eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 89/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2020.art27d
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Rezension: Dilemma Inklusion. Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann

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Urs Haeberlin
Speck, Otto (2019): Dilemma Inklusion. Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann München: Reinhardt. 146 S., € 19,90
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VHN 3 | 2020 223 REZE NSION E N Speck, Otto (2019): Dilemma Inklusion. Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann München: Reinhardt. 146 S., € 19,90 Während ich am Lesen dieses interessanten Buches war, sind mir immer wieder zwei subjektive Beobachtungen durch den Kopf gegangen: Zum einen ist es die Erinnerung an ein zufälliges Gespräch vor mehreren Jahren mit zwei mir vorher nicht bekannten Frauen in einer Heidelberger Gaststätte. Die eine outete sich als Mutter eines Mädchens mit geistiger Behinderung und erzählte mit Bezug auf Inklusion ihr ganz konkret erfahrenes Dilemma. Sie sei eine überzeugte Anhängerin der Inklusionsidee und habe sich dafür eingesetzt, dass ihr Kind einen Kindergarten und eine Grundschulklasse zusammen mit nichtbehinderten Kindern besuchen konnte. In den Anfangsjahren sei ihre Tochter von den Mitschülerinnen und -schülern akzeptiert und in viele schulische und außerschulische Aktivitäten einbezogen gewesen. Im Laufe des dritten Grundschuljahres sei sie jedoch immer häufiger alleingelassen worden und schließlich praktisch nie mehr zu gemeinsamen Unternehmungen wie z. B. Geburtstagsfeiern eingeladen worden. Zum andern sind es die Beobachtungen eines zunehmend schulleistungsschwachen Jungen, der zusammen mit einem mir bekannten Jungen im Kindergarten war und jetzt in der vierten Klasse der Grundschule ist. Er fällt bezüglich Lernstand in den für den Schulerfolg zentralen Fächern immer weiter hinter denjenigen seiner Mitschüler und -schülerinnen zurück und kann dem Klassenunterricht längst nicht mehr folgen. Dies bedeutet für ihn immer mehr isolierten Unterricht und Unverständnis bei den Schulkameraden für seine Unfähigkeit, ihnen sehr einfach erscheinende Aufgaben zu lösen und Fragen zum aktuellen Schulstoff zu beantworten. Während die meisten auf einen möglichst erfolgreichen Übertritt in die Sekundarstufe hoffen, bleibt für ihn diesbezüglich Perspektivlosigkeit, da eine Privatschule aus finanziellen Gründen kaum infrage kommen dürfte. Er kann den Druck des Dilemmas aktuell noch aushalten, indem er zunehmend als „Kaspar“ die Aufmerksamkeit auf sich zieht und sich dadurch aber auch zunehmend als Sonderling ausgrenzt. Man fragt sich gezwungenermaßen, welche Art von Schule ihm gerecht werden könnte. Für das Verständnis meiner Verunsicherung durch das „Dilemma Inklusion“ ist die Information wichtig, dass es sich bei diesem Jungen nicht um ein „Kind mit Immigrationshintergrund“ und damit um ein Kind aus einer sprachlich benachteiligenden Familie handelt; ein Thema, das die aktuelle bildungspolitische Diskussion über Integration und Inklusion zu dominieren scheint. Ich gehe davon aus, dass auch andere pädagogisch engagierte Personen ähnliche subjektive Erfahrungen und Beobachtungen machen und dass sie Verunsicherung bezüglich der Idee einer inklusiven Schule erleben. Wenn diese Annahme zutrifft, ist Otto Speck zu danken, dass er das Thema „Dilemma Inklusion“ aufgreift und mithilfe von konkreten Beispielen aus der deutschen Schulentwicklung zu vertiefen versucht. Er beginnt mit einer kurzen Skizze der Vorgeschichte hin zur schulischen Integration bisheriger Sonderschüler und -schülerinnen. Beginnend mit ersten Modellschulen für „gemeinsames Lernen“ in den 1970er Jahren und gleichzeitig formulierten Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates skizziert er anschließend die Impulse aus Italien, dessen sonderschulfreies Schulwesen in den 1980er Jahren als Vorbild für die Integrationsentwicklung galt. Interessant auch die Darstellung der Differenzen in der Sichtweise von Integration zwischen Vertretern der sonderpädagogischen Wissenschaft und den Praktikern in den damaligen Sonderschulen sowie die Einstellungen von Eltern behinderter Kinder und von Behindertenverbänden. Es folgt eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Annahme der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Fragen der „richtigen“ Übersetzung und Auslegung sind immer wieder mal aufgeworfen worden. So kritisiert Speck, dass das in dieser Konvention geforderte inklusive Schulsystem fälschlicherweise immer wieder so definiert wurde, „dass der Begriff ‚inklusiv‘ nur auf den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung bezogen wurde, also auf eine Vollinklusion mit der Forderung, dass die bestehenden Förderschulen als ‚ausgrenzende‘ Einrichtungen abzuschaffen seien. In der UN-BRK findet sich jedoch für diese totalisierende Auslegung keine Belegstelle“ (S. 31). Nach Specks VHN 3 | 2020 224 REZE NSION E N These wurde von der Bildungspolitik die völlige Abschaffung der Förderschulen anschließend vorwiegend finanzpolitisch favorisiert, während die Konvention eigentlich auch weniger radikale, aber vermutlich teurere Lösungen zulassen würde. An anderer Stelle verweist er deshalb auf Artikel 24, Absatz 2, der UN-BRK, wo es heißt, dass „c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden; d) für Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“ (S. 63). Im Rahmen der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland greift Speck natürlich auch die nicht nur in Deutschland dokumentierte „auffällig gewachsene Inklusionsquote“ auf, die er so kommentiert: „Auf jeden Fall sind es Kinder, die zwar durch Lernprobleme auffallen, jedoch keinen ‚sonderpädagogischen Förderbedarf‘ aufweisen, der sie früher zu Förderschulkindern gemacht hätte. Das heißt, der Begriff des ‚sonderpädagogischen Förderbedarfs‘ ist definitorisch ausgeweitet worden, z. B. zur Beschaffung zusätzlicher schulischer Ressourcen für ‚Inklusionskinder‘“ (S. 66). Möglicherweise besteht diesbezüglich auch ein Zusammenhang mit den an späterer Stelle thematisierten „Überforderungen für Lehrerinnen und Lehrer“ (S. 73). Nachdem die Entwicklungen in Deutschland im Hinblick auf das Ziel einer inklusiven Schule skizziert und kritisch analysiert worden sind, schreitet Speck zum Versuch, das mit Inklusion erfahrene Dilemma in einen allgemeineren theoretischen Rahmen zu stellen. Eine treffende Formulierung findet er in der Literatur zur allgemeinen Dilemmaforschung: „Unter dem Begriff Dilemma ist eine Zwangslage zu verstehen, die sich dadurch bildet, dass bei einer Wahl zwischen zwei Alternativen für die Lösung eines Problems keine von beiden klar zu favorisieren ist (Norwich 2008, 288)“ (S. 100). Damit deutet sich an, in welche Richtung das letzte Kapitel über die „Grundlagen für ein realisierbares inklusives Schulsystem“ (S. 109) weist. Specks Argumentationsstränge können nur auf einen Kompromiss zwischen dem Prinzip „Inklusion“ und dem Prinzip „Separation“ hinauslaufen. In einfacher Formulierung heißt es deshalb am Ende des Buches: „Ein Ausweg aus dem entstandenen Dilemma wird in einem dual organisierten Inklusionsmodell aus priorisierten Regelschulen und zahlenmäßig reduzierten Förderschulen liegen. Dieser gilt auch international als Regel. Diese Folgerung wird durch die Klarstellung gestützt, dass sich das Menschenrecht auf Inklusion auf das generelle Bildungsrecht aller Kinder mit einer Behinderung bezieht und das Förderschulwesen eindeutig als Teil des allgemeinen Bildungssystems gilt“ (S. 133). Otto Speck hat erneut ein lesenswertes und meines Erachtens gut verständliches Buch publiziert. Es wird wohl teils auf Zustimmung und teils auf Ablehnung stoßen. Aber es ist gleichwohl zu hoffen, dass dieses Buch beiden Seiten die Augen dafür öffnet, dass wir uns in einem nicht durch Sturheit überwindbaren Dilemma befinden. Wenn man bedenkt, dass die gesellschaftliche Funktion der Schule nach wie vor Selektion und Allokation ist und diese wahrscheinlich noch sehr lange behalten wird, verschärft sich das „Dilemma Inklusion“. Ich hätte es geschätzt, wenn Otto Speck diese gesellschaftliche Funktion deutlicher herausgearbeitet hätte, als es der Fall ist. Aber vielleicht hätte er dadurch seinem Anliegen eher geschadet, „einen Kommunikationsstil zu praktizieren, der Türen öffnet bzw. Brücken baut, um bessere Integrationsmöglichkeiten und mehr Raum für realisierbare Perspektiven zu entwickeln“. Als letzter Satz folgt: „Ich hoffe, hierzu mit diesem Buch einen Beitrag leisten zu können“ (S. 135). Und es ist zu hoffen, dass er die Wirkkraft von Geschriebenem nicht überschätzt. Prof. em. Dr. Urs Haeberlin CH-8050 Zürich DOI 10.2378/ vhn2020.art27d Schmidt, Marion; Werner, Anja (Hrsg.) (2019): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz Bielefeld: transcript. 428 Seiten, € 39,99 Das Buch ist Teil der im transcript Verlag erscheinenden Buchreihe „Disability Studies: Körper - Macht - Differenz“, die „,Behinderung‘ als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion“