eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 89/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Rezension: Ausweitung der Spielzone. Experten, Amateure, behinderte Darsteller im Gegenwartstheater

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2020
Christian Mürner
Schmidt, Yvonne (2020): Ausweitung der Spielzone Experten, Amateure, behinderte Darsteller im Gegenwartstheater Zürich: Chronos Verlag. 220 S., € 44,–
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VHN 4 | 2020 308 REZE NSION E N die Plastizität und Vulnerabilität und die damit verbundene Prognose Gegenstand von wissenschaftlichen Diskursen sind. Etwas genauer wird auf die Erholung von Sprache nach Schlaganfällen im Vergleich zu Erwachsenen eingegangen. Bei Kindern ist die Prognose bezogen auf Sprache im Gegensatz zur Wiederherstellung bei Erwachsenen nach einem Schlaganfall verblüffend gut. Als Erklärung wird die erstaunlich gute Reorganisation des Gehirns angeführt und die Bedeutung der Kompensation durch die rechte Hirnhälfte. Es wird aber auch angemerkt, dass sich bei komplexen sprachlichen Anforderungen Schwierigkeiten zeigen. Obwohl diese Schwierigkeiten nicht genauer beschrieben werden, wird im Kapitel Sprache deutlich, dass sie sich vor allem bei schulischen Anforderungen wie Lesen und Schreiben bemerkbar machen. Auch in dem kurzen Kapitel zu „Growing into Deficit“, was zwar nicht explizit auf Sprache bezogen, aber durchaus auf Sprache anwendbar ist, wird hervorgehoben, dass eine anfängliche rasche Erholung täuscht und sich die Defizite erst im Laufe der Jahre und vor allem beim Schulbesuch bemerkbar machen. Im Folgenden wird sowohl auf die Diagnostik wie auf die Therapie eingegangen. Bei der Therapie gibt es ein extra Kapitel zur Wirksamkeit und zu den Einflussfaktoren auf den Erfolg. Die verschiedenen Störungsbilder nach Ätiologie werden beschrieben. Sie sind gut systematisch gegliedert nach Definition, Häufigkeit und Ätiologie, Neuropsychologische Folgen und Einflussfaktoren. Allerdings kann beim beschränkten Umfang des Buches nur ein Überblick gegeben werden. Zum Teil könnte die Darstellung genauer sein. Aphasie wird nicht eindeutig definiert, auch nicht im Glossar. Dort findet sich auch der in der deutschsprachigen Logopädie nicht übliche Begriff der Dysphasie wieder. Auf kognitive Kommunikationsstörungen, die derzeit auch im deutschen Raum vermehrt im Fokus des Interesses stehen, finden sich leider keine Hinweise. Die Stärken dieses Buches liegen bei den primär in der Neuropsychologie verankerten Themen, wie etwa bei den exekutiven Funktionen. Auch wird die Interdisziplinarität an mehreren Stellen des Buches betont. So wird z. B. im Vorwort der Autorinnen hervorgehoben, dass ärztliche Kolleginnen und Kollegen die Ausfühungen zu den neurologischen Pathologien des Kindes- und Jugendalters gegengelesen hätten. Didaktisch werden in dem Buch zentrale Aussagen fett und prägnant am Rand vermerkt. Im Anhang gibt es ein Glossar und am Ende des Buches zwei Einsteckkarten. Auf der einen Karte ist der Ablauf des diagnostischen Prozesses der Kinder- und Jugendneuropsychologie mit dem Anspruch, es sei der Goldstandard, schematisch darstellt. In der zweiten Einsteckkarte sind bezogen nach Alter und Funktionen schematisch die Testverfahren aufgelistet mit Verweisen auf die bibliografischen Angaben am Ende des Buches. Der Bereich Sprache ist aufgeführt mit einigen Testverfahren, die auf dem Markt erhältlich sind. Das komprimierte Buch ist grundsätzlich gut aufgebaut und schließt eine Lücke im deutschsprachigen Raum. Es ist vor allem als Überblick und Einführung in das Thema zu empfehlen. Wer besonders an Sprache und ihren Störungen interessiert ist, wird diese Thematik zwar an mehreren Stellen abgehandelt finden, aber, aus dem Blickwinkel einer Logopädin betrachtet, zu wenig systematisiert. Für Neuropsychologen gibt es Stärken, wie bereits erwähnt u. a. bei den Abhandlungen zu Exekutivfunktionen. Wer sich mit der Thematik noch vertiefender beschäftigen möchte, muss weiterhin auf englischsprachige Literatur zurückgreifen. Angelika Rother CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2020.art41d Schmidt, Yvonne (2020): Ausweitung der Spielzone Experten, Amateure, behinderte Darsteller im Gegenwartstheater Zürich: Chronos Verlag. 220 S., € 44,- Was heißt „schauspielen“? Imitieren oder improvisieren, eine Rolle oder Figur nachahmen oder etwas Persönliches öffentlich wiedergeben, sich zur Schau stellen oder sich abgrenzen? Werden VHN 4 | 2020 309 REZE NSION E N diese fiktiven Polaritäten im Theater thematisiert, können sie Anlass geben zu einem „Aushandlungsprozess“ (S. 25). Vor allem Theater von und mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Beeinträchtigungen scheinen in den letzten Jahren „Grenzverhandlungen“ (S. 16) hervorzurufen. Denn im Zusammenhang der Einbeziehung und Beteiligung von nicht professionellen Darstellern im Gegenwartstheater führen sie zur „Ausweitung der Spielzone“. So der Titel des theoretisch hervorragend differenzierten und zugleich mit vielen Beispielen und Porträts überzeugend anschaulichen Buches der in Bern und Zürich arbeitenden Theater- und Tanzwissenschaftlerin Yvonne Schmidt. Die Verflechtung von erkenntnistheoretischen und praktischen Aspekten im Kontext von „Lebenstheater und Kunsttheater“ (S. 148) ist in jeder Beziehung passend. Yvonne Schmidt gliedert ihre Studie in drei Kapitel. Im ersten zeichnet sie das Phänomen der nicht professionellen Darsteller nach. Für Laien, die seit 1990 zunehmend im Berufstheater auftreten, wurde der Begriff „Experten des Alltags“ (S. 34) geprägt. Die Darsteller ohne anerkannte Schauspielausbildung (z. B. eine Souffleuse, Feuerwehrmänner oder Obdachlose) sollten jeweils im Rahmen einer Inszenierung auch ihre Berufssparte repräsentieren. Wobei es sich weniger um die Form der Darstellung handelt als um den Inhalt des Dargestellten, z. B. um „die ‚wahre‘ Lebensgeschichte der querschnittsgelähmten Darstellerin Maria-Cristina Hallwachs“ (S. 43). In anderen Inszenierungen ging es außerdem um die Glaubwürdigkeit des Autobiografischen (vgl. S. 46), um die Geltung der Authentizität und der singulären Erfahrungen. Allgemein stellt sich die Frage, ob mit dem Ansatz der „Experten des Alltags“ die Zugänglichkeit des Kunsttheaters erhöht oder sich allenfalls eine Annährung ans populäre „Freilichttheater“ (S. 73), das im kurzen zweiten Kapitel prägnant referiert wird, eröffnet. Das dritte, maßgebende Kapitel beginnt mit der Frage: „Wen von uns beiden schauen Sie an? Ihn oder mich? “ (S. 93) Diese Frage lässt sich durch eine weitere ergänzen: „Wer von uns soll geboren werden? “ (S. 117) Die erste stammt aus einer Inszenierung des Zürcher Theaters HORA, es stehen ein Darsteller ohne und einer mit Behinderung auf der Bühne. Die zweite wird vom Berliner Theater RambaZamba ans Publikum gerichtet, von fünf Darstellern mit Downsyndrom (Trisomie 21). Werden hier unterschiedliche Rollen auf den Kopf oder Vorurteile, Erwartungen und Illusionen der Zuschauer infrage gestellt? Geht es um den Ernst der Spielszenen oder um einen pädagogischen Ansatz? Schmidt stellt fest: „Die soziale Rolle, das öffentliche Bild von Behinderung sind für die Rolle auf der Bühne konstitutiv.“ (S. 151) Dies rechtfertigt nicht, bloß von „Behindertentheater“ (S. 105) zu sprechen und Figuren mit Behinderung allein durch nicht behinderte Darsteller zu besetzen (S. 131), denn kontinuierliches Theater von und mit Schauspielern mit Beeinträchtigung bietet die Möglichkeit, auf der Bühne „ein Anderer zu sein“ (S. 152), den sozialen Raum im Kunstraum (vgl. S. 59) zu übertrumpfen, der dementsprechend das emanzipative Potenzial hat, eine eigenständige Ästhetik zu entwickeln (vgl. S. 111). Aus einer Zuschauerperspektive erscheint dabei Behinderung auf der Bühne als ein Übergangs- oder transversales Phänomen (vgl. S. 112, S. 128 und S. 160). In diesem Kontext bestehen die Herausforderungen für das gegenwartsbezogene Berufstheater nach Schmidt in „immanenten Ideologien“ (S. 186), z. B. der strikten Schauspielausbildung, und in der „Neuaushandlung kultureller Werthierarchien“ (S. 185), z. B. der Priorisierung harmonischer Körper und perfekter Sprache. Die vielversprechende Perspektive einer „Cripistemologie“ (S. 148) - eine separate oder ergänzende Disziplin? - bleibt angesichts des begrenzten „imaginativen Zugangs“ (Emil E. Kobi, 1983) zu kognitiven Beeinträchtigungen offen oder kann sowohl diverse Methoden bedingen als auch zu Projektionen verleiten. Aber die umfangreich gesammelten Motivationen und Intentionen verdeutlichen die aktuelle, autonome und kulturerweiternde „Bühnenpräsenz“ (S. 11). Yvonne Schmidt belegt eindrücklich das „breite Spektrum“ (S. 164) der Schauspielerinnen und Schauspieler mit Beeinträchtigungen im Gegenwartstheater. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2020.art42d