eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 89/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2020.art33d
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2020
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Das provokative Essay: Pädagogische Reflexion statt Empirischer Evidenz?

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Franz B. Wember
Ausgehend von den zwei grundlegenden Annahmen, dass Forschung immer aspekthaft reduktiv vorgeht und irren kann und dass sie zur Lösung realer Probleme in der pädagogischen Praxis beitragen sollte, wird die aktuelle Kritik am Programm der evidenzbasierten Praxis aufgegriffen, um die Fehlinterpretation und Übergeneralisierung positiver Befunde kritisch zu beleuchten. In der Praxis werden realisierbare Lösungsvorschläge benötigt, aber diese sollten zunächst geprüft werden, und dazu können sinnverstehend rekonstruktive Forschungsmethoden vertiefend beitragen, wenn sie auf sonderpädagogische Probleme angewendet werden.
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231 VHN, 89. Jg., S. 231 -237 (2020) DOI 10.2378/ vhn2020.art33d © Ernst Reinhardt Verlag Pädagogische Reflexion statt Empirischer Evidenz? Fragen eines lesenden Lehrers Franz B. Wember TU Dortmund Zusammenfassung: Ausgehend von den zwei grundlegenden Annahmen, dass Forschung immer aspekthaft reduktiv vorgeht und irren kann und dass sie zur Lösung realer Probleme in der pädagogischen Praxis beitragen sollte, wird die aktuelle Kritik am Programm der evidenzbasierten Praxis aufgegriffen, um die Fehlinterpretation und Übergeneralisierung positiver Befunde kritisch zu beleuchten. In der Praxis werden realisierbare Lösungsvorschläge benötigt, aber diese sollten zunächst geprüft werden, und dazu können sinnverstehend rekonstruktive Forschungsmethoden vertiefend beitragen, wenn sie auf sonderpädagogische Probleme angewendet werden. Schlüsselbegriffe: Empirische Evidenz, evidenzbasierte Praxis, naturalistischer Fehlschluss, rekonstruktive Forschung Pedagogical Reflection Instead of Empirical Evidence? - Questions of a Reading Teacher Summary: Starting from the two basic assumptions that research is always aspectfully reductive and may be misleading and that it should contribute to solving real problems in educational practice, the current criticism of the programme of evidence-based practice is taken up in order to critically examine the misinterpretation and over-generalisation of positive findings. Practically applicable solutions are needed, but they should first be evaluated and, when applied to special education problems, reconstructive research methods may contribute to this in greater depth. Keywords: Empirical evidence, evidence-based practice, naturalistic fallacy, reconstructive research DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die Sonderpädagogik blickt als erziehungswissenschaftliche Disziplin auf eine zunächst geisteswissenschaftliche Tradition zurück, auch wenn Helmut von Bracken schon 1964 eine deutliche empirische Orientierung gefordert hat. Er betrachtete die Sonderpädagogik als eine angewandte Integrationswissenschaft, in der Theorien und Methoden der Nachbarwissenschaften kritisch reflektiert und produktiv genutzt werden. Obwohl die Disziplin sich „unter dem methodologischen Aspekt auf keinen Fall irgendwelche Autarkie-Bestrebungen leisten“ (Bracken, 1964, S. 6, Hervorhebung i. O.) könne, sei „die empirische Forschung im engeren Sinne … von besonderem Gewicht“ (ebd., S. 10). Erstens forschten wichtige Nachbardisziplinen auf empirischem Wege, zweitens könne die Sonderpädagogik durch die empirische Dokumentation von Erfolgen bei der Bildung und Erziehung von beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen den Einsatz von Mitteln rechtfertigen und drittens könne sich die Sonderpädagogik oft nicht auf herkömmliche Methoden stützen, sie müsse „neue Wege suchen, deren Gangbarkeit wissenschaftlich-kritisch zu kontrollieren ist. Dazu aber brauchen wir empirische Forschung“ (ebd., S. 7). VHN 4 | 2020 232 FRANZ B. WEMBER Pädagogische Reflexion statt Empirischer Evidenz? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Empirische Evidenz und ihre Kritik Als hätten in den letzten zwei, drei Jahrzehnten zahlreiche Forscherinnen und Forscher von Brackens Ruf gehört, erscheinen empirische Arbeiten in allen führenden sonderpädagogischen Fachzeitschriften, auch in der vorliegenden. Es werden nicht nur Einzelstudien, sondern ebenso zusammenfassend bewertende Metaanalysen und sogar Lehrbücher publiziert, in denen sonderpädagogische Interventionen hinsichtlich ihrer Wirkungen und ungewollten Nebenwirkungen auf der Basis von zahlreichen Studien analysiert werden, die in der nationalen und internationalen Fachliteratur zu recherchieren sind (Fingerle & Ellinger, 2008; Hartke, Koch & Diehl, 2010; Kuhl & Euker, 2016). Thematisiert werden vielfältige Probleme der - vor allem schulischen - Förderung des Lernens und Verhaltens unter erschwerten Bedingungen. Die Interventionen reichen von relativ offenen Förderansätzen bis hin zu ausgearbeiteten Förderprogrammen, und erhofft werden „Orientierungshilfen für die Praxis“, so der Untertitel des von Fingerle und Ellinger (2008) herausgegebenen Sammelwerks. Orientierung soll über den Grad der empirischen Bewährung erreicht werden: Sonderpädagogische Angebote, die sich mindestens einmal, besser mehrmals in der Alltagspraxis anwenden ließen und die sich im Idealfall „in zahlreichen methodisch solide ausgeführten Studien als wirksam erwiesen [haben], gelten als ‚bewährt‘“ (Hartke et al., 2010, S. 11). Bewährte Konzepte, Methoden und Programme sollen zur Anwendung in der Praxis empfohlen werden. Nahezu zeitgleich hat sich ein bisweilen heftiger Diskurs entwickelt, der sich in einigen Beiträgen in Fachzeitschriften und in vier Sammelwerken nachlesen lässt (Ahrbeck, Ellinger, Hechler, Koch & Schad, 2016; Laubenstein & Scheer, 2017; Dederich, Ellinger & Laubenstein, 2019; Grosche, Gottwald & Trescher, 2020). Es wird beklagt, dass eine an empirischer Evidenz orientierte sonderpädagogische Forschung Gefahr laufe, affirmative Theorien ohne kritische Kraft zu entwickeln, die eigenen normativen Grundlagen unzureichend zu reflektieren, sich die realen Bedingungen und Begrenzungen des eigenen Forschens nicht bewusst zu machen. Es wird bemängelt, die quantitativ forschende Sonderpädagogik nehme die gesellschaftliche Bedingtheit von Behinderung und Benachteiligung und die real gegebenen Bedingungen von Schule und Unterricht unreflektiert hin, sie beschränke sich auf mehr oder minder leicht messbare Aspekte und sie schenke den Zielen sonderpädagogischen Handelns zu wenig Aufmerksamkeit. Letztendlich reduziere sie sonderpädagogische Probleme auf Anpassungsprobleme auf der Ebene des Individuums und seines unmittelbaren sozialen Umfelds und produziere in wenig selbstkritischer Weise Handlungswissen, das als politisches Herrschaftswissen benutzt werden kann. Als Alternative wird eine kritische und reflexive Sonderpädagogik gefordert, die sich und ihre Rolle bei der gesellschaftlichen Definition von Benachteiligung und Behinderung hinterfragt und die zu ihrem pädagogischen Kern zurückfindet (Ellinger & Hechler, 2019). Mittlerweile wird nicht nur nach Anknüpfungspunkten für gegenseitiges Verstehen oder gar gemeinsames Forschen gesucht (z.B. bei Grosche, 2017; Kuhl, 2020), sondern durchaus von unvereinbaren methodischen und theoretischen Positionen gesprochen, die eine Aufspaltung der Sonderpädagogik nötig machen könnten (z. B. bei Dederich, 2017). Sonderpädagogik als Probleme lösende Disziplin Wer all das, was auf Hunderten von Druckseiten geschrieben wurde, nicht aus akademischem Interesse liest, sondern auf der Suche nach Anregung und Hilfe für die praktische Arbeit, dürfte sich manche schwer zugängliche VHN 4 | 2020 233 FRANZ B. WEMBER Pädagogische Reflexion statt Empirischer Evidenz? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Argumentation nur unter größten Anstrengungen erschließen können und dennoch sich und die realen Probleme des Alltags selten wiederfinden. Linderkamp (2020), um einen Kommentar gebeten, hat daran erinnert, dass sich Sonderpädagogik bislang als angewandte Disziplin verstanden habe, die bei der Lösung praktischer Probleme helfen müsse und nicht in sich selbst ihren Sinn finde. Die selbstkritische Reflexion und die Vergewisserung ihrer ethischen, normativen und methodologischen Grundlagen sei legitim und sie sei wichtig, aber die Sonderpädagogik sei eine „Probleme lösende Disziplin“ (Linderkamp, 2020, S. 81). Das vorliegende Essay akzeptiert diese Auffassung als erste grundlegende Voraussetzung und geht darüber hinaus von der grundsätzlichen Fehlbarkeit menschlichen Wissens und Handelns aus, d. h. von der Annahme, dass menschliches Forschen immer reduktiv und aspekthaft verläuft und unter Irrtumsvorbehalt steht, auch wenn hermeneutisch oder rekonstruktiv geforscht und der Anspruch vertieften Erkenntnisgewinns erhoben wird (Ellinger, Fertsch-Röver & Hechler, 2019). Wenn man akzeptiert, dass Forschung grundsätzlich aspekthaft reduziert verläuft, ist immer noch kritisch zu untersuchen, auf welche Aspekte Wirklichkeit reduziert wird und ob und wie die unter einschränkenden Bedingungen gewonnenen Ergebnisse bei der Lösung praktischer Probleme helfen können. Kuhl (2020) hat viele der o. g. Argumente gegen empirische Methoden aufgegriffen und seine Konzeption einer werteorientierten und reflektierten Wirkungsforschung vorgestellt, die Behinderungen und Störungen in individuellen Aneignungsprozessen beschreiben und erklären will mit dem Ziel, handlungsleitende Theorien zur Entwicklung und Umsetzung von wirksamen Unterstützungsangeboten zu entwerfen, zu erproben und zu verbessern. Kuhls Argumente sollen hier nicht wiederholt werden, auch Grosches (2017) Ausführungen zur wichtigen Unterscheidung von deskriptiven, präskriptiven und normativen Aussagen und zum Status empirischer, insbesondere quantitativer Ergebnisse in wissenschaftlichen Argumenten können gut im Original studiert werden, ebenso Hillenbrands (2015) differenzierte Darstellung der komplexen Entscheidungsfindung bei evidenzbasiertem Handeln in der sonderpädagogischen Praxis. Wer annimmt, empirisch forschende Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen stellten sich den Einsatz von ausgearbeiteten Trainings- und Förderprogrammen als eine simple, unkritische und normenenthaltsame Übertragung auf praktische Situationen vor, kann sich bei Link, Müller und Stein (2017) informieren. Hier soll im Folgenden ein logischer Fehler diskutiert werden, der manchmal übersehen wird und der vermutlich dazu beiträgt, dass der an empirischer Evidenz orientierten Sonderpädagogik ein Machtanspruch vorgeworfen wird, der ihr nicht zukommt: die Fehlinterpretation und unzulässige Verallgemeinerung positiver Befunde. Positive Befunde und konsequentes Handeln Nehmen wir an, eine Forschungsgruppe wolle Hilfen für das Lesenlernen unter erschwerten Bedingungen entwickeln. Nehmen wir des Weiteren an, es sei gelungen, eine offensichtlich relevante und gut kontrollierte empirische Studie zu finden: Die Kinder der Stichprobe entsprechen der Zielgruppe, die Leselernvoraussetzungen und der Unterstützungsbedarf sind differenziert diagnostiziert, das Leseprogramm ist so detailliert dokumentiert, dass man es wiederholen und andernorts einsetzen könnte, die Aktionen der Lehrpersonen wurden protokolliert, die Lesefortschritte der Kinder sind nachvollziehbar ermittelt worden und es gibt eine Kontrollgruppe mit vergleichbaren Lernenden und unter vergleichbaren Bedingungen, die nicht am Leseprogramm teil- VHN 4 | 2020 234 FRANZ B. WEMBER Pädagogische Reflexion statt Empirischer Evidenz? DAS PROVOK ATIVE ESSAY genommen haben. Wenn eine vergleichende Analyse der Daten zeigt, dass die Kinder der Interventionsgruppe statistisch signifikant und lesepädagogisch bedeutend besser lesen als die der Kontrollgruppe, liegt die Vermutung nahe, dass dieser Unterschied auf das Leseprogramm zurückzuführen ist - ein positiver Befund. Man könnte geneigt sein, das Leseprogramm für den Einsatz in der Praxis zu empfehlen, aber methodenkritisch betrachtet erfolgt eine solche Empfehlung verfrüht. Das Forschungsteam wird im Idealfall versuchen, in einer zweiten Studie mit Experimental- und Kontrollgruppe den Fördereffekt zu replizieren. Wenn dies gelingt, steigt der Grad der empirischen Bewährung und die Forschenden setzen mehr Vertrauen in das Leseprogramm. Offensichtlich ist es geeignet, erwünschte Lesefortschritte gezielt zu unterstützen, das Leseprogramm ist für den Praxiseinsatz zu empfehlen. Man könnte glauben, die Empfehlung folge aus den Daten, aber das ist nicht der Fall. Das Leseprogramm zu empfehlen setzt voraus, dass in der Anwendungssituation vergleichbare Kinder mit vergleichbaren Leselernvoraussetzungen angetroffen werden, dass die Rahmenbedingungen zur Realisierung des Leseprogramms gegeben sind, dass die Lehrpersonen sich vorstellen können, mit diesem Leseprogramm erfolgreich zu arbeiten und dass das Lesenlernen in der Anwendungssituation überhaupt als pädagogisches Ziel für die betroffenen Kinder angestrebt wird. Aus einem positiven empirischen Befund wird nur nach einer sorgfältigen Analyse der pädagogischen Bedarfslage und der Rahmenbedingungen vor Ort und in Verbindung mit normativen Zielen eine Handlungsempfehlung, die pädagogisch verantwortet sein will. Deshalb wird die Praxisempfehlung vor allem dann gut begründet, wenn sich die erwünschten Auswirkungen wiederholt zeigen ließen. Die empirischen Befunde bestehen aus deskriptiven Sätzen, welche z. B. Leseleistungen zu Beginn und gegen Ende einer Studie oder in zwei aufeinander folgenden Studien beschreiben; der Schluss auf mögliche Bedingungsverhältnisse wird interpretativ und mit Bezug auf das Forschungsdesign gezogen, und auch die Handlungsempfehlung kommt nicht aus den Daten, sondern durch deren Interpretation und Bewertung durch Forscherinnen und Forscher. Anders ausgedrückt: Die empirischen Daten erhalten ihre Bedeutung im Rahmen einer Theorie, und diese liefert Begründungen für Handlungsempfehlungen. Gegen die naiv-empiristische Sichtweise hat Klauer bereits 1977 argumentiert, und so argumentieren empirisch orientierte Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen bis heute, aktuell z. B. Grosche (2017), Hillenbrand (2015) oder Kuhl (2020). Engelmann (2004), ein in den USA besonders erfolgreicher Autor von detailliert ausgearbeiteten Förderprogrammen, hat darauf hingewiesen, dass es naheliegend wäre, das Leseprogramm in der Anwendungssituation zunächst möglichst so einzusetzen wie in der Forschungssituation, denn in dieser Form hat es sich bewährt. Bei mehreren Versuchen unter veränderten Bedingungen wird man feststellen, dass man vorsichtig Modifikationen für jüngere Kinder oder für zweisprachig aufwachsende Kinder oder für Lehrkräfte ohne fachliche Ausbildung einführen sollte usw. - eine Frage von Implementationsforschung (Kuhl et al., 2017). In der aktuellen Forschung wird jedoch sehr oft anders verfahren, nämlich meta-analytisch: Ein Team von Forschenden durchsucht die Fachliteratur systematisch nach Studien zu potenziell geeigneten Leseprogrammen, stellt die Ergebnisse und die Bedingungen, unter denen sie gewonnen wurden, zusammen und formuliert abschließend „best-practice“-Empfehlungen. In der Regel ermittelt man die besonders erfolgreichen Leseprogramme, stellt vergleichend fest, welche Merkmale sie gemeinsam haben, um genau diese für die Praxis vorzuschlagen, also VHN 4 | 2020 235 FRANZ B. WEMBER Pädagogische Reflexion statt Empirischer Evidenz? DAS PROVOK ATIVE ESSAY etwa: „Erfolg versprechende Leseprogramme fördern die phonologische Bewusstheit, betonen systematisch das Dekodieren und die Lautsynthese, bieten ausgesuchte Texte zum wiederholenden Lesen und inhaltlich interessante Texte zum sinnerfassenden Lesen an.“ Engelmann (2004, S. 34f.) warnt vor logischen Fehlschlüssen und vor einer Überforderung der Praxis: n Wer bewährte und erfolgreiche Programme hinsichtlich ausgesuchter Merkmale analysiert, gelangt - wie gerade gezeigt - zu positiven Ergebnissen in Form von deskriptiven Sätzen, die empirisch belegt sind. Wer jedoch diese Sätze uminterpretiert, indem er Prämisse und Konklusion vertauscht, unterliegt einem logischen Fehlschluss. Aus dem Befund, dass die erfolgreichen Leseprogramme u. a. Kompetenzen der phonologischen Bewusstheit gefördert haben, folgt nicht, dass jedes Programm, das in irgendeiner Weise phonologische Bewusstheit thematisiert, ein erfolgreiches Leseprogramm ist. Erstens ist nicht klar, ob phonologische Bewusstheit wirklich eine zentral wichtige Komponente ist oder nicht. Zweitens ist nicht klar, welche Kompetenzen mit welcher Intensität und in welcher Reihenfolge, auf welche Art und Weise und mit welchen Materialien geübt werden sollten - das alles muss systematisch erforscht werden. Dieses Argument gilt nicht nur für einzelne Merkmale, sondern erst recht für Kombinationen mehrerer Merkmale. n Wer auf der Basis ausgesuchter Studien Listen von Merkmalen formuliert, die empfehlenswerte Programme ausmachen sollen, kann sich nicht sicher sein, ob wirklich alle wichtigen Merkmale erkannt worden sind. In der Regel reicht das verfügbare Wissen dazu nicht aus. Vielleicht sind Programmeigenschaften für die Erfolge verantwortlich, die in den referierten Studien gar nicht untersucht wurden, weil sie zunächst noch entdeckt werden müssen? n Wer Listen von Merkmalen formuliert, welche die in der Praxis tätigen Kolleginnen und Kollegen eigenständig umsetzen sollen, fordert viel, aber hilft wenig. Wie soll die Lehrerin unter den Bedingungen der Alltagspraxis etwa die vier oben formulierten Merkmale umsetzen? Haben alle Lehrkräfte die Kompetenzen und die Ressourcen, ohne weitere Hilfen systematische und anregungsreiche Materialien für die Phonemanalyse, das Dekodieren, das wiederholende und das sinnerfassende Lesen zu erstellen und in den Unterricht einzubringen? Engelmann (2004) bringt seine Argumentation so auf den Punkt: Ein Dalmatiner ist ein Hund mit geflecktem Fell. Dieser Satz ist richtig, aber daraus folgt nicht, dass jeder Hund mit einem gefleckten Fell ein Dalmatiner ist - der Umkehrschluss ist logisch nicht zulässig. Erfolgreiche Leseprogramme mögen - metaanalytisch betrachtet - diese oder jene Eigenschaft gemeinsam haben, aber daraus folgt nicht, dass jedes Leseprogramm, das mit diesen Eigenschaften vor Augen entworfen wird, ebenfalls erfolgreich sein wird. Dazu reicht unser Wissen über das Lesenlernen und insbesondere über Leseprogramme nicht aus, weshalb es in jedem Fall ratsam ist, ein neu entworfenes Programm zu prüfen, bevor es zum Einsatz in der Praxis empfohlen wird. Probleme, Lösungsvorschläge und Reflexion Der Verfasser dieser Zeilen hat in jungen Jahren zunächst als Lehrer an einer Förderschule gearbeitet und er war froh über konkrete Lösungsvorschläge, die er in die alltägliche Arbeit einbringen und mit denen er sich reflektierend auseinandersetzen konnte. Er hat danach als Hochschullehrer gearbeitet und in den letzten vierzig Jahren die sonderpädagogische Forschung studiert. Er hat den Eindruck gewonnen, dass sich die Disziplin in einer dauerhaften VHN 4 | 2020 236 FRANZ B. WEMBER Pädagogische Reflexion statt Empirischer Evidenz? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Legitimationskrise befindet. Auch aktuell soll sie vor allem ihre Grundlagen reflektieren und sich radikal infrage stellen. Die Arbeit an den ethischen, normativen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen des Fachs ist, wie gesagt, zweifellos legitim und wichtig, aber darüber sollte nicht vergessen werden, dass es reale Probleme außerhalb des akademischen Betriebs gibt und dass wir aufgerufen sind, an der Lösung von Problemen zu arbeiten. Vielleicht können wir über die Arbeit an Realproblemen in der Sonderpädagogik zueinander finden? Vielleicht sollten wir versuchen, Grundsatzprobleme in angewandten Kontexten konstruktiv zu lösen? Vielleicht lassen sich methodische und theoretische Gräben überbrücken, wenn es gilt, konkrete Menschen bei der Sicherung von Akzeptanz und Teilhabe wirksam zu unterstützen? Die empirisch und vorzugsweise quantitativ arbeitenden Forscherinnen und Forscher haben in den letzten Jahren produktive Forschungsprogramme auf den Weg gebracht und konkrete Lösungsvorschläge erarbeitet, die pädagogisch verantwortet in die komplexen Zusammenhänge des Alltags umgesetzt sein wollen. Der Forschungsprozess, die erzielten Ergebnisse, der Prozess der Umsetzung in Praxis, all das sollte kritisch begleitet und muss kritisch diskutiert werden. Die aktuell heftig kritisierte quantitative Forschung kann sinnvoll durch qualitative Forschung ergänzt werden, und die rekonstruktive Forschung, die Ellinger, Fertsch-Röver und Hechler (2019) fordern, kann vielleicht - wie erhofft - vertiefte Erkenntnisse offenlegen. Objektive Hermeneutik, Phänomenologische Methode und Sprechaktanalyse, Biografieforschung und Ethnografische Feldforschung sind schon vor vielen Jahren und immer wieder mal empfohlen worden. Sie lassen sich in ihrer Produktivität allerdings erst dann beurteilen und diskutieren, wenn die theoretischen Erörterungen nicht nur in kleineren Beispielen illustriert werden, sondern wenn lege artis gewonnene Ergebnisse vorliegen, die sich auf reale sonderpädagogische Probleme beziehen. Literatur Ahrbeck, B., Ellinger, S., Hechler, O., Koch, K. & Schad, G. (Hrsg.) (2016). Evidenzbasierte Pädagogik - Sonderpädagogische Einwände. Stuttgart: Kohlhammer. Bracken, H. v. (1964). Zur Methodologie der Heilpädagogik. Heilpädagogische Forschung, 1 (1), 3 -12. Dederich, M. (2017). Zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik - Versuch einer Standortbestimmung. In D. Laubenstein & D. Scheer (Hrsg.), Sonderpädagogik zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik, 23 - 40. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Dederich, M., Ellinger, S. & Laubenstein, D. (Hrsg.) (2019). Sonderpädagogik als Erfahrungs- und Praxiswissenschaft. Geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. 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Evidenzbasierung sonderpädagogischer Praxis: Widerspruch oder Gelingensbedingung? Zeitschrift für Heilpädagogik, 66 (7), 312 -324. Klauer, K. J. (1977). Erkenntnismethoden der Lernbehindertenpädagogik. In G. O. Kanter & O. Speck (Hrsg.), Pädagogik der Lernbehinderten, 76 -89. Berlin: Marhold. Kuhl, J. (2020). Beschreiben und Verändern. Sonderpädagogik als werteorientierte und reflektierte Wirkungsforschung. In M. Grosche, C. Gottwald & H. Trescher (Hrsg.), Diskurs in der Sonderpädagogik. Widerstreitende Positionen, 12 -23. München: Reinhardt. https: / / doi.org/ 10. 2378/ vhn2019.art03d Kuhl, J. & Euker, N. (Hrsg.) (2016). Evidenzbasierte Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung. Bern: Huber. Kuhl, J., Gebhardt, M., Bienstein, P., Käppler, C., Quinten, S., Ritterferd, U. et al. (2017). Implementationsforschung als Voraussetzung für eine evidenzbasierte sonderpädagogische Praxis. 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Wember Technische Universität Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften Rehabilitation und Pädagogik bei Lernbehinderungen Otto-Hahn-Straße 6 D-44227 Dortmund E-Mail: franz.wember@tu-dortmund.de Unterstützte Kommunikation (UK) Behinderung und Entwicklung Informieren Sie sich auf www.buk.ch buk-Zertifikatsweiterbildungen NEU KURS- PROGRAMM 2021 - Anzeige -