Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2020.art30d
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Rezension: Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
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André Schindler
Schäfer, Holger (Hrsg.) (2019): Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Weinheim: Beltz. 710 S., € 58,–
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VHN 3 | 2020 226 REZE NSION E N Rubriken, unter denen eine mittendrin „Behinderung“ überschrieben ist, bei Anna wird sie „Down- Syndrom“, bei Julien „Angeber“ genannt. Der Einwand trifft zu, dass es sich bei Julien, dem Angeber, bei Paul, dem Mitläufer, bei Vanessa, der Tussi usw. nicht um Behinderungen im Sinn des „Behi-Ausweises“ wie bei Lenny (Muskelschwäche), bei Pippa (Querschnittslähmung), bei José (Lernbehinderung) usw. handelt. Letztere sind erkennbar medizinische bzw. sonderpädagogische Diagnosen, erstere sozial zugeschriebene Charaktereigenschaften; bei deren Auftritt geht es offensichtlich um ein didaktisches Moment der humorvoll gedachten Irritation. Solche „Sprachspiele“ können angemessene, herausfordernde und kreative Umgangsweisen anregen. Der „Angeber“ ist dergestalt „behindert“, wie heute auf dem Schulhof „Du bist behindert“ verwendet wird. Das bestätigt sozusagen der Rückumschlag des Buches, wo es als Erstes heißt: „Wer das liest, ist behindert! “ - nicht etwa, wie man früher sagte, „ist doof“. - „Wer dabei keine Miene verzieht, ist lachbehindert! “, meint die Verlagswerbung. Schon um 1500 war „Gebrechlich sind wir alle“ als Sprichwort gebräuchlich. Um 1980 aber galt die gutgemeinte Parole „Wir sind doch alle behindert“ in Kreisen der Behindertenbewegung als verlogen, als Verschleierung der Unterschiede von Betroffenheit und Stellvertretung. Was hat sich geändert, dass 40 Jahre später ein Kinderbuch („ab 5 Jahren und für alle“) mit dem Titel „Alle behindert! “ erscheint? Es ist die Beteiligung: Die Autoren, die Verlegerin von Klett Kinderbuch Monika Osberghaus und der Illustrator Horst Klein, bedanken sich im Nachwort bei den Kindern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und ihren Eltern für deren zahlreiche „offene und berührende Antworten mit Herz, Verstand und Humor“, ohne die das Buch nicht hätte realisiert werden können. Die in den letzten Jahren zunehmenden Partizipationschancen ermöglichen durch ihr Vorverständnis die Darstellung von Differenzierungen und Kooperationen. Das inklusive Anliegen kann sowohl von Selbstbestimmung als auch von abwechslungsreichen Auseinandersetzungen ausgehen. Das wird in den bunten Steckbriefen prägnant anschaulich. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2020.art29d Schäfer, Holger (Hrsg.) (2019): Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Weinheim: Beltz. 710 S., € 58,- Holger Schäfer legt vierzig Jahre nach dem ersten Handbuch Pädagogik der Geistigbehinderten von Heinz Bach das Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung vor. Wenngleich sich grundlegende Anliegen der Pädagogik bei geistiger Behinderung in der Zwischenzeit wenig verändert haben (S. 16), hat sich der Fachdiskurs in dieser Zeit in Bezug auf das Verständnis von Behinderung, von Diagnostik und Förderung, von Erziehung und Bildung, von Unterricht und Didaktik weiterentwickelt und ausdifferenziert. Diesem Entwicklungsprozess entsprechend ist das Handbuch bestrebt, fachspezifisch „bewährtes (und zu bewahrendes) Wissen und aktuelle Sichtweisen“ (S. 17) zusammenzuführen und darzustellen. Im Zentrum des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung stehen dabei die Fragen nach Lerninhalten und deren didaktisch-methodischer Aufbereitung und Vermittlung, nach Lernräumen und deren Organisation und Gestaltung, nach bildungsbiografischer Begleitung und Gestaltung von Übergängen sowie nach gelingender und gewinnbringender interdisziplinärer Zusammenarbeit. Für die Beantwortung dieser zentralen Fragen im pädagogischen Umgang mit der heterogenen Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gliedert Schäfer das Handbuch in vier Hauptteile: I) Grundlagen, II) Spezifika der schulischen Geistigbehindertenpädagogik, III) Fachorientierung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und IV) Lernfelder. Obwohl Schäfer dementiert, mit dem Handbuch dem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht werden zu können, ist doch dessen Umfang sehr beachtlich: Das Handbuch umfasst gesamthaft 63 Kapitel, die von 66 Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis verfasst wurden. Durch die sorgfältigen und fundierten Einführungen zu Beginn der Hauptteile wird die Leserschaft auf die relevanten Themen und damit zusammenhängende Herausforderungen und Fragestellungen für Theorie und Praxis VHN 3 | 2020 227 REZE NSION E N eingestimmt, wodurch das Eintauchen in die jeweilige Materie mit gewecktem Interesse erfolgt. Der Hauptteil I) Grundlagen vermittelt der Leserschaft einen prägnanten Einblick in unterschiedliche Aspekte des Förderschwerpunkts geistige Entwicklung. Einführend finden sich informative Beiträge zur Historie der schulischen Geistigbehindertenpädagogik, zum Personenkreis mit geistiger Behinderung, zur Leitidee der Selbstbestimmung, zu ethischen Aspekten sowie zu erkenntnistheoretischen und entwicklungstheoretischen Verstehensweisen. Daran schließen sich differenzierte Beiträge in spezifischem Bezug auf den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu Bildung, Didaktik und zur Gestaltung von Unterricht, zur Methodik und Diagnostik, zur Gestaltung von biografischen Übergängen, zur Thematik Flucht und Migration, zur Schulorganisation und -entwicklung sowie zu spezifischen Forschungsfragen an. Damit wird eine informative, grundlegende Übersicht für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung aufgezeigt. Allerdings vermisst man gleichwohl einen Beitrag mit der Überschrift „Erziehung“, wenn es doch - wie im Beitrag zu „Bildung“ ausgeführt - in der Schule und im Unterricht auch um Erziehung geht (vgl. S. 78). Die Beiträge zu den II) Spezifika der schulischen Geistigbehindertenpädagogik führen die Leserschaft in wesentliche Aspekte der Erziehung und Bildung bei geistiger Behinderung ein. Dabei wird in gelingender Art und Weise auf pädagogische Fragestellungen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit, bei spezifischen Syndromen, bei zusätzlicher psychischer Beeinträchtigung, bei herausforderndem Verhalten oder beim Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung eingegangen. Anhand von fünf Beiträgen wird die Thematik Schwerste Behinderung ausführlich thematisiert, womit den vielseitigen Facetten der Bildung, Erziehung und Förderung bei schwerster Behinderung differenziert Rechnung getragen wird. Abschließend folgen Beiträge zu bewegungsfördernden und therapeutischen Angeboten, zur Zusammenarbeit mit Eltern und zur interdisziplinären Kooperation sowie zur Aufgabenstellung der Kommunikationsförderung und -unterstützung. Gesamthaft kann festgehalten werden, dass damit die „Spezifität“ der Pädagogik bei geistiger Behinderung sehr gut und informativ abgebildet wird. Mit der Aufgliederung der Teile III) Fachorientierung und IV) Lernfelder gelingt es Schäfer, die vielschichtigen Ansprüche in Bezug auf die fachdidaktische Vermittlung von Bildungsinhalten und Aspekte lebenspraktischer (Aus-)Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung im Sinne eines „Didaktischen Kontinuums“ (S. 446) abzubilden. Mit diesem Verständnis fächert das Handbuch die vielseitigen Facetten der Bildungsbereiche des Förderschwerpunkts geistige Entwicklung auf und widerspiegelt damit ein Bildungsverständnis, welches keine Reduktion oder Verengung von Bildungsansprüchen dieser Schülerschaft zulässt. Entsprechend finden sich in den Beiträgen spezifische Grundlagen und unterrichtliche Möglichkeiten sowohl für die Fächer Deutsch, Mathematik, Sachunterricht, Geografie, Geschichte, Musik, Kunst, Sport, Religion, Hauswirtschaft und Wirtschaft-Arbeit-Technik wie auch für die Lernbereiche Selbstversorgung, soziale und emotionale Entwicklung, Mobilitäts- und Verkehrserziehung, Vorbereitung auf das Wohnen, Freizeitbildung, Schülermitverantwortung und demokratische Grundbildung, Medienbildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Sexualität und Spielen. Fazit: Holger Schäfer bündelt in seinem inhaltlich umfangreichen Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung relevantes Wissen für Theorie und Praxis auf eine gut verständliche und lesefreundliche Art und Weise. Die Gliederung des Handbuches, die prägnanten Einführungen der Hauptteile und die den einzelnen Beiträgen jeweils vorgeschobenen Zusammenfassungen und Schlüsselwörterauflistungen ermöglichen eine gute Orientierung im Handbuch und eine rasche Erfassung der Inhalte. Schäfer ruft die Pädagogik bei geistiger Behinderung zur Verantwortung, sich dauerhaft und konsequent den wiederkehrenden sowie den neuen Fragen zu stellen und sich um wissenschaftlich geprüfte und praktisch umsetzbare Antworten zu bemühen, damit für die Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung „bestmögliche Schul- und Unterrichtsbedingungen“ (S. 261) geschaffen werden können. Das vorliegende Handbuch trägt seinen Teil dazu überaus zufriedenstellend bei. André Schindler, MA CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2020.art30d
