Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Rezension: Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild
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2020
Christian Mürner
Klein, Horst; Osberghaus, Monika (2019): Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild Leipzig: Klett Kinderbuch Verlag. 40 S., € 14,–
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VHN 3 | 2020 225 REZE NSION E N (S. 2) untersucht. Es ist hier fachlich passend verortet. Mit dem gewählten Ansatz bieten die Herausgeberinnen nicht wenige neue Informationen. Vorgelegt wird ein Werk, das Bezüge zur Geschichte des Faches Hörgeschädigtenpädagogik, vorrangig aber zur Geschichte der Gehörlosen, ihrer Kultur und Gemeinschaft herstellt, vorhandenes Wissen fachlich erweitert und neue Aspekte aufzeigt. Die Herausgeberinnen gliedern ihr Werk in drei Themenblöcke mit jeweils drei bis vier Einzelbeiträgen. Schmidt und Werner wirken zum Zeitpunkt der Buchherausgabe im Bereich der Geschichte der Medizin. Sie nehmen damit eine Perspektive ein, die von zahlreichen bisher erschienenen historischen Veröffentlichungen über Gehörlose abweicht. Durch die Auswahl der Beiträge stellen die Herausgeberinnen gebärdensprachlich kommunizierende Menschen in den Mittelpunkt. Die Zusammenstellung der Autorinnen und Autoren orientiert auf den deutschsprachigen Raum; so konzentriert sich der Inhalt auf Aussagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Buch beginnt mit einer von Schmidt und Werner verfassten umfassenden Einleitung, die den Bogen von den historischen Entwicklungen bis zur aktuellen Lage spannt, den Forschungsstand (in den drei ausgewählten Ländern) und die dann folgenden Themenblöcke vorstellt sowie ein erstes Fazit formuliert und einen Ausblick gibt. Die drei Teile (Themenblöcke) sind „Die Perspektiven gehörloser Menschen sichtbar machen“ mit Beiträgen von Wolff, Blaser/ Ruoss und Neugebauer, „Taube Akteure und Gehörlosenverbände in Interaktion mit der hörenden Mehrheitskultur“ unter Beteiligung von Söderfeldt/ Schwanke, Werner/ Wiethoff, Gebhard und Zaurov sowie „Hörende Perspektiven auf Gehörlosigkeit neu bewerten: Interdisziplinäre Quellen und Ansätze“ mit den Verfasserinnen und Verfassern Enescu, Wibmer, Degner und Dotter/ Jarmer/ Huber. Obwohl nach Möckels „Geschichte der Heilpädagogik“ (1988, S. 13) die Geschichte der Erziehung taubstummer Kinder eine gründliche („die gründlichste“) Bearbeitung (im Vergleich zu den anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen) erfahren hat, bietet die Schrift neue Impulse und eröffnet neue Sichtweisen. Ab Teil 2 stimmen die Seitenzahlen der Beiträge bedauerlicherweise nicht mehr mit dem Inhaltsverzeichnis überein. Das erschwert dem Leser eine rasche Orientierung im Buch, tut aber dem fachlichen Inhalt keinen Abbruch. Die Veröffentlichung ist jedem historisch und fachlich Interessierten, aber auch Studierenden der Fächer Schwerhörigen- und Gehörlosenpädagogik sowie den Betroffenen selbst zu empfehlen. Da es ein Sammelwerk ist, lohnt es sich durchaus, auch nur einzelne Beiträge vertiefend zu lesen. Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt D-80802 München DOI 10.2378/ vhn2020.art28d Klein, Horst; Osberghaus, Monika (2019): Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild Leipzig: Klett Kinderbuch Verlag. 40 S., € 14,- Der Buchtitel kündigt an: „Alle behindert! “ Mit Ausrufezeichen, das Aufmerksamkeit verlangt. Das kleine „h“ in behindert ist handschriftlich spiegelverkehrt geschrieben. Auf der ersten Seite heißt es dann in einer Sprechblase des vorlauten Julien: „Ja, schön und gut. Aber was soll ICH hier? “ Stupend wird alles infrage gestellt, auch pädagogische Hintergedanken. Ehe Julien vorgestellt wird, beginnt es aber mit der gutgelaunten Anna. Trotz der gebräuchlichen Namen geht es nicht um reale Personen, sondern um erfundene Figuren. Ihre Porträts und Steckbriefe haben bestimmte und für jede(n) die gleichen Rubriken über das, was man gerne oder weniger mag, umarmen oder streiten, teilen oder abgeben. Über die Art der Beeinträchtigung, wie oft sie vorkommt, ob sie wieder weggeht, woher sie kommt oder wie man damit umgeht. Ein Mitmach-Level erfasst, welche Möglichkeiten beim gemeinsamen Spielen bestehen. Und unten am Ende des Streckbriefes der jeweiligen Figur stehen einige Zeilen mit „Geheimnissen“ auf dem Kopf. Es gibt auf jeder Seite genau 13 gut vergleichbare VHN 3 | 2020 226 REZE NSION E N Rubriken, unter denen eine mittendrin „Behinderung“ überschrieben ist, bei Anna wird sie „Down- Syndrom“, bei Julien „Angeber“ genannt. Der Einwand trifft zu, dass es sich bei Julien, dem Angeber, bei Paul, dem Mitläufer, bei Vanessa, der Tussi usw. nicht um Behinderungen im Sinn des „Behi-Ausweises“ wie bei Lenny (Muskelschwäche), bei Pippa (Querschnittslähmung), bei José (Lernbehinderung) usw. handelt. Letztere sind erkennbar medizinische bzw. sonderpädagogische Diagnosen, erstere sozial zugeschriebene Charaktereigenschaften; bei deren Auftritt geht es offensichtlich um ein didaktisches Moment der humorvoll gedachten Irritation. Solche „Sprachspiele“ können angemessene, herausfordernde und kreative Umgangsweisen anregen. Der „Angeber“ ist dergestalt „behindert“, wie heute auf dem Schulhof „Du bist behindert“ verwendet wird. Das bestätigt sozusagen der Rückumschlag des Buches, wo es als Erstes heißt: „Wer das liest, ist behindert! “ - nicht etwa, wie man früher sagte, „ist doof“. - „Wer dabei keine Miene verzieht, ist lachbehindert! “, meint die Verlagswerbung. Schon um 1500 war „Gebrechlich sind wir alle“ als Sprichwort gebräuchlich. Um 1980 aber galt die gutgemeinte Parole „Wir sind doch alle behindert“ in Kreisen der Behindertenbewegung als verlogen, als Verschleierung der Unterschiede von Betroffenheit und Stellvertretung. Was hat sich geändert, dass 40 Jahre später ein Kinderbuch („ab 5 Jahren und für alle“) mit dem Titel „Alle behindert! “ erscheint? Es ist die Beteiligung: Die Autoren, die Verlegerin von Klett Kinderbuch Monika Osberghaus und der Illustrator Horst Klein, bedanken sich im Nachwort bei den Kindern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und ihren Eltern für deren zahlreiche „offene und berührende Antworten mit Herz, Verstand und Humor“, ohne die das Buch nicht hätte realisiert werden können. Die in den letzten Jahren zunehmenden Partizipationschancen ermöglichen durch ihr Vorverständnis die Darstellung von Differenzierungen und Kooperationen. Das inklusive Anliegen kann sowohl von Selbstbestimmung als auch von abwechslungsreichen Auseinandersetzungen ausgehen. Das wird in den bunten Steckbriefen prägnant anschaulich. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2020.art29d Schäfer, Holger (Hrsg.) (2019): Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Weinheim: Beltz. 710 S., € 58,- Holger Schäfer legt vierzig Jahre nach dem ersten Handbuch Pädagogik der Geistigbehinderten von Heinz Bach das Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung vor. Wenngleich sich grundlegende Anliegen der Pädagogik bei geistiger Behinderung in der Zwischenzeit wenig verändert haben (S. 16), hat sich der Fachdiskurs in dieser Zeit in Bezug auf das Verständnis von Behinderung, von Diagnostik und Förderung, von Erziehung und Bildung, von Unterricht und Didaktik weiterentwickelt und ausdifferenziert. Diesem Entwicklungsprozess entsprechend ist das Handbuch bestrebt, fachspezifisch „bewährtes (und zu bewahrendes) Wissen und aktuelle Sichtweisen“ (S. 17) zusammenzuführen und darzustellen. Im Zentrum des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung stehen dabei die Fragen nach Lerninhalten und deren didaktisch-methodischer Aufbereitung und Vermittlung, nach Lernräumen und deren Organisation und Gestaltung, nach bildungsbiografischer Begleitung und Gestaltung von Übergängen sowie nach gelingender und gewinnbringender interdisziplinärer Zusammenarbeit. Für die Beantwortung dieser zentralen Fragen im pädagogischen Umgang mit der heterogenen Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gliedert Schäfer das Handbuch in vier Hauptteile: I) Grundlagen, II) Spezifika der schulischen Geistigbehindertenpädagogik, III) Fachorientierung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und IV) Lernfelder. Obwohl Schäfer dementiert, mit dem Handbuch dem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht werden zu können, ist doch dessen Umfang sehr beachtlich: Das Handbuch umfasst gesamthaft 63 Kapitel, die von 66 Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis verfasst wurden. Durch die sorgfältigen und fundierten Einführungen zu Beginn der Hauptteile wird die Leserschaft auf die relevanten Themen und damit zusammenhängende Herausforderungen und Fragestellungen für Theorie und Praxis
