Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2020.art16d
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Rezension: Interdisziplinäre Teams in inklusiven Schulen. Eine ethnografische Studie zu Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen
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Reto Luder
Labhart, David (2019): Interdisziplinäre Teams in inklusiven Schulen. Eine ethnografische Studie zu Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen Bielefeld: transcript. 276 S., € 44,99
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VHN 2 | 2020 134 REZE NSION E N Labhart, David (2019): Interdisziplinäre Teams in inklusiven Schulen. Eine ethnografische Studie zu Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen Bielefeld: transcript. 276 S., € 44,99 Wem nutzen interdisziplinäre Teams in inklusiven Schulen? Wem dienen sie am Ende wirklich? Ist dem Kind, das in der Schule Schwierigkeiten erlebt und für das diese Teams berufen werden, tatsächlich geholfen? Also: Cui Bono? Mit dieser (provokativen? ) Frage endet die Dissertation von David Labhart, und nachdem das Buch gelesen ist, erscheint sie als eine höchst aktuelle und dringende. In der Praxis besteht ein interdisziplinäres Team (IDT) aus Lehrpersonen, schulischen Heilpädagog/ innen und allenfalls weiteren Fachpersonen und wird berufen, sobald ein Kind im Rahmen des üblichen Unterrichts durch seine Lehrperson(en) nicht angemessen unterrichtet und gefördert werden kann. Labharts Untersuchung dreht sich um die Frage, wie in solchen interdisziplinären Teams Lösungen für sonderpädagogische Probleme im Austausch unter Professionellen entstehen. Der Autor bearbeitet diese Frage mit einer qualitativen Methodik in der Tradition ethnografischer Forschung. Er besuchte dabei drei Schulen und nahm als teilnehmender Beobachter an Sitzungen der IDT teil. Drei dieser Sitzungen wurden auf der Basis der Akteur-Netzwerk-Theorie detailliert ausgewertet. Der Autor ist dabei gewissenhaft und sorgfältig vorgegangen und legt Wert auf eine transparente, nachvollziehbare Dokumentation aller Aspekte der durchgeführten Forschungsarbeit. Das Ergebnis ist hochwertige qualitative Forschung mit belastbaren Ergebnissen. Obschon der Autor bewusst auf eine normative, bewertende Interpretation verzichtet, stimmen die Ergebnisse teilweise bedenklich. In den analysierten drei Besprechungen wird das Kind zu einem „(Problem-)Fall“ und die Schwierigkeiten, die es erlebt, werden essentialisiert, d. h. als Persönlichkeitsmerkmal des Kindes wahrgenommen. Eine Delegation des Kindes, und damit des pädagogischen Problems, an eine andere Stelle (wie z. B. an eine Sonderschule oder an eine bestimmte Therapie) steht im Vordergrund. Die Aufrechterhaltung des Systems Schule als homogenisierendes Gesellschaftsinstrument entpuppt sich als die wahre Aufgabe der IDTs. So wird die Reflexion über das eigene (pädagogische) Verhalten vermieden, und es entsteht auch keine Notwendigkeit für Veränderungen in der eigenen Praxis. Lesenswert ist Labharts Buch aus mehreren Gründen. Zunächst zeigt es, wie ein ethnografisches Forschungsprojekt zum besseren Verständnis einer aktuellen sonderpädagogischen Praxis beitragen kann. Im Weiteren ermöglichen es die Ergebnisse, Funktionen und die latente Logik in der Arbeitsweise interdisziplinärer Teams, die Motive einzelner Mitglieder in Bezug auf ihr professionelles Rollenverständnis für sich und innerhalb des Teams zu begreifen. Damit leistet die Arbeit einen wesentlichen Beitrag zum aktuellen Forschungsfeld der praktischen Umsetzung integrativer sonderpädagogischer Förderung und Unterstützung im Rahmen inklusiver Schulsysteme. Ergebnisse qualitativer, ethnografischer Forschung sind nicht generalisierbar. Daher ist ein weiterer und wesentlicher Aspekt, der dieses Buch lesenswert macht: Was bedeuten die dargestellten Erkenntnisse für den Leser/ für die Leserin? Wer fühlt sich angesprochen? Wer ist für eine Reflexion der eigenen Arbeit bereit und wer fühlt sich für eine Veränderung im System verantwortlich? Prof. Dr. Reto Luder CH-8090 Zürich DOI 10.2378/ vhn2020.art16d Pitsch, Hans Jürgen; Limbach- Reich, Arthur (2019): Lernen und Gedächtnis bei Schülern mit kognitiver Beeinträchtigung Stuttgart: Kohlhammer. 298 S., € 35,- Hans Jürgen Pitsch und Arthur Limbach-Reich verfolgen mit dem vorliegenden Buch das Ziel, die Lücke im Wissensstand über das Gedächtnis und die Gedächtnisentwicklung bei kognitiven Beein-
