Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte: Dialogisches Lesen zur Unterstützung des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten in der Kindertagesstätte (DiaGramm)
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Detta Sophie Schütz
Katrin Alt
Schulerfolg und Bildungschancen hängen eng mit sprachlichen Fähigkeiten zusammen (vgl. Artelt et al., 2001). Diese Erkenntnis hat sich in den vergangenen 20 Jahren durchgesetzt und dementsprechend wurden mittlerweile in nahezu allen Bundesländern Interventionen zur Förderung sprachlich auffälliger Kinder etabliert. Bei einer Vielzahl dieser Fördermaßnahmen werden die betreffenden Kinder allerdings regelmäßig aus dem Gruppenverband der Kindertageseinrichtung separiert. Dadurch findet die Förderung oftmals in künstlich herbeigeführten Situationen ohne Bezug zu anderen Bildungsaktivitäten statt. Dies ist sowohl vor dem Hintergrund des Inklusionsgedankens als auch aus lerntheoretischer Perspektive zu kritisieren. [...].
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214 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Dialogisches Lesen zur Unterstützung des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten in der Kindertagesstätte (DiaGramm). Eine kontrollierte Interventionsstudie mit Kindern im Alter von 4 bis 5 Jahren Dr. Detta Sophie Schütz, Dr. Katrin Alt Universität Bremen Schulerfolg und Bildungschancen hängen eng mit sprachlichen Fähigkeiten zusammen (vgl. Artelt et al., 2001). Diese Erkenntnis hat sich in den vergangenen 20 Jahren durchgesetzt und dementsprechend wurden mittlerweile in nahezu allen Bundesländern Interventionen zur Förderung sprachlich auffälliger Kinder etabliert. Bei einer Vielzahl dieser Fördermaßnahmen werden die betreffenden Kinder allerdings regelmäßig aus dem Gruppenverband der Kindertageseinrichtung separiert. Dadurch findet die Förderung oftmals in künstlich herbeigeführten Situationen ohne Bezug zu anderen Bildungsaktivitäten statt. Dies ist sowohl vor dem Hintergrund des Inklusionsgedankens als auch aus lerntheoretischer Perspektive zu kritisieren. Beim Dialogischen Lesen handelt es sich hingegen um eine in den Alltag der Kindertagesstätte integrierte Form der Sprachbildung, welche die Lebenswelterfahrungen der Kinder explizit mit einbezieht. Nach Erkenntnissen verschiedener Studien (u. a. Mol, Bus, de Jong & Smeets, 2008; Ennemoser, Kuhl & Pepouna, 2013) unterstützt das Dialogische Lesen besonders effektiv die Sprachentwicklung von zweibis dreijährigen Kindern, von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache, von Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen und von Kindern mit Bildungsbenachteiligungen. Die erwiesenen Effekte beziehen sich dabei in erster Linie auf die lexikalische Entwicklung, während Auswirkungen auf die grammatischen Fähigkeiten deutschsprachiger Kinder bisher nicht nachgewiesen wurden. Der Fokus der Förderung liegt in der Regel auf der Unterstützung des Erwerbs pragmatischer und lexikalischer Fähigkeiten, während morpho-syntaktische Fähigkeiten bislang lediglich in sprachheilpädagogischen Kontexten explizit durch den Einsatz von Bilderbüchern gefördert werden (vgl. Mayer, 2013). VHN, 89. Jg., S. 214 -216 (2020) DOI 10.2378/ vhn2020.art26d © Ernst Reinhardt Verlag Ziel des im September 2019 an der Universität Bremen gestarteten Forschungsprojektes „Dialogisches Lesen zur Unterstützung des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten in der Kindertagesstätte (DiaGramm)“ ist es, das Dialogische Lesen so weiterzuentwickeln, dass es auch für eine effektive Förderung der sprachlichen Fähigkeiten älterer Kinder in der Kindertagesstätte eingesetzt werden kann und die Entwicklung der grammatischen Fähigkeiten der Kinder unterstützt wird. Neben der bereits etablierten Methode des klassischen Dialogischen Lesens (Whitehurst et al., 1988; Hartung & Ennemoser, 2018) kommen dabei zwei weitere Fördermethoden zum Einsatz: das Zielorientierte Dialogische Lesen sowie die von Katrin Alt (2019) entwickelte Methode der Kognitiven Aktivierung durch philosophische Fragen. Diese beiden Methoden beinhalten die wesentlichen Merkmale des klassischen Dialogischen Lesens (s. u.) und ergänzen sie. Zielorientiertes Dialogisches Lesen (Methode 1) Das Zielorientierte Dialogische Lesen setzt jeweils am aktuellen Entwicklungsstand der Kinder an. Bei der Auswahl des Bilderbuches wird dabei darauf geachtet, dass das Buch viele Anlässe bietet, die Zielstruktur (entsprechend der Zone der nächsten Entwicklung) zu bilden. Der Input für die Dialogische Lesesituation sowie die Fragen zum Evozieren der Zielstruktur werden vorab geplant, um eine hohe Frequenz zu erzielen und „Ablenker“ zu vermeiden. Die natürliche Kommunikationssituation hat jedoch Priorität. Das konkrete Förderkonzept, das im Projekt DiaGramm zum Einsatz kommt, wurde von Detta Schütz ausgearbeitet. Diese Methode des Zielorientierten Dialogischen Lesens integriert verschiedene Prinzipien und Techniken aus der Sprachheilpädagogik. Kognitive Aktivierung durch philosophische Fragen (Methode 2) Alt (2019) konnte belegen, dass regelmäßige philosophische Gespräche im Rahmen von Bilderbuchbetrachtungen positive Effekte auf die VHN 3 | 2020 215 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Sprachentwicklung von Kindern haben. Die Verwendung komplexer Nebensatzstrukturen sowie komplexer Verbformen und -stellungen konnte in dieser Untersuchung auf den kognitiv anregenden Inhalt der philosophischen Gespräche zurückgeführt werden. Im Rahmen des Projektes DiaGramm soll nun untersucht werden, ob sich diese Ergebnisse für vierbis fünfjährige Kinder replizieren lassen. Für die Auswahl der Bilderbücher wurden Kriterien nach Haynes und Murris (2012) genutzt. In der Schulung der Förderkräfte wurden Ansätze aus der Philosophiedidaktik (Martens, 2002) und zur Gesprächsführung in philosophischen Gesprächen (Michalik, 2006) vermittelt. Klassisches Dialogisches Lesen (Methode 3) In der dritten Fördergruppe kommt die klassische Form des Dialogischen Lesens zum Einsatz. Ziel dabei ist es, die Sprachproduktion der Kinder im Dialog über die Bilderbücher anzuregen. Den Förderkräften wurden die zentralen sprachfördernden Strategien nach Whitehurst et al. (1988) vermittelt: n offene Fragen, n Ergänzungsfragen zu Funktionen oder Attributen, n Expansionen, n angemessene Reaktionen auf kindliche Antwortversuche, n Reduktion des Anteils der reinen Vorlesezeit, n Reduktion von Fragen, die durch Zeigegesten zu beantworten sind (vgl. Whitehurst et al., 1988). Zudem wurden die Relevanz der Herstellung von Lebensweltbezügen (vgl. Hartung & Ennemoser, 2018) sowie allgemeine Techniken zur Umsetzung von Bilderbuchbetrachtungen (Alt, 2013) thematisiert. Methodische Anlage der Untersuchung Da der Erwerb morpho-syntaktischer Fähigkeiten im Alter von vier bis sechs Jahren von besonderer Relevanz ist (vgl. Ruberg & Rothweiler, 2012), liegen diese Fähigkeiten im Fokus der Evaluationsstudie. Das Forschungsprojekt sieht eine Förderung von Kindern dreier Experimentalgruppen über einen Zeitraum von sechs Monaten einmal wöchentlich nach jeweils einer Methode des Dialogischen Lesens vor: n Methode 1: Zielorientiertes Dialogisches Lesen (Schütz, 2020) (EG 1), n Methode 2: Kognitive Aktivierung mittels philosophischer Fragen initiiert durch Bilderbücher (Alt, 2019) (EG 2) sowie n Methode 3: Dialogisches Lesen (Whitehurst, 1988; Hartung & Ennemoser, 2018) (EG 3). Die drei Experimentalgruppen bestehen aus jeweils 31 bis 51 Kindern und die Kontrollgruppe (KG, keine zusätzliche sprachliche Förderung) aus 22 Kindern. Der Anteil an mehrsprachigen Kindern beträgt jeweils 45 bis 50 Prozent. In der Prätestung im November 2019 kamen folgende Verfahren zum Einsatz: n ESGRAF 4 -8, Grammatiktest für 4bis 8-jährige Kinder (Motsch & Rietz, 2016), n HAVAS 5, das Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands bei Fünfjährigen (Reich & Roth, 2007), n SON-R 2 ½ -7, Non-verbaler Intelligenztest (Deutsche Standardisierung von Tellegen, Laros & Petermann, 2007), sowie n Mottier-Test, Bestandteil des Zürcher Lesetests (Linder & Grissemann, 1981); Normwerte zum Mottier-Test von Risse & Kiese-Himmel (2009). Die Verfahren ESGRAF 4 -8 und HAVAS 5 werden bei der Posttestung im Juni 2020 erneut durchgeführt. Die Ergebnisse werden anschließend mithilfe statistischer Verfahren ausgewertet. Zur Sicherung der Qualität und Vergleichbarkeit der Förderangebote sowie zur Ermöglichung einer qualitativen Analyse der Interaktionen werden in sämtlichen Fördergruppen zu je vier Zeitpunkten Filmaufnahmen erstellt. Die aufgezeichneten Interaktionen werden anschließend transkribiert und inhaltsanalytisch (Kuckartz, 2012) ausgewertet. VHN 3 | 2020 216 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Ziele der Evaluationsstudie Das Projekt DiaGramm erhebt zum einen explizit, ob die etablierte Methode des Dialogischen Lesens Einfluss auf die Entwicklung der morpho-syntaktischen Fähigkeiten von Kindern hat. Zum anderen werden die beiden vorgestellten weiterentwickelten Methoden des Dialogischen Lesens - das Zielorientierte Dialogische Lesen sowie die Kognitive Aktivierung durch philosophische Fragen - hinsichtlich ihres Einflusses auf die morpho-syntaktischen und bildungssprachlichen Fähigkeiten der Probanden überprüft. Die Posttestungen finden im Juni 2020 statt. Eine Follow- Up-Testung ist für November 2020 geplant. Aufgrund der Corona-Pandemie wird sich der Projektzeitraum um voraussichtlich ein halbes Jahr verlängern. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei dschtz@uni-bremen.de und bei katrin.alt@uni-bremen.de
