Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Rezension: Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS
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2020
Marion Baldus
Braun, Sarah; Lakovits, Udo; Strachota, Andrea (2020): Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS Frankfurt a. M.: Mabuse-Verlag. 296 Seiten, € 29.95
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VHN 4 | 2020 306 REZE NSION E N Braun, Sarah; Lakovits, Udo; Strachota, Andrea (2020): Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS Frankfurt a. M.: Mabuse-Verlag. 296 Seiten, € 29.95 Thema und Entstehungshintergrund „Quasi mit einem Augenzwinkern“ (Braun, 2020, S. 10) habe sie, Sarah Braun, ihre Texte geschrieben. Mit einem Augenzwinkern, das für eine der letzten Freiheiten in ihrem Leben steht. Sarah Braun - Schlüsselfigur des Buches „Leben und gleichzeitig sterben“ - erhält im Alter von 24 Jahren die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). ALS ist eine neurodegenerative Erkrankung, die mit einem rapiden Bewegungsverlust zentraler Muskelgruppen einhergeht und zum Tode führt. Die Überlebensrate beträgt bei einer großen Schwankungsbreite im Durchschnitt dreieinhalb Jahre (Lorenzl, 2020, S. 15). Diese Grenze hat Sarah Braun knapp überschritten, als ihr Buch erscheint. Entstanden ist es aus dem Impuls heraus, sich mit dem eigenen Sterbeprozess auseinanderzusetzen und dabei nicht nur ihre eigene Perspektive, sondern die ihres sozialen und professionellen Umfeldes abzubilden. Im Ergebnis liegt ein fast 300 Seiten umfassendes Buch vor, das sich aus Einzelbeiträgen von 25 Autor/ innen zusammensetzt. Es ist kein Fachbuch, sondern eine biografisch begründete Exploration. Mitherausgegeben haben das Buch Andrea Strachota, Assistenzprofessorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien, und Udo Lakovits, Absolvent des Studiengangs. Alle drei Herausgeber/ innen befassen sich auch wissenschaftlich mit der Thematik Tod und Sterben. Aufbau und Inhalt Das Buch ist in sieben Themenbereiche gegliedert: n Anfang vom Ende n Tod n Körper & Verluste n Psyche und Schmerzen n Kommunikation & Ängste n Liebe & Hoffnung n Das Ende der Reise Den Themenclustern vorangestellt ist neben den Vorworten der Herausgeber/ innen eine Einführung zu Diagnose und Verlauf von ALS. Die anschließenden Beiträge orientieren sich entlang einer vierschrittigen Frage-Struktur, die die Subjektperspektive adressiert: n Wie ist es für dich, mich mit meiner Erkrankung zu begleiten? n Was bedeutet es für dich, mich in meinem Sterbeprozess zu begleiten? n Welche Emotionen und Gefühle rufen unsere gemeinsamen Erfahrungen in dir hervor? n Welchen Einfluss nimmt dies alles auf dein Leben? Zwischengeschaltet sind Steckbriefe zu den Autor/ innen sowie chronologisch geordnete Beiträge von Sarah Braun. Von diesen geht eine besondere Sogkraft aus. Eindrücklich schildert Braun erste Vorzeichen und Anfänge ihrer Erkrankung, Phasen der Hoffnung, der Behandlung und Therapie, der Angst und Trauer sowie zunehmender Verluste und der Suche nach dem Sinn: Können der Tod und mit dem Tod einhergehende Erfahrungen auch bereichern? Kann existenzielle Einsamkeit überwunden und Verzweiflung aufgefangen werden? Existenzielle Fragen, auf die Antworten nicht aus philosophischer Distanz, sondern unmittelbarer Betroffenheit formuliert werden. Die in der Existenzphilosophie beschriebene „Synchronizität von Leben und Tod“ (Noyon & Heidenreich, 2012, S. 127) wird für die Beteiligten konkret erfahrbar und manifestiert sich jeden Tag neu im Austarieren des (noch) Machbaren. „Leben und gleichzeitig sterben“ - der Titel trifft es auf den Punkt. „Ich bin krank, ob ich will oder nicht“, schreibt Braun (S. 9). Sie hat keine Wahl. Freiheitsräume werden beschnitten, Optionen schmelzen zusammen, Fertigkeiten und Fähigkeiten gehen verloren. Die Kontrolle über das Leben schrumpft. Was bleibt, ist „die Freiheit, die ich noch habe, [ . . . ] zu entscheiden, wie ich damit umgehe“ (Lakovits, 2020, S. 276). VHN 4 | 2020 307 REZE NSION E N Wie Sarah Braun „damit“ umgeht, scheint aus den Beiträgen der 24 Menschen hervor, die ihr als Freund/ in, behandelnder Arzt, Physiotherapeutin oder Professorin verbunden sind. Die Texte zeichnen das Bild einer Frau, die tiefe Spuren in der Welt hinterlässt. Spuren, die sich, mit Yalom (2008, S. 86, zit. n. Noyon & Heidenreich, 2012, S. 138) gesprochen, als konzentrische Einflusskreise „ähnlich wie die von einem in einen See geworfenen Stein ausgehenden ringförmigen Wellen“ (ebd.), auch dann noch lange weiter ausbreiten, wenn der Stein längst auf den Seegrund herab gesunken ist. Spuren, die „quasi mit einem Augenzwinkern“ (Braun, 2020, S. 10) verewigt wurden - ein doppelsinniger Hinweis darauf, dass ALS schon so weit fortgeschritten ist, dass nur noch die Augenbewegung bleibt, um sich mithilfe eines Eye-Trackers zu verständigen. Fazit „Leben und gleichzeitig sterben“ ist ein vielschichtiges Buch. Es berührt zentrale Themen des Menschseins. Im Zentrum steht die Bezogenheit; die Anwesenheit Anderer als Anker in Momenten existenzieller Bedrängnis. Die Präsenz dieser Menschen macht „den Unterschied“ (ebd., S. 12). Im Diskurs der Heilpädagogik gilt es diese Themen in den Blick zu nehmen. Fragen am Beginn und am Ende des Lebens können immer auch vor dem Prisma ihrer Bedeutung für pädagogische Kontexte und Reflektionen aufgefächert werden (Strachota, 2019). Sie nicht allein der Ethik, Medizin, Psychologie oder Rechtsprechung zu überlassen, ist ein Movens, das vermutlich auch vorliegendes Buch inspirierte. Braun, Lakovits und Strachota haben hier einen wichtigen Impuls gesetzt. Mit einer Dissertation zu ihrem eigenen Sterbeprozess führt Braun diesen Impuls weiter fort. Solange ihr diese Freiheit bleibt. Literatur Braun, S. (2020). Vorwort. In S. Braun, U. Lakovits & A. Strachota (Hrsg.), Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS, 9 -12. Frankfurt a. M.: Mabuse. Lakovits, U. (2020). Udo. In S. Braun, U. Lakovits & A. Strachota (Hrsg.), Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS, 265 -294. Frankfurt a. M.: Mabuse. Lorenzl, S. (2020). Diagnose ALS - Was ist das? In S. Braun, U. Lakovits & A. Strachota (Hrsg.), Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS, 15 -17. Frankfurt a. M.: Mabuse. Noyon, A. & Heidenreich, T. (2012). Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung. Weinheim: Beltz. Strachota, A. (2019). Bis zum letzten Atemzug: Pädagogische Reflexionen zum Übergang vom Leben in den Tod. In H. Fasching (Hrsg.), Beziehungen in pädagogischen Arbeitsfeldern und ihren Transitionen über die Lebensalter, 312 - 326. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Prof. Dr. Marion Baldus D-68163 Mannheim DOI 10.2378/ vhn2020.art40d Lidzba, Karen; Everts, Regula; Reuner, Gitta (2019): Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen Göttingen: Hogrefe. 114 S., € 22.95 Drei habilitierte Frauen - alle Psychologinnen - schreiben ein Buch zum Thema Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen für die Reihe Fortschritte der Neuropsychologie im Hogrefe Verlag. Während es für das Erwachsenenalter einige sehr gute und etablierte deutschsprachige (Lehr-)bücher zum Thema Neuropsychologie gibt, ist diesbezüglich zu Kindern und Jugendlichen kaum deutschsprachige Literatur vorhanden. Zunächst beschreiben die Autorinnen die Grundlagen, Diagnostik und Therapie, bevor sie die Störungsbilder behandeln, die sich nach verschiedenen Patientengruppen bezogen auf die Ursachen richten. Nach der Beschreibung der neuropsychologischen Funktionsstörungen, inklusive der Funktion Sprache, schließt das Buch mit dem Kapitel Fallvignetten ab. Bei den Grundlagen wird näher auf die Phänomene Plastizität und Vulnerabilität des Gehirns bei Kindern eingegangen. Damit wird angemerkt, dass
