Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2020.art01d
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Das provokative Essay: Prävention von Behinderung als Herrschaftstechnik
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Markus Dederich
Der Beitrag umreißt den seit dem 19. Jahrhundert systematisch entwickelten und in den vergangenen Jahrzehnten überaus wirkungsmächtigen Präventionsgedanken. Es wird gezeigt, dass es sich um ein zustimmungspflichtiges Prinzip handelt, das erheblichen Einfluss darauf hat, wie Behinderung zu einem statistischen Risiko als bearbeitungsbedürftiges Problem figuriert und zum Gegenstand fachlicher Interventionen wird. Unter Bezugnahme auf den von Michel Foucault geprägten Begriff der Gouvernementalität wird die bevölkerungspolitische, nämlich auf ganze Populationen bezogene Seite präventiver Konzepte aufgezeigt. Im Fokus der Überlegungen steht der für die Sonderpädagogik widersprüchliche, wenn nicht sogar paradoxe Befund, dass sie sich einerseits der Prävention von Behinderungen, andererseits im Zeichen der Inklusion der Wertschätzung von Menschen mit Behinderungen verpflichtet fühlt.
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11 VHN, 89. Jg., S. 1 -6 (2020) DOI 10.2378/ vhn2020.art01d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Prävention von Behinderung als Herrschaftstechnik Eine Polemik Markus Dederich Universität zu Köln Zusammenfassung: Der Beitrag umreißt den seit dem 19. Jahrhundert systematisch entwickelten und in den vergangenen Jahrzehnten überaus wirkungsmächtigen Präventionsgedanken. Es wird gezeigt, dass es sich um ein zustimmungspflichtiges Prinzip handelt, das erheblichen Einfluss darauf hat, wie Behinderung zu einem statistischen Risiko als bearbeitungsbedürftiges Problem figuriert und zum Gegenstand fachlicher Interventionen wird. Unter Bezugnahme auf den von Michel Foucault geprägten Begriff der Gouvernementalität wird die bevölkerungspolitische, nämlich auf ganze Populationen bezogene Seite präventiver Konzepte aufgezeigt. Im Fokus der Überlegungen steht der für die Sonderpädagogik widersprüchliche, wenn nicht sogar paradoxe Befund, dass sie sich einerseits der Prävention von Behinderungen, andererseits im Zeichen der Inklusion der Wertschätzung von Menschen mit Behinderungen verpflichtet fühlt. Schlüsselbegriffe: Intervention, Gouvernementalität, Macht, Risiko, Selbsttechnologien Prevention of Disability as a Rule Technique - A Polemic Summary: This paper outlines the idea of prevention, which has been systematically developed since the 19th century and has been extremely influential in recent decades. Prevention is a principle demanding approval. It has had a considerable impact on the process of construing disability as a statistical risk and as a problem that needs to be dealt with by professional interventions. Referring to Michel Foucault’s concept of governmentality, the aspect of preventive concepts in population policy, i. e. relating to entire populations, is shown. The focus of the considerations is a contradictory, if not paradoxical, finding: On the one hand, special education feels committed to the prevention of disabilities, and on the other hand to the esteem of people with disabilities. Keywords: Intervention, governmentality, power, risk, self-technologies DAS PROVOK ATIVE ESSAY TH EME NSTR ANG Gouvernementalität und Behinderung Einleitung Im späten 20. und frühen 21. Jh. ist der im 19. Jh. entstandene Gedanke der Prävention zu einer fast alle Lebensbereiche durchdringenden Idee geworden, die auch mit Blick auf das Thema Behinderung eine große Wirkmacht entfalten konnte. Die genauere Untersuchung dieses Vorgangs gibt Aufschluss darüber, wie in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Praxis sich zeigende Phänomene in bearbeitungsbedürftige Probleme umgewandelt und die Forschung und Konzeptualisierung der Praxis zunehmend am Ziel einer „‚vorsorgenden Optimierung‘ von Entwicklungsverläufen“ (Bollig & Kelle, 2009, S. 54) ausgerichtet werden. Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung, der Wahrnehmung, des Sprechens und Lernens, des Fühlens und Sich- Artikulierens usw. sollen erst gar nicht entstehen; und wenn dies doch geschieht, sollen sie möglichst effektiv eingedämmt und daraus re- VHN 1 | 2020 2 MARKUS DEDERICH Prävention von Behinderung als Herrschaftstechnik DAS PROVOK ATIVE ESSAY sultierende unerwünschte Folgen minimiert werden. Von hier aus betrachtet wird unmittelbar ersichtlich, dass Prävention kein neutrales Bündel von Handlungskonzepten ist, sondern eine normierende Optik bereitstellt, den Menschen wahrzunehmen und auf ihn einzuwirken. Als aus der Medizin und Psychologie importiertes Raster der Beobachtung und Beurteilung der körperlichen, kognitiven, psychischen und sozialen Entwicklung erweist sich der nüchterne und technisch anmutende Begriff der Prävention als Chiffre für ein zu realisierendes Gut: die Abwendung, Minimierung oder Kompensation von unerwünschten Eigenschaften oder Dispositionen des Individuums durch verschiedene Techniken entweder vorauseilender oder reaktiv ansetzender Problembearbeitung. Die Überzeugung von der Richtigkeit der Idee der Prävention ist so tief in den Wissenschaften und in den mit dem Thema Behinderung befassten Professionen verankert, dass ein kritischer Blick darauf als moralisch fragwürdig oder geradezu obszön erscheinen muss. Tatsächlich ist Prävention ein zustimmungspflichtiges Prinzip. Niemand kann gegen Prävention sein, ohne umgehend den Verdacht auf sich zu ziehen, sich gegen die Interessen von Kindern und ihren Eltern, von kranken Menschen oder besonders vulnerablen Gruppen, aber auch gegen die Interessen der Gesellschaft insgesamt zu stellen. Die folgenden Überlegungen wollen nicht in Abrede stellen, dass Prävention in vielerlei Hinsicht(en) sinnvoll und wünschenswert ist. Gleichwohl aber soll anhand einiger Beobachtungen auf den Schattenwurf des Präventionsgedankens hingewiesen werden. Die Idee der Prävention Wie konnte es dazu kommen, dass Prävention eine derart prominente Rolle nicht nur in den Wissenschaften, sondern in der Gesellschaft überhaupt spielt? Zunächst könnte eine quasi anthropologische These formuliert werden: dass nämlich Prävention als Antidot gegen die Vulnerabilität, gegen die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Menschen verstanden werden kann und insofern eine grundlegende Kulturtechnik darstellt. So gesehen ist vorsorgendes und vorbeugendes Handeln ein Charakteristikum des Menschen und „vermutlich so alt wie die Menschheit“ (Bröckling, 2017, S. 82). Prävention stammt vom lat. „praevenire“, „zuvorkommen“, ab. Es handelt sich um eine Denk- und Handlungsweise mit klarer temporaler Struktur, die Zukünftiges auf Gegenwärtiges und Gegenwärtiges auf Zukünftiges bezieht. „Etwas wird getan, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben und der zu erwartende Schaden auf ein Mindestmaß begrenzt wird“ (Bröckling, 2004, S. 210). Diese allgemeine Form vorbeugenden Handelns hat sich jedoch im Zeitalter der Moderne auf spezifische Weise gewandelt und seit dem 19. Jahrhundert zu einem „Präventionismus“ zugespitzt. Je weniger fatalistisch sich die Menschen gegenüber den Übeln der Welt und den Leiden ihres Lebens verhalten haben und je mehr sie im Gegenzug z. B. mit den Mitteln der Politik und unter Rückgriff auf Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben, desto stärker bildete sich die Tendenz heraus, allen möglichen als Übel identifizierten und daher unerwünschten Phänomenen möglichst frühzeitig und konsequent entgegenzuwirken. Zu der außerordentlichen Wirkmacht des Präventionsgedankens, wie er heute geläufig ist, hat darüber hinaus insbesondere die Entstehung des Risikobegriffs beigetragen. Wie Ulrich Beck (1986) aus soziologischer Perspektive zeigt, ist die Moderne durch eine doppelte Entgrenzung gekennzeichnet: der Entgrenzung von Handlungsoptionen und der Reichweiten von zunehmend schwerer kalkulierbaren Handlungsfolgen. VHN 1 | 2020 3 MARKUS DEDERICH Prävention von Behinderung als Herrschaftstechnik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Dieser zweite Aspekt ist ein idealer Nährboden für Ungewissheiten und Ängste. Deren Reflexion hat nicht nur ein ausgeprägtes Risikobewusstsein hervorgebracht, sondern auch „Vorbeugungsdispositive“ (Bröckling, 2017, S. 84). In ihnen verbindet sich eine affektive Komponente (die Angst und Ungewissheit) mit einem bestimmten, nämlich auf statistischen Erhebungen beruhenden Wissen sowie einem im modernen Liberalismus wurzelnden Menschenbild. Dieses zeichnet „den Menschen als ein durch Techniken des Selbstmanagements auf der einen, durch pädagogische, medizinische, eugenische, militärische, rechtliche, sozialpolitische usw. Maßnahmen auf der anderen Seite zu schützendes Wesen“ (ebd.). Die Gewährleistung dieses Schutzes ist allerdings keineswegs allein eine Aufgabe von Gesellschaft und Staat. Vielmehr werden die Menschen dazu angehalten, bestimmte Verantwortlichkeiten selbst zu übernehmen und ihr Dasein aktiv in bestimmte Bahnen zu lenken. Prävention als Herrschaftstechnik Indem das Präventionsdispositiv nicht nur Druck auf die Menschen ausübt, sich bestimmte Verhaltensweisen anzueignen, sondern sie auch von deren Richtigkeit oder gar Unausweichlichkeit überzeugen möchte, ist es repressiv und produktiv zugleich: Es gibt den Menschen die Freiheit, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, zwingt sie ihnen aber auch auf. Nun lässt sich in Anschluss an eine Reihe von Arbeiten von Michel Foucault Prävention als Herrschaftstechnik verstehen, die auf dem Weg der Einwirkung auf die Individuen auf eine Steuerung und Kontrolle der Entwicklung von Populationen abzielt. Der von Foucault 1978 hierfür geprägte Begriff der „Gouvernementalität“ dient ihm als Analyseinstrument für den komplexen Begriff des „Regierens“. Regieren im Foucaultschen Sinn bezieht sich nicht in erster Linie auf die Gesetzgebung und Rechtsprechung, sondern auf eine „recht spezifische und doch komplexe Form der Macht“ (Foucault, 2000, S. 64). Obwohl es Menschen sind, die regiert werden (vgl. Foucault, 2006 a, S. 183), zielt die Gouvernementalität als spezifische Modalität politischer Machtausübung darauf ab, „das Los der Bevölkerung zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu mehren“ (ebd., S. 61). Die die Gouvernementalität kennzeichnende Wissensform ist die politische Ökonomie, ihr wesentliches Instrument sind die Sicherheitsdispositive (vgl. ebd., S. 71), denen die Prävention zuzurechnen ist. Das Individuum ist in diesem Kontext nur insofern von Bedeutung, als es „als Mitglied gut funktioniert, als Element jener Sache, die man auf die bestmögliche Art verwalten will, nämlich die Bevölkerung“ (ebd.). Das erwartungskonforme Funktionieren der Mitglieder einer Gesellschaft wird seit dem 19. Jh. nicht mehr hauptsächlich über äußere Zwänge, die Abrichtung der Körper oder die Androhung von Strafe erreicht, sondern durch sog. Selbsttechnologien. Damit ist gemeint, dass die Macht den Menschen nicht äußerlich bleibt, sondern in ihnen selbst wirksam wird, und zwar so, dass sie sich selbst auf eine bestimmte Weise führen. Wie Foucault weiterhin zeigt, bringen die Selbsttechnologien einen bestimmten Typus von Subjektivität hervor, den homo oeconomicus. Dahinter steckt der Gedanke, dass Menschen aufgrund von Wünschen oder Begierden handeln. Zugleich zeichnet sich der homo oeconomicus durch eine bestimmte Rationalität des Verhaltens aus. Dieses reagiert „sensibel auf Veränderungen in den Umgebungsvariablen […] und das auf nicht-zufällige, also systematische Weise“ (Foucault, 2006b, S. 370). Regieren heißt vor diesem Hintergrund dann zunächst einmal relativ schlicht, Anreizsysteme zu entwickeln, die diese Sensibilität der VHN 1 | 2020 4 MARKUS DEDERICH Prävention von Behinderung als Herrschaftstechnik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Individuen ansprechen und ihre Wünsche oder Begierden auf eine bestimmte Weise aktivieren, nämlich so, dass sie quasi selbstgesteuert in gewünschte Verhaltensweisen übersetzt werden. Die Gouvernementalität beruht demnach nicht auf Zwang und Repression, sondern darauf, „Subjekte zu einem bestimmten Handeln zu bewegen“ (Bröckling, Krasmann & Lemke, 2000, S. 29). Somit vermittelt der Begriff der Gouvernementalität zwischen Macht und Subjektivität und dient der Analyse von Verknüpfungen zwischen Herrschaftstechniken und Praktiken bzw. Techniken der Selbstführung. Letztere führen dazu, dass den Individuen umfänglich Verantwortung für ihr Leben zugeschrieben werden kann. Was bedeutet diese Responsibilisierung in Bezug auf die Prävention? Das Leben steht unter den Bedingungen der Moderne in einem zeitlichen Horizont. Es bewegt sich auf eine Zukunft zu, in der Ereignisse auftreten können, die dieses Leben beschädigen, aus der Bahn werfen, schwächen oder sogar vernichten können. Dem gilt es systematisch und proaktiv vorbeugend zu begegnen. Risiken sind dabei nicht bloß subjektiv empfundene Befürchtungen, sondern beruhen auf einem statistisch aufbereiteten Wissen über Unfälle, Krankheiten usw. Von Responsibilierung ist dann zu reden, wenn das proaktive vorbeugende Risikomanagement zu einer Aufgabe wird, derer sich die Individuen anzunehmen haben. Die Menschen müssen lernen, „mit der Unsicherheit des selbst ‚verschuldeten‘ Scheiterns“ (Schmidt-Semisch, 2004, S. 222) zu leben. Dabei schreibt sich die Risikologik „auf ambivalente Art und Weise in Befindlichkeit, Handeln und Denken der Individuen ein“ (ebd.): Einerseits erzeugt sie den Druck, vorsorglich zu handeln und das schlimme Ende abzuwenden oder abzumildern, andererseits das Bewusstsein, im Falle eines Schadens selbst verantwortlich zu sein. Prävention als (sonder-)pädagogischer Problemtitel Wie eingangs bereits gesagt wurde, hat der Präventionsgedanke auch in den Disziplinen und Professionen eine große Wirkungsmacht erlangt, die mit dem Thema Behinderung befasst sind. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die Pränataldiagnostik, deren große Akzeptanz und ihre mehr oder weniger flächendeckende Anwendung bekanntermaßen dazu geführt haben, dass die meisten pränatal diagnostizierten Ungeborenen mit Trisomie 21 abgetrieben werden (vgl. Haker, 2011). Präventive Strategien im Feld der Pädagogik finden sich beispielsweise im Kontext der Früherkennung und Frühförderung, wo vorbeugende Interventionen gegen drohende Beeinträchtigungen z. B. bei bestimmten Risikogruppen, deren Symptome noch nicht oder nicht in vollem Umfang manifest geworden sind, eine wichtige Rolle spielen (vgl. Bollig & Kelle, 2009). Ein anderes Beispiel ist das aus den USA importierte und in inklusiv orientierten schulischen Settings erprobte Präventionskonzept „Response to Intervention (RTI)“ (Voß et al., 2016). In pädagogischen und psychosozialen Settings hat es sich eingebürgert, zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention zu unterscheiden. Diese bilden zusammen ein „zeitliches Verlaufsmodell steigender Intensitäts- und Verfestigungsgrade von Problemlagen“ (Ziegler, 2019, S. 662). Nach einer geläufigen Schematisierung verfolgt primäre Prävention mit ihren Interventionen das Ziel, „das Aufkommen von Störungen/ Behinderungen zu vermeiden“ (Goetze, 2016, S. 160), und zwar durch die entsprechende Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse (vgl. Ziegler, 2019, S. 662). Sekundäre Prävention greift dann, wenn die primäre Intervention nicht erfolgreich gewesen ist und „auf ein De- VHN 1 | 2020 5 MARKUS DEDERICH Prävention von Behinderung als Herrschaftstechnik DAS PROVOK ATIVE ESSAY fizit pädagogisch reagiert wird. Es handelt sich einerseits um Personen, die bereits erste Risikosignale zeigen, andererseits um solche, die einer Hoch-Risikogruppe angehören, wobei sichtbare Symptome noch nicht aufgetreten sein müssen“ (Goetze, 2016, S. 160). Präventive Maßnahmen auf dieser Ebene sollen ein sich anbahnendes oder in Ansätzen schon beobachtbares Problem möglichst weitgehend auflösen oder zumindest eindämmen, etwa durch bestimmte Trainings. Sie zielen auf „die Besserung eines zuvor diagnostizierten Defizitzustandes, der z. B. bei einer primären Behinderung gegeben ist“ (ebd.). Tertiäre Prävention kommt zum Zuge, wenn eine „Verschlimmerung des Problems bzw. der Behinderung“ (ebd.) verhindert „bzw. die Besserung eines zuvor diagnostizierten Defizitzustandes“ (ebd.) anvisiert werden soll. Gemeinsam ist den Präventionsformen, dass sie „auf Risikosubjekte bezogen sind, (Risiko- oder Protektiv-) Faktoren fokussieren, eine ‚KlientInnenkarriere‘ in den Mittelpunkt stellen und für (psycho-)soziale Professionen typische Strategien einer ‚sekundären Normalisierung‘ […] und ‚reaktiven Bedingungsveränderung‘ […] nahelegen“ (Ziegler, 2019, S. 662). Zugleich haben viele Präventionsprogramme, wie Kelle (2008) am Beispiel der Schuleingangsuntersuchungen zeigt, eine auf politische Steuerungsinteressen zurückführbare epidemiologische, d. h. auf ganze Populationen bezogene Seite. Dies führt der Tendenz nach dazu, dass ein immer feineres Netz der Diagnostik von Entwicklungsrisiken und Entwicklungsauffälligkeiten entsteht, was wiederum zur Folge hat, dass einerseits immer mehr Aspekte der kindlichen Entwicklung als potenziell gefährdet und interventionsbedürftig markiert werden und andererseits der Korridor tolerierter Normalität immer schmaler wird. All dies deutet „auf eine Intensivierung der Normierung der kindlichen Entwicklung durch Medizinisierung, Therapeutisierung und Pädagogisierung hin“ (Kelle, 2008, S. 200). Von hier aus gesehen kann die Prävention als wissensbasierte und machtvolle Praktik der sozialen Regulation verstanden werden, die nicht nur „eine normative Kontrolle über Individuen und Populationen“ (Turner, 2001, S. 253) ausübt, sondern auch dazu beiträgt, die interventionsbzw. rehabilitationsbedürftige Person überhaupt erst als gesellschaftlich relevantes Problem hervortreten zu lassen. Zu der Ironie der Geschichte gehört, dass die gleiche Disziplin, die den Präventionsgedanken zu einem der Fundamente ihrer Arbeit gemacht hat und sich bis zu einem gewissen Grad über die Prävention legitimiert, sich gleichzeitig - zumindest offiziell und auf der politischen Vorderbühne - der Inklusion verpflichtet fühlt. Diese ist ebenso zustimmungspflichtig wie das Gebot der Prävention. Worin liegt die Ironie? Während das Ideal der Inklusion vorsieht, Behinderungen gerade nicht zu pathologisieren, sondern als Ausdruck der Diversität des Menschen wertzuschätzen, folgt der Präventionsgedanke einer entgegengesetzten Logik, die mit der Logik einer heterogenitätsfreundlichen Inklusion nicht vereinbart werden kann. So erzeugen beispielsweise als frühe Hilfen verstandene präventive Interventionen, die in Bezug auf menschliche Entwicklungsbereiche mit binären Unterscheidungen wie unauffällig und auffällig, erwünscht und unerwünscht operieren, hierarchische Differenzierungen, die das inklusive Gebot der Wertschätzung unterlaufen und Behinderungen als unerwünschte Eigenschaften oder Dispositionen markieren. Es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass präventives Handeln legitim ist und darauf abzielt, den betroffenen Individuen unmittelbar zugutezukommen. Zugleich aber gilt, dass die das präventive Handeln auslösende Diagnostik keineswegs präkategorial existierende und in sich werthaltige Unterschiede, die an quasi ontologischen Merkmalen festge- VHN 1 | 2020 6 MARKUS DEDERICH Prävention von Behinderung als Herrschaftstechnik DAS PROVOK ATIVE ESSAY macht werden, abbildet: Durch die hinter ihr stehenden normativ gerahmten Diskurse und ihre normalisierenden Praktiken markiert sie als unerwünscht geltende Phänomene als interventionsbedürftige Defizite oder Störungen. Damit orientiert sie die sonderpädagogische Praxis nicht nur mit einem spezifischen Telos; sie greift auch in das Selbstverhältnis der betreffenden Personen und ihrer Angehörigen ein und produziert Effekte, die auf sehr unterschiedliche Weise den sozialen Status der betroffenen Menschen verändern und sie an prekäre Positionen binden. Und - aus der Sicht vieler Akteure in diesem Feld sicher nolens volens - sie reiht sich in ein Dispositiv ein, das den Präventionsgedanken auf Praktiken ausweitet, deren Ziel unter Nutzung vorgeburtlicher Diagnoseverfahren darin besteht, Menschen mit bestimmten Schädigungen erst gar nicht ins Leben treten zu lassen. Literatur Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bollig, S. & Kelle, H. (2009). Früherkennung und Prävention von Entwicklungsstörungen. Medizinisierung und Pädagogisierung der frühen Kindheit aus praxisanalytischer Perspektive. In M. Behnisch & M. Winkler (Hrsg.), Soziale Arbeit und Naturwissenschaft. Einflüsse, Diskurse, Perspektiven, 42 -57. München: Ernst Reinhardt. Bröckling, U. (2004). Prävention. In U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, 210 -215. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bröckling, U. (2017). Prävention: Die Macht der Vorbeugung. In U. Bröckling (Hrsg.), Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, 73 -112. Berlin: Suhrkamp. Bröckling, U., Krasmann, S. & Lemke, T. (2000). Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, 7 -40. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2000). Die Gouvernementalität. In U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, 41-67. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2006 a). Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2006 b). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goetze, H. (2016). Prävention. In M. Dederich, I. Beck, G. Antor & U. Bleidick (Hrsg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik, 3., erweiterte und überarbeitete Auflage, 159 -162. Stuttgart: Kohlhammer. Haker, H. (2011). Hauptsache gesund? Ethische Fragen der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik. München: Kösel. Kelle, H. (2008). ‚Normale‘ kindliche Entwicklung als kulturelles und gesundheitspolitisches Projekt. In H. Kelle & A. Tervooren (Hrsg.), Ganz normale Kinder. Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung, 187-205. Weinheim: Juventa. Schmidt-Semisch, H. (2004). Risiko. In U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, 222 -227. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Turner, B. S. (2001): Disability and the sociology of the body. In G. L. Albrecht, K. D. Seelman & M. Bury (eds.), Handbook of Disability Studies, 252 -266. Thousand Oaks: Sage. Voß, S. et al. (2016). Der Response-to-Intervention- Ansatz in der Praxis. Evaluationsergebnisse zum Rügener Inklusionsmodell. Münster: Waxmann. Ziegler, H. (2019). Prävention als sozialraumbezogenes Handlungsfeld. In F. Kessl & C. Reutlinger (Hrsg.), Handbuch Sozialraum. Grundlagen für den Bildungs- und Sozialbereich, 2. Auflage, 659 -673. Wiesbaden: Springer. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-19983-2_41 Anschrift des Autors Prof. Dr. Markus Dederich Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Allgemeine Heilpädagogik Frangenheimstraße 4 D-50931 Köln E-Mail: markus.dederich@uni-koeln.de
