltern eines Kindes mit Behinderung zu sein, kann mit einer Veränderung dessen einhergehen, was bislang als routinemäßiges 3 Familienleben verstanden wurde, denn es müssen „[n]eue Strategien für das Zusammenleben […] entwickelt und erprobt werden“ (Seifert, 2014, S. 25). Dies hängt auch damit zusammen, dass den jeweiligen Familien „gesellschaftliche Vorbilder fehlen“ (Wachtel, 2016, S. 428), die bei der Bewältigung bislang unbekannter Anforderungen unterstützen können. Dabei wird oftmals „die optimale Förderung des Kindes zum handlungsleitenden Prinzip“ (Seifert, 2014, S. 26; siehe auch Wachtel, 2016, S. 428f.), womit die (potenzielle) Problematik verbunden ist, dass eine routinemäßige soziale Entwicklung des Kindes, die sich insbesondere im sukzessiven Aushandeln der eigenen Unabhängigkeit vollzieht, stark eingeschränkt wird. Dies ist mit ein Grund dafür, dass die Ablösung zwischen Eltern und Kind häufig zeitlich verzögert erfolgt - insofern sie überhaupt stattfindet. Eltern stehen vor der Herausforderung, „die Balance zu finden zwischen ihrer lebenslangen Verantwortung und dem Wunsch des erwachsen gewordenen Kindes nach einem möglichst selbstbestimmten Leben, das auch Risiken impliziert“ (Seifert, 2014, S. 30f.). Die Folge ist teilweise eine „mangelnde […] Bereitschaft, das erwachsene Kind aus dem Elternhaus zu entlassen“ (ebd., S. 31), wobei dies durchaus ambivalent ist, denn Eltern wissen um die Betreuungsrealitäten in vielen Behindertenhilfeeinrichtungen, verstehen sich selbst als die wichtigsten Bezugspersonen (bzw. sind es auch) und sehen sich gleichzeitig dem Druck ausgesetzt, ihrem Kind (vermeintliche) Selbstständigkeit zu ermöglichen (ebd.). Eine weitere Ambivalenz vollzieht sich in der Aushandlung familiärer und professioneller Unterstützungsangebote und dabei insbesondere darin, „[d]ie Balance zwischen einem angemessenen familialen Zusammenhalt und einer gewissen Abgrenzung gegenüber der Umwelt im Sinne einer eigenen Handlungslogik einerseits sowie einer selbstgesteuerten Öffnung gegenüber der Umwelt andererseits“ (Wachtel, 2016, S. 430) zu finden, was wiederum „durch die Inanspruchnahme von Hilfen gefährdet werden“ (ebd.) kann. In jenen ambivalenten Verhältnissen ist die elterliche Handlungspraxis verortet und wird maßgeblich durch (staatliche) gouvernementale Praxen beeinflusst. 3 Zur Studie Die Studie „Zwischen Herkunftsfamilie und dem Leben im ambulant betreuten Wohnen“ (Trescher, 2018 - 2020) wurde im Rahmen VHN 3 | 2020 153 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG eines Lehrforschungsprojekts an der Goethe- Universität Frankfurt in Kooperation mit der Lebenshilfe Frankfurt am Main e.V. durchgeführt. Im Fokus stand die Untersuchung der Frage, welche Lebenspraxen und -entwürfe Menschen mit geistiger Behinderung haben, die in unterschiedlichen ambulant betreuten Wohnformen leben, wobei der Fokus auf dem ambulant betreuten Wohnen in der eigenen Wohnung, Paarwohnen oder einer Wohngemeinschaft sowie auf dem Wohnen in der Herkunftsfamilie, zumeist bei den Eltern, lag. Ein weiterer Schwerpunkt war die Erforschung von Selbstkonstruktionen von pädagogisch in diesem Feld Handelnden sowie von Eltern von Menschen mit geistiger Behinderung. Anhand gesprächsförmiger Topic- Interviews (Trescher, 2017 b, S. 69f.) wurden (a) Menschen mit geistiger Behinderung, (b) Mitarbeiter/ innen der unterschiedlichen Wohnformen und (c) Eltern von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung interviewt. Dabei standen die Fragen danach im Vordergrund, welche Erfahrungen mit (der Arbeit in) unterschiedlichen Wohnformen gemacht wurden, wie die aktuelle Wohn- (bzw. Arbeits-)Situation beschrieben und erlebt wird und welche Wünsche und Bedarfe es für die Zukunft gibt. Die Auswertung der Topic-Interviews erfolgte anhand sequenzanalytischer Rekonstruktionen entlang der Verfahren der Objektiven Hermeneutik (u. a. Oevermann, Allert, Konau & Krambeck, 1979; siehe zur Anwendung Trescher, 2017 a, S. 68ff.). Es sei darauf hingewiesen, dass in diesem Beitrag keine Feinanalysen abgebildet werden können, stattdessen werden die Gesamtergebnisse verdichtet und exemplarisch an Einzelaussagen diskutiert. Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts ist, aufbauend auf den Ergebnissen praxisrelevante Vorschläge zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung in unterschiedlichen ambulant betreuten Wohnformen zu formulieren und an den Kooperationspartner rückzukoppeln. 4 Wie in Familien hineinregiert wird (Staatliche) gouvernementale Praxen, insbesondere ausgehend vom Behindertenhilfesystem, prägen das Leben von Familien mit Kindern mit geistiger Behinderung mit. Dies spiegelt sich in je bestimmten Beziehungspraxen und -konstellationen, Bewältigungsstrategien und Lebensentwürfen wider, die sowohl strukturell manifestiert als auch subjektiv-affektiv erlebt werden. Übergeordnete Ambivalenz dessen ist, dass die Familien zwar auf das Hilfesystem angewiesen sind und auch wichtige Unterstützung von ihm bekommen, es gleichzeitig jedoch als einengend und teilweise sogar überfordernd erleben, insbesondere hinsichtlich der Auseinandersetzung mit bürokratischen Vorgaben. Auch Familien mit Kindern ohne (geistige) Behinderung müssen sich mit gouvernementalen Strukturen auseinandersetzen (beispielsweise Beantragung von Kindergeld, Krippen- oder Kitaplatz, Schulpflicht usw.), allerdings wird durch diese Praxen deutlich weniger in das Familienleben hineinregiert als dies bei Familien mit Kindern mit geistiger Behinderung der Fall ist. Dies wird im Folgenden ausgeführt, wobei immer wieder Rückbezug genommen wird auf Schilderungen von Eltern mittlerweile erwachsener Kinder mit geistiger Behinderung, die im Rahmen der Studie interviewt wurden. 4.1 Bürokratie, Medizin und Angriffe auf den Körper Begonnen werden soll mit der Schilderung einer Mutter eines mittlerweile 35-jährigen Sohnes mit geistiger Behinderung. Sie erzählt im Interview: „Ich erinnere mich noch, wie das war, als wir damals den Pflegegrad beantragen mussten [der Sohn war zu diesem Zeitpunkt ca. acht Jahre alt]. Da kam ein Arzt, der setzte sich hier hin und VHN 3 | 2020 154 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG sagte zu mir: ,Ziehen Sie mal Ihren Sohn aus‘. Ich sagte dann: ,Wie bitte? ‘ Und er: ,Ja, ausziehen, ausziehen! ‘ Gut, dann hab ich ihn ausgezogen und gefragt: ,Und jetzt? ‘ Da sagte er: ,Ziehen Sie ihn wieder an‘. Und dann hab ich ihn gefragt, warum ich ihn jetzt an- und ausziehen sollte, und da sagte er: ,Ja, ich wollte mal wissen, wie lange Sie brauchen zum An- und Ausziehen. Aber im Übrigen sind dafür ja sowieso nur fünf Minuten vorgesehen‘. Dann hat er gefragt, wie lange ich beim Frühstück brauche, um meinen Sohn zu füttern. Ich sagte: ,Naja, das kommt darauf an, wenn er zwei Brote isst zum Beispiel und viel erzählt, dann brauche ich vielleicht eine Stunde. Wenn alles glatt läuft, vielleicht eine halbe Stunde‘. Er sagte dann: ,Ja, es sind nur zehn Minuten vorgesehen‘. Da frage ich mich dann auch, wieso er mich überhaupt danach fragt. Das sind dann so richtig erniedrigende Situationen.“ (01 - 15; Z. 944 - 954) 4 4.1.1 Bürokratie Die Beantragung des Pflegegrads ist ein bürokratischer Akt, der dem Erteilen von Unterstützungsmöglichkeiten (im Bereich Pflege) vorgeschaltet und insofern zwingend notwendig ist. Es ist also kaum möglich, ihn zu umgehen, es sei denn, die Pflege und Betreuung des Kindes mit geistiger Behinderung wird privat organisiert, was dann wiederum mit einer hohen finanziellen Belastung einherginge. Eltern von einem Kind mit geistiger Behinderung zu sein, heißt also, sich eine gewisse Expertise zu erarbeiten bezüglich der Strukturen des Behindertenhilfesystems. Formulare, Anträge, Bescheide usw. liegen zahlreich vor und müssen von den Eltern bearbeitet werden, um Unterstützungsleistungen für ihr Kind erhalten zu können. Dabei handelt es sich um bürokratische Vorgaben, die das System selbst vorhält und sich wechselseitig in ihnen reproduziert. Die Folge zahlreicher verwaltungstechnischer Vorgaben und Verantwortlichkeiten ist eine drohende bürokratische Überformung des Subjekts, und zwar sowohl der Eltern als auch ihrer Kinder. Jene bürokratisierten Subjekte werden deutlich in ihrer persönlichen Handlungsökonomie eingeschränkt. Letztlich werden Kinder mit geistiger Behinderung ebenso wie die Familien von Kindern mit geistiger Behinderung „bürokratiebehindert“ (Trescher, 2018 b) 5 . Ihr Leben ist von Verwaltungspraxen geprägt, die sich auch in der je individuellen Biografie niederschlagen und somit ‚verwaltete Biografien‘ hervorbringen. Dies betrifft Menschen, die umfassend auf das Versorgungssystem angewiesen sind, noch stärker, und so ist die Aussage durchaus zutreffend: „filling out bureaucratic forms is an essential part of (Western) disabled existence“ (Abrams, 2015, S. 13). Dabei darf die Ambivalenz nicht außer Acht gelassen werden, die sich in der Auseinandersetzung mit den Strukturen und Praxen des Behindertenhilfesystems manifestiert, denn, auch wenn die Protagonist/ innen dadurch als bürokratiebehindert hervorgebracht werden (und sich wechselseitig selbst in diesem Status reproduzieren), so sind sie doch umfassend auf die Leistungen des Systems angewiesen, die ihnen den Alltag erleichtern können (beispielsweise durch zusätzliche Betreuungsangebote, die zur Entlastung der Eltern und zur Entwicklung der Kinder beitragen können). Menschen mit Behinderung bzw. Eltern sind dadurch einem unlösbaren Handlungskonflikt ausgesetzt - sie können sich nicht nicht (für oder gegen Leistungen der Behindertenhilfe) entscheiden bzw. hat auch eine scheinbare Nichtentscheidung immer Konsequenzen. Problematisch ist allerdings auch, und das wird an der obigen Schilderung deutlich, dass Eltern dadurch ein Stück weit zu den ‚Mit-Verwalter/ innen‘ ihrer Kinder werden, wodurch eine technisch-bürokratische Beziehung zwischen ihnen etabliert wird. Dies reproduziert wiederum Abhängigkeiten: Die Kinder sind abhängig von ihren Eltern, und alle Beteiligten sind massiv abhängig von bürokratischen Vorgängen und ihren jeweiligen Akteur/ innen. VHN 3 | 2020 155 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG 4.1.2 Behinderung und ‚Measurement‘ Behinderung wird in Praxen wie der oben geschilderten als „measurable problem“ (Titchkosky, 2007, S. 48) hervorgebracht, was sich insbesondere darin äußert, dass die Person auf messbare Zeiteinheiten heruntergebrochen wird, anhand derer sie erfasst und schließlich reguliert werden kann. Diese gouvernementalen Praxen, die aus dem Hilfesystem hervorgehen, führen zu einer Quantifizierung des Subjekts, das infolgedessen auf jene metrisch erfassbaren Subjektpositionen beschränkt bleibt. Die Personen, die als Vertreter/ innen des Hilfesystems arbeiten, müssen seinen Regeln folgen, um Unterstützung zu ermöglichen. Auch von den Eltern wird gefordert, die technischbürokratische ‚Zerlegung‘ ihres Kindes mitzutragen, da dies die Voraussetzung für Zuschüsse usw. ist, die letztlich wieder ihrem Kind zugutekommen. Eine Elternschaft in diesem ambivalenten Gefüge ist von Herausforderungen geprägt und wird oftmals als sozial-emotional belastend wahrgenommen. Behinderung als Praxis des ‚Measurement‘ vollzieht sich in der gesamten Biografie der jeweiligen Person und zeigt sich in institutionellen Kontexten insbesondere in Dokumentationspraxen, in denen einzelne Aspekte, die die Person und ihre individuelle Lebenssituation betreffen, herausgegriffen, abstrahiert und technisch notiert werden. Ein weiteres bürokratisches Instrument, das die Versorgung von Behinderung reguliert und insofern in das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer Familien hineinregiert, ist die sogenannte Hilfebzw. Teilhabeplanung (Trescher, 2018 b). Dokumentations- und Teilhabeplanungspraxen zerteilen die Person in zeitliche messbare Aufgaben, die sich immer mehr an ihr als mit ihr vollziehen (Trescher, 2017 b, S. 198f.; Trescher, 2013, S. 92). Dokumentations- und Teilhabeplanungspraxen bzw. ihre inhärenten Instrumente (z. B. Entwicklungsplan, Tagesablaufplan usw.) werden so zum Ausdruck einer spezifischen „Form der Beziehungen zwischen der Macht und dem Wissen“ (Foucault, 1976, S. 115). Die Folge dessen ist oftmals eine an bürokratischen Vorgaben orientierte „Versorgungspragmatik“ (Trescher, 2017 b, S. 198), durch die das Subjekt als Gegenstand von Sachbearbeitung hervorgebracht wird. 4.1.3 Hoheit der Medizin Der obige Ausschnitt aus einem Interview ist zudem ein Beispiel dafür, inwiefern die medizinische Profession in ihrer quasi-natürlichen (Deutungs-)Hoheit reproduziert wird. Geistige Behinderung wird am Körper des Kindes manifestiert, das, ebenso wie seine Mutter, dem Arzt als Vertreter des Hilfesystems ausgeliefert ist. Medizin und daraus folgende bzw. darin begründete Praxen vollziehen sich als „the new repository of truth, the place where absolute and often final judgments are made by supposedly morally neutral and objective experts“ (Zola, 1972, S. 487; s. auch Trescher, 2017 a, S. 237ff.). In diesem Prozess werden den Beteiligten bestimmte Subjektpositionen zugewiesen, von denen sie nicht weichen können und innerhalb derer sie sich als je bestimmte Subjekte hervorbringen, wenn sie weiterhin im Diskurs um die Beantragung von Leistungen ‚sprechen‘ wollen, wobei ‚sprechen‘ hierbei alle möglichen Ausdrucks- und Gestaltungsformen umfasst und somit über Verbalsprache hinausgeht (Foucault, 2003, S. 27ff.). Auch in dieser Hinsicht zeigt sich, inwiefern die gouvernementalen Praxen des Hilfesystems subjektivierend wirkmächtig sind. Sie nehmen Einfluss auf den Körper der Menschen mit geistiger Behinderung und unterwerfen ihn in gewisser Weise ihren Vorgaben und Mechanismen. 4.1.4 Pflege zwischen Würdeerhalt und Würdeverletzung Gerade in Bezug auf das Thema Pflege muss darüber hinaus bedacht werden, dass Pflegehandlungen doch immer ein Eingriff in die Privatsphäre der Person sind und sich dabei im VHN 3 | 2020 156 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG ambivalenten Verhältnis von Würdeverletzung und Würdeerhalt bewegen (Trescher, 2015; siehe auch Tugendhat, 1993). Diese Ambivalenz liegt darin, dass Menschen, die auf Unterstützung im Bereich Pflege angewiesen sind, diese brauchen, um ein würdevolles Leben führen zu können. Dies soll durch das Hilfesystem gesichert werden. Demgegenüber werden diese Personen jedoch durch Pflegehandlungen in ihrer Würde verletzt, da diese tief in den Bereich des Privaten vordringen und insofern grenzüberschreitend sind (Trescher, 2015). Menschen, die auf (umfassende) Pflege angewiesen sind, erfahren im Laufe ihres Lebens unzählige Situationen, in denen ihre Intimsphäre - und somit ihre Würde - verletzt wird, was sich immer weiter in das Subjekt einschreibt und es schließlich als pflegebedürftig hervorbringt und in gewisser Weise auch entwürdigt. Dies ist auch ein Resultat der je bestimmten Ausgestaltung des Hilfesystems und seiner gouvernementalen Ausführungsorgane und -praxen, beispielsweise des Arztes im obigen Beispiel, der als Vertreter des Hilfesystems dessen Praxen (re-)produziert. 4.1.5 Objektivierung Der Junge aus dem oben geschilderten Beispiel wird im Prozess der Beantragung einer Pflegestufe objektiviert. Dies erfolgt in unterschiedlichen Dimensionen, wird aber vor allem daran manifest, dass er dabei ist, während über ihn wie eine Art unbelebten Gegenstand verhandelt wird. Gouvernementale Praxen des Hilfesystems regieren auf diese Weise in die Familie hinein, was sich unter anderem dadurch vollzieht, dass die Mutter sich stellvertretend für ihren Sohn mit dem Arzt auseinandersetzen muss und zudem die Objektivierung ihres Kindes ein Stück weit mitträgt bzw. mittragen muss. Das kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass über den Jungen als eine Art Last, die versorgt werden muss, verhandelt wird und diese Versorgung wiederum in messbare Einheiten heruntergebrochen wird. Objektivierung schreibt sich so in das Subjekt ein. Hinzu kommt, dass jene objektivierenden Praxen den Sohn sein ganzes Leben begleitet haben und zukünftig begleiten werden, da er immer in gewisser Weise auf das Hilfesystem angewiesen sein wird, für das er immer erst einmal Gegenstand von Sachbearbeitung ist und erst danach je individuelle Person. Indem der Junge bereits im Prozess der Pflegegradfeststellung als Person übergangen wird, wird in gewisser Weise einer sogenannten erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 2004; Trescher, 2017 a, S. 240ff.) der Weg bereitet, die sich im Laufe seines Lebens voraussichtlich immer weiter vollziehen wird. Beispielsweise wird von vorneherein davon ausgegangen, dass er nicht dabei unterstützen kann, sich an- und auszuziehen. Der Logik des Hilfesystems geht es also weniger darum, vorhandene Potenziale zu entdecken und nutzbar zu machen, sondern es herrscht ein defizitärer Blick vor, ausgehend von dem primär Unvermögen und Unterstützungsbedarf festgestellt werden. Dem können sich auch diejenigen, die als Vertreter/ innen des Hilfesystems handeln, kaum entziehen, da sie selbst wenig handlungsmächtig sind, Strukturen zu verändern. 4.1.6 Scham, Erniedrigung und Infantilisierung Die Strukturen und Praxen des Hilfesystems haben zur Folge, dass ihre Vertreter/ innen und Adressat/ innen sowie eventuell beteiligte Personen Gefühle und Affekte aushandeln müssen und Gouvernementalität somit nicht nur auf technischer-abstrakter Ebene wirksam wird, sondern auch emotional erfahrbar ist. Im obigen Beispiel zeigt sich dies daran, dass sich die Mutter, wie sie sagt, erniedrigt fühlt vom Vorgehen des Arztes. Über die Gefühle des Sohnes ist nichts bekannt, jedoch ist davon auszugehen, dass er seinen Status als Anschauungsobjekt affektiv erlebt und sich in dieser Situation möglicherweise unwohl fühlt. Der Sohn erfährt darüber hinaus Erniedrigung, da er nicht seinem Alter entsprechend VHN 3 | 2020 157 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG behandelt wird, und zwar sowohl vom Arzt als auch von seiner Mutter - ist es in der routinemäßigen Lebenspraxis doch eher unüblich, dass Eltern umfassende Pflegetätigkeiten an ihren Kindern vornehmen, wenn diese dem Kleinkindalter entwachsen sind. Auf diese Art und Weise vollziehen sich, initiiert vom Hilfesystem, Infantilisierungspraxen, denn die Eltern werden zu den primären Pflegepersonen, was nicht zuletzt auch das Eltern-Kind-Verhältnis stark beeinflusst, insbesondere in Bezug auf Abhängigkeiten. Durch das Hilfesystem angestoßene Infantilisierungspraxen verstetigen sich oftmals im Lebenslauf und tragen mit dazu bei, Menschen mit geistiger Behinderung als ‚ewige Kinder‘ zu reproduzieren. 4.2 Die Organisation des ‚Zuhause‘ Ein Schwerpunkt der Studie lag auf einer Untersuchung der Wohnsituation der mittlerweile erwachsenen Kinder mit geistiger Behinderung. Im Zuge dessen konnte der Feldzugang zu Eltern eröffnet werden, die gemeinsam eine Wohngemeinschaft für ihre Kinder gegründet haben. Ein Vater berichtet von einigen der (zahlreichen) damit verbundenen Hindernisse und Erschwernisse: „Wir haben jetzt gerade wieder die Diskussion, dass das mit dem Pflegedienst nicht richtig klappt und da müssen sich alle einfach drauf einstellen. Und dann haben wir die Leute, die nachmittags in der WG sind, das sind in der Regel dann zwei plus dann die pädagogischen Fachkräfte, die dann kommen, um eben die individuelle Bespaßung zu machen. Es sind also schon einige Leute, die sich um die Bewohner der WG kümmern müssen, das muss man halt organisieren. Für einen Teil der Organisation ist dann der Träger zuständig, für den Rest sind die Eltern verantwortlich, solange die da sind. Da muss man schon sagen, das war eine echte Herausforderung, das auf die Beine zu stellen.“ (01 - 47; Z. 197 - 205) 4.2.1 Aneignung als Zuhause Im hier konkreten Beispiel haben sich Eltern zusammengeschlossen und selbst eine Wohngemeinschaft gegründet, in der ihre Kinder leben (sollen). Dabei zeigt sich, dass das Leben in der Wohngemeinschaft massiv durch äußere Vorgaben reguliert wird, die wiederum einen hohen Verwaltungsgrad mit sich bringen, der vor allem die Eltern fordert, zu organisieren. Wohnen als „unauflösbare Einheit von Wohnen und Leben“ (Hasse, 2009, S. 26), das in erster Linie durch die subjektiv bedeutsame Aneignung von Raum als Wohnraum konstituiert wird, braucht Verbundenheit und Vergemeinschaftung. Wohnen kann nicht „auf den regelmäßigen Aufenthalt in einem zum Wohnen (mehr oder weniger) geeigneten Raum“ (ebd., S. 25) reduziert werden. Wohnen „ist vielmehr durch Vertrautheit und ein Gefühl des Hingehörens an einen Ort und dessen Gegend gekennzeichnet“ (ebd., S. 33). Die Dominanz bürokratischer und organisatorischer Praxen führt jedoch dazu, dass ebenjene Konstitution von Wohnen als Zuhause-Sein erschwert wird. Die Wohngemeinschaft wird, auch durch gouvernementale Vorgaben des Hilfesystems, zum öffentlichen Ort, der verwaltet werden muss. Dadurch wird die Privatsphäre der Bewohner/ innen deutlich eingeschränkt. Verschärft wird dies dadurch, dass das Leben in der Wohngemeinschaft durch eine Vielzahl an Personen je unterschiedlicher Profession mitbestimmt wird. Neben den Eltern, die als primäre Ansprechpersonen diese Personen überwachen und (bei Bedarf ) regulierend eingreifen, sind dies Personen, die für die Pflege der Bewohner/ innen zuständig sind und von einem Pflegedienst bereitgestellt werden, sowie pädagogisches Fachpersonal, das die Bewohner/ innen tagsüber pädagogisch betreut (vom Vater lapidar „Bespaßung“ genannt). In den Schilderungen des Vaters, die sich dem hier dargestellten Interviewausschnitt anschließen, wird deutlich, dass weitere Personen hinzukommen, die mit den Bewohner/ innen Freizeitaktivitäten nach- VHN 3 | 2020 158 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG gehen, sowie die Nachtbereitschaft übernehmen, sodass schließlich insgesamt bis zu 20 verschiedene Personen jede Woche in der Wohngemeinschaft ein- und ausgehen. Freund/ innen und Bekannte sind von der Auflistung von Personen in der Wohngemeinschaft bislang ausgenommen, jedoch ergaben die Interviewanalysen, dass ohnehin nur selten gegenseitige Besuche erfolgen, da diese ebenfalls mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden sind, der einer längeren Planungs- und Durchführungsphase bedarf. Eine Wohngemeinschaft, die derart stark von unterschiedlichen Professionen und deren Vertreter/ innen ‚regiert‘ wird (um beim Duktus der Figur gouvernementaler Praxen zu bleiben), kann kaum als Zuhause fungieren. Dies liegt insbesondere daran, dass jene Professionsvertreter/ innen „in verschiedenen Teilbereichen an den und um die Bewohner tätig sind“ (Trescher, 2013, S. 92) und so diese respektive ihre Körper in gewisser Weise (bürokratisch) zerlegen. Diese (bürokratische) Zerlegung erfolgt, da die Bewohner/ innen kaum je als ‚ganze Personen‘ adressiert werden, sondern immer eher ausschnitthaft je nach Fokussierung der jeweiligen Profession (bspw. Pflege, Ergotherapie, Logopädie, Freizeitassistenz usw.). Im Hinblick darauf erscheint es nicht verwunderlich, dass die Bewohner/ innen, die zwischen 20 und 35 Jahre alt sind, nach wie vor jedes Wochenende bei ihren Eltern verbringen. Dies ist in der routinemäßigen Lebenspraxis unüblich und prägt die Eltern-Kind-Beziehung massiv (mit). 4.2.2 Eltern als Co-Organisator/ innen Dadurch, dass die Eltern der Bewohner/ innen sozusagen zu Co-Organisator/ innen werden, sind sie stark in das Leben ihrer erwachsenen Kinder eingebunden, was einerseits Ablösungsprozesse erschwert und andererseits das Eltern- Kind-Verhältnis verändert, das (potenziell) mehr von organisatorischen Aufgaben rund um die Versorgung des Kindes geprägt ist als durch vergemeinschaftendes Miteinander. Dadurch werden Eltern und Kind ein Stück weit voneinander entfremdet. Darüber hinaus ist auch die Beziehung der Eltern oftmals belastet und zerbricht nicht selten an dieser Herausforderung. Organisatorische Verpflichtungen lassen keinen Bereich des Lebens der Kinder aus, wobei sich die Organisation des Pflegedienstes als besonders mühselig herausgestellt hat, wie der Vater im Interview immer wieder berichtet. In der verhältnismäßig kurzen Bestehensdauer der Wohngemeinschaft musste schon mehrfach der Pflegedienst gewechselt werden, unter anderem weil die Mitarbeiter/ innen unzuverlässig gewesen seien. Einige Male kündigte der je aktuelle Pflegedienst von sich aus, da diesen der Dienst in der Wohngemeinschaft zu anstrengend gewesen sei, was sich sicherlich auch auf die Auseinandersetzung mit den Eltern bezieht, die die Pflege ihrer Kinder sehr genau im Blick haben. Es zeigt sich also, dass die organisatorisch-bürokratischen Herausforderungen, die die Unterbringung und Versorgung der Kinder betreffen, auch jenseits ihres Auszugs (der sich strenggenommen nicht vollständig vollzogen hat) bestehen bleiben. 4.3 Liebe, Sexualität und die Frage nach dem pädagogischen Handeln Anhand der Betrachtung eines weiteren Beispiels, bei dem es sich ebenfalls um eine Schilderung jener Mutter handelt, die oben bereits zitiert wurde, wird problematisiert, inwiefern gouvernementale Praxen Abhängigkeiten zwischen Eltern und Kind reproduzieren - was Ablösungsprozesse erschwert - und inwiefern darüber hinaus oftmals Konflikte zwischen Eltern und pädagogisch Handelnden bestehen. Im Vordergrund steht dabei das Thema Sexualität. Der mittlerweile erwachsene Sohn wohnt inzwischen in einer ambulant betreuten Wohnung. Seine Mutter berichtet von einem Kennenlerngespräch mit den zuständigen Betreuer/ innen: VHN 3 | 2020 159 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG „Als die pädagogischen Fachkräfte das erste Mal hier waren, haben wir ein Kennenlerngespräch gehabt, damit die den [Vorname des Sohnes] kennenlernen. Ich hab dann zu der Fachkraft gesagt, dass er gerne Liebesfilme schaut, worüber ich im Übrigen sehr froh bin, denn am Wochenende, wenn er hier bei uns ist, da guckt er mindestens einen Liebesfilm und hat dann seine Hormone im Griff, denn er befriedigt sich während dieses Films. Und das bedeutet dann, er wird nicht übergriffig, sondern kann damit seine Sexualität ein bisschen ausleben. Daraufhin sagt die Pädagogin: ,Ach ja, wenn [Vorname des Sohnes] so gerne Filme schaut, dann können wir ja mal mit ihm ins Kino gehen‘. Ich sage daraufhin: ,Naja, der will da nur Liebesfilme gucken‘. Daraufhin sagt sie: ,Och, das macht mir nichts aus‘. Und da stellen sich bei mir schon die Haare zu Berge und ich sage dann: ,Wollen Sie, dass mindestens hundert Leute Ihrem Intimbereich zugucken? Ja? ‘. Das macht mich ganz rasend“. (01 - 15; Z. 154 - 167) 4.3.1 Intimität Das Hilfesystem respektive seine Ausgestaltung bringt das Handeln der Mutter hervor und ist mit ein Grund dafür, dass sie intime Details aus dem Leben ihres Sohnes kennt und sich ganz offensichtlich dazu veranlasst sieht, diese mit Pädagog/ innen zu teilen. Indem die Mutter über den Sohn in seiner Anwesenheit spricht, zeigt sich, dass sie seine Sexualität observiert und dies vor ihm - und Fremden - öffentlich macht. Dabei ist ihr sicherlich nicht zu unterstellen, dass sie ihn erniedrigen will, vielmehr ist davon auszugehen, dass sie davon ausgeht, in seinem Interesse zu handeln. Dennoch wird er durch diese Objektivierung massiv in seinem Status reduziert. Gleichzeitig muss zu bedenken gegeben werden, dass die Mutter (in dieser Situation) seine (einzige) Fürsprecherin ist. Infrage zu stellen ist darüber hinaus, dass die Mutter einen direkten Ursache-Wirkungs- Zusammenhang zwischen (nicht ausgelebter) Sexualität und übergriffigem Verhalten herstellt und die Selbstbefriedigung des Sohnes infolgedessen primär als ‚Ventil‘ deutet, das verhindert, dass er anderen gegenüber aufdringlich wird. Es zeigt sich also, dass ein erwachsenengemäßes Ausleben von Sexualität nicht aus dem Erleben heraus begründet wird, wie es routinemäßig der Fall wäre, sondern aus einer Idee der Prävention. Der Sexualität des Sohnes wird so ein anderer Zweck als der der Befriedigung zugeordnet oder zumindest an die Seite gestellt. 4.3.2 Adoleszenzkrise(nbewältigung) Das Hilfesystem behindert das Bewältigen der Adoleszenzkrise unter anderem dadurch, dass ein erwachsenengemäßes Ausleben von Sexualität erschwert wird, da das System so gut wie keine Unterstützungsmöglichkeiten in diesem Bereich kennt. Es offenbart sich hier eine Leerstelle der institutionalisierten Behindertenhilfe, die das Bedürfnis nach Sexualität, aber auch nach Liebe, Nähe und Partnerschaft, nicht auffangen kann. Dies liegt primär darin begründet, dass die Behindertenhilfe ihre Vertreter/ innen vorrangig technisch einsetzt, Liebe und Sexualität allerdings (routinemäßig) nicht technisch erbracht werden können - was auch von den Vertreter/ innen (z. B. pädagogisch Handelnden) infrage gestellt und damit verändert wird, wie aus dem Beispiel hervorgeht. Die Mutter versucht ebenfalls, diese Leerstelle zu füllen, wodurch die ohnehin schon schwierige Adoleszenzkrisenbewältigung torpediert wird, da Abhängigkeiten sogar im ureigentlich privaten Bereich der Sexualität errichtet werden, in den andere Personen routinemäßig keinen Einblick nehmen, sofern sie nicht als Sexualpartner/ in beteiligt sind. Die Rolle der Mutter ist infolgedessen hoch problematisch, denn sie ist zugleich Mutter, Fürsorgende, Freundin und in gewisser Weise sogar Ersatz für eine/ n Partner/ in, da sie ihrem Sohn Sexualität ermöglicht. Zusätzlich beeinflusst wird dies dadurch, dass ihr Sohn physisch stark eingeschränkt ist und infolgedessen Hilfestellungen bzw. Unterstützung im Vorfeld und/ oder im Nachgang VHN 3 | 2020 160 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG benötigt. Die Mutter-Kind-Beziehung ist also sowohl durch elterliche Liebe als auch durch das Ermöglichen von Sexualität geprägt, was wiederum dazu führt, dass sie ein Stück weit gefährdet wird, denn sie simuliert gewissermaßen partnerschaftliche Liebe. Mit Blick auf die obige Schilderung wird die Frage aufgeworfen, inwiefern eine weiterreichende staatliche Steuerung, die sich eben auch auf Liebe, Partnerschaft und insbesondere Sexualität erstreckt, das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn entlasten würde. Offen bleibt, inwiefern eine solche Praxis operationalisiert werden könnte. Dennoch zeigt sich hieran, dass gouvernementale Praxen - gerade im Hinblick auf das Bewältigen der Adoleszenzkrise (und darüber hinaus) - auch eine Art Befreiung sein können. 4.3.3 Liebe Eine weitere Abhängigkeitsdimension entfaltet sich in emotionaler Hinsicht, und auch hier wird das Verhältnis zwischen (erwachsenem) Kind mit geistiger Behinderung und seinen Eltern stark von gouvernementalen Praxen des Hilfesystems mitbestimmt. Kinder mit geistiger Behinderung werden zumeist von ihren Eltern geliebt, und diese enge emotionale Bindung kann im Hilfesystem nicht weitergeführt werden. Diese enge Bindung wiederum reproduziert die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern, da sie häufig nicht mit der Zeit und dem Bewältigen der Adoleszenzkrise in andere enge emotionale Beziehungen übergeht, wie beispielsweise zu einem Partner oder einer Partnerin, mit dem oder der eine eigene Familie (die sog. Zeugungsfamilie) gegründet oder eine Partnerschaft eingegangen wird. Ablösungsprozesse sind herausfordernd und werden zudem dadurch erschwert, dass die Konstitution des Behindertenhilfesystems die Mutter immer wieder in eine emotional fürsorgliche Rolle drängt beziehungsweise sie sich dazu gezwungen sieht, diese beizubehalten. Eine Folge davon ist, dass viele Menschen mit geistiger Behinderung bis zum höheren Erwachsenenalter (teilweise sogar bis zum Tod der Eltern) im Elternhaus leben und erst spät, im Verhältnis zur routinemäßigen Lebenspraxis, in betreute Wohnformen umziehen. Das Bewältigen der Adoleszenzkrise geht jedoch damit einher, das elterliche Protektorat zu verlassen, was durch die enge Bindung an die Eltern erschwert wird. Hinzu kommt, dass in der institutionalisierten Behindertenhilfe ähnlich protektive Strukturen vorherrschen wie in der Herkunftsfamilie (wenngleich in anderer Ausprägung). Während das Protektorat der Herkunftsfamilie primär von Liebe und Fürsorge geprägt ist, vollziehen sich unter dem Protektorat der Behindertenhilfe vor allem überwachende und regulierende Praxen. Dadurch werden schließlich - insbesondere sozial-emotionale - Abhängigkeiten von der Herkunftsfamilie reproduziert und neue Abhängigkeiten etabliert. 4.3.4 Pädagogisches Handeln Die pädagogische Beziehungspraxis vollzieht sich in einer „widersprüchliche[n] Einheit von Autonomie und Abhängigkeit“ (Oevermann, 1996, S. 123). Pädagogisches Handeln ist also in Ambivalenzen eingebettet. Eine zentrale Herausforderung ist dabei, das Verhältnis von Nähe und Distanz auszuhandeln, denn pädagogisch Handelnde sind dazu herausgefordert, immer eine gewisse Distanz zu wahren bzw. wahren zu müssen (begründet diese doch ihre Professionalisiertheit 6 ), aber gleichzeitig den Adressat/ innen offen und empathisch zu begegnen, also Nähe zuzulassen (Trescher, 2018 a, S. 312f.). In Bezug auf die obige Schilderung der Mutter ist zu problematisieren, dass, auch wenn die Pädagogin es als ihre Aufgabe ansieht, mit dem Sohn einen Film anzuschauen, während dieser sich befriedigt, dadurch möglicherweise ihre Grenzen verletzt werden, da eine solche Handlung in der routinemäßigen Lebenspraxis als übergriffig verstanden würde, fällt doch das Ausüben sexueller Handlungen vor Personen, zu denen keine sexuelle Beziehung besteht, unter den Straftatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183 a StGB). Zudem würden auch die Grenzen des Sohnes verletzt, VHN 3 | 2020 161 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG indem eine derart intime Handlung in den öffentlichen Raum verlegt wird. Pädagogisch Handelnde arbeiten also in der Ambivalenz, die betreuten Personen darin unterstützen zu wollen, Sozialbeziehungen einzugehen, in denen sie Liebe, emotionale Nähe und Sexualität erfahren können, demgegenüber allerdings auch ihre eigenen Grenzen wahren zu müssen und nicht selbst Partner/ in in einer solchen Sozialbeziehung sein zu können. Das Hilfesystem und seine starren Strukturen können nur wenig dazu beitragen, diese Ambivalenz auszuhandeln, wodurch klar wird, dass pädagogisch Handelnde ebenso durch die gouvernementalen Praxen des Hilfesystems mitgesteuert werden wie Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien. Es ist eine Form des Regierens, dass über die Sexualität eines Menschen von Pädagogin und Mutter verhandelt wird (und dies letztlich auch bestimmte Umsetzungspraxen zur Folge hat). Welche Räume zur Sexualitätsauslebung wann, wie und wo offen stehen, prägen den Sohn und prägen auch die Familie - nicht zuletzt bezüglich der Rolle der Mutter. 5 Conclusio Familien von Kindern mit geistiger Behinderung werden durch die gouvernementalen Praxen des Hilfesystems mitgeprägt, beeinflusst und verändert. Ein Kind mit geistiger Behinderung zu haben, geht also, das bestätigen die Ergebnisse der Studie, mit teils erheblichen Veränderungen einher (Seifert, 2014, S. 25), wobei nicht unterschlagen werden soll, dass die Geburt eines Kindes immer mit immensen Veränderungen für die Eltern einhergeht. Allerdings sind diese Veränderungen im Kontext eines Kindes mit geistiger Behinderung primär das Resultat manifestierter Behinderungspraxen, die in der Auseinandersetzung mit einem System entstehen, das ureigentlich unterstützen soll, dabei aufseiten der Familie allerdings selbst Ressourcen verschlingt, insbesondere durch bürokratische, verwaltungstechnische Aufgaben. Das Hilfesystem hat somit einen ambivalenten Charakter, da gouvernementale Praxen zwar oftmals notwendig sind, um Unterstützung zu organisieren und zu erbringen, aber in gewisser Hinsicht eben auch Behinderung (re-)produzieren (Trescher, 2018 b). Deutlich wird auch, dass ‚geistige Behinderung‘ keine singulär personengebundene Angelegenheit ist, sondern immer auch das nahe Umfeld betrifft, vor allem die (Herkunfts-)Familie. Der Alltag der Angehörigen wird oftmals durch die gouvernementalen Praxen des Hilfesystems massiv mitbestimmt, und auch wenn die meisten Familien einen Weg gefunden haben, ihren Alltag zu gestalten und ihn als wertvoll erleben, heißt das noch lange nicht, dass sie organisatorisch-bürokratische Erfordernisse problemlos bewältigen können. Eine Mutter sagt: „Es dauert alles so lang und es ist so anstrengend. Wir haben schon unzählige Anträge gestellt und so viele Widersprüche erlebt. Und dann immer die Frage: Welche Institutionen muss ich an den Tisch holen, damit es funktioniert? “ (01 - 23; Z. 932 - 936) Dadurch werden die Familien in ihrer persönlichen Handlungsökonomie stark eingeschränkt, es verändern sich Strukturen oder sie entwickeln sich anders als erwartet und persönliche Bezüge verschieben sich - zum eigenen Kind, zum/ zur Partner/ in oder auch zu Verwandten und Freund/ innen. Gerade die Beziehungsstruktur zum eigenen Kind ist dabei stark von den gouvernementalen Praxen des Hilfesystems mitgeprägt und erschwert unter anderem Ablösungsprozesse massiv, wie gezeigt wurde. Dabei kommt zum Tragen, dass Gouvernementalität insbesondere auch emotional erlebt wird. Offen bleibt schließlich die Frage, wie gouvernementale Praxen dekonstruiert werden können. Ein zentrales Problem ist, dass im Hilfesystem Überwachung und Versorgung als alleinige Leitideen herangezogen werden. Damit pädagogisches Handeln möglich ist, bedarf es allerdings moralphilosophischer Reflexion, zum Beispiel bezüglich der Frage nach der Würde des Menschen. Ebenfalls bleibt das weitreichende Hineinregieren in Privatsphäre und Privatangelegenheiten der Men- VHN 3 | 2020 162 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG schen mit geistiger Behinderung und ihren Familien weitgehend unreflektiert. Dabei muss handlungspraktisch abgewogen werden, inwiefern die Würde von Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Familien, die immer wieder verletzt wird, ein Stück weit dadurch erhalten werden kann, dass es tatsächlich private Bereiche gibt, auf die das Hilfesystem und die (unter anderem daraus erwachsenden) gouvernementalen Praxen respektive ihre Akteur/ innen keinen Zugriff haben. Damit geht einher, ein gewisses Risiko zu wagen (Trescher, 2015), nämlich nicht überall Einblick zu nehmen und einzelne Lebensbereiche umfassend zu steuern, sondern Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Familien das Vertrauen entgegenzubringen, selbst am besten zu wissen, wo sie Unterstützung brauchen und wie sie diese einsetzen. Das hieße zum Beispiel auch, finanzielle Unterstützungen freier zu gewähren und eine weniger enge Dokumentation der Ausgaben einzufordern oder eine größere Flexibilität bei der Wahl der passenden Einrichtungen und Akteur/ innen zu ermöglichen, die die Familie begleiten. Dadurch könnten schließlich fremdbestimmende Strukturen und Praxen zumindest ein Stück weit zurückgebaut werden. Schließlich bleibt festzuhalten, dass gouvernementale Praxen zwar in gewisser Hinsicht notwendig sind, um Unterstützung zu organisieren und zu erbringen, aber in gewisser Hinsicht eben auch Behinderung (re-)produzieren (Trescher, 2018 b). Leerstellen in der Forschung um eine Gouvernementalität der Familie liegen darüber hinaus darin, zu problematisieren, inwiefern Menschen mit geistiger Behinderung eine entsprechend ‚behinderte Wahrheit‘ über sich selbst reproduzieren, indem sie permanent in ihrem Status als Hilfeempfänger/ in adressiert und bestätigt werden, sowie welche Rolle die politische Ökonomie in diesem Zusammenhang spielt, die aus ihrer eigenen Logik heraus nach verrechenbaren Zahlen verlangt und somit Menschen als vermessbar und bearbeitbar hervorbringt. Anmerkungen 1 Mit der Figur der Hervorbringung soll die Gewordenheit von Gegenständen, Praxen, Subjekten etc. hervorgehoben werden. In diesem Verständnis gibt es nichts Manifestes, sondern alles wird permanent in je bestimmter Weise neu konstituiert - hervorgebracht. Theoretischer Bezugsrahmen dessen ist ein foucaultsches Diskursverständnis, das Diskurse „als Praktiken“ versteht, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault, 1981, S. 74). 2 Es ist beispielsweise nicht von der Hand zu weisen, dass es bestimmte Erwartungen an die ‚Mutter‘ gibt, die keinesfalls ‚natürlich‘, sondern vielmehr Teil einer ‚modernen Gesellschaft‘ sind, die diese Mutterrolle teilweise auch bürokratisch-gouvernemental mitformt, z. B. im sog. Mutterschutz. 3 Mit dem Begriff ‚routinemäßig‘ wird einem Verständnis von Krise und Routine gefolgt, wie es Oevermann (u. a. 1996) eingeführt hat. Hierbei werden Krisen als Normalfall und Routinen als (analytischer) Grenzfall verstanden, die sich aus der erfolgreichen Bewältigung von Krisen ergeben (Oevermann, 1996, S. 75). Routinemäßig sind Praxen also immer dann, wenn sie nach erfolgreicher Krisenbewältigung in gewisser Weise routinisiert wurden. Umgangssprachlich ist dem wohl der Begriff ‚alltäglich‘ am nächsten (allerdings können beide Begriffe aus analytischer Perspektive nicht synonym verwendet werden). 4 Es sei auf zweierlei hingewiesen: Zum einen werden dieser und die nachfolgenden Interviewausschnitte exemplarisch herangezogen, um einzelne Problematiken und Ambivalenzen zu illustrieren. Alle Schilderungen enthalten weitaus mehr Konfliktpotenzial, als in der Kürze dieses Beitrags diskutiert werden kann. Dennoch werden zentrale Ergebnisse der Studie dargelegt. Zum anderen wurden die Schilderungen der Interviewpersonen sprachlich geglättet. Grundlage der Feinanalysen war die originalgetreue Transkription der Interviews. 5 Zur Wirkmächtigkeit von Bürokratie siehe zudem Adorno, Horkheimer & Kogon, 1989, sowie Weber, 1988. 6 Mit dem Begriff „Professionalisiertheit“ wird auf Oevermann referiert, der diesen Begriff bevorzugt und anregt, „‚Professionalisierung‘ bzw. VHN 3 | 2020 163 HENDRIK TRESCHER Eltern und ihre Kinder mit geistiger Behinderung im Hilfesystem FACH B E ITR AG ‚professionalisierte Tätigkeit‘ und ‚Profession‘ zu trennen“ (Oevermann, 1996, S. 95), um so auch begrifflich den prozesshaften Charakter der Hervorbringung professionalisierten Handelns zu betonen. Literatur Abrams, T. (2015). Disability and bureaucratic forms of life. Nordic Journal of Science and Technology Studies, 3 (1), 12 -21. https: / / doi.org/ 10.5324/ njsts.v3i1.2153 Adorno, T. W., Horkheimer, M. & Kogon, E. (1989). Die verwaltete Welt oder: Die Krisis des Individuums (1950). In A. Schmidt & G. Schmid Noerr (Hrsg.), Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Band 13. Frankfurt a. M.: Fischer. Foucault, M. (1976). Die Macht und die Norm. In M. Foucault (Hrsg.), Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, 114 -123. Berlin: Merve. Foucault, M. (1978). Die „Gouvernementalität“ (Vortrag). In M. Foucault (Hrsg.), Analytik der Macht, 148 -174. 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