eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 89/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2020.art41d
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2020
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Rezension: Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen

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2020
Angelika Rother
Lidzba, Karen; Everts, Regula; Reuner, Gitta (2019): Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen Göttingen: Hogrefe. 114 S., € 22.95
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VHN 4 | 2020 307 REZE NSION E N Wie Sarah Braun „damit“ umgeht, scheint aus den Beiträgen der 24 Menschen hervor, die ihr als Freund/ in, behandelnder Arzt, Physiotherapeutin oder Professorin verbunden sind. Die Texte zeichnen das Bild einer Frau, die tiefe Spuren in der Welt hinterlässt. Spuren, die sich, mit Yalom (2008, S. 86, zit. n. Noyon & Heidenreich, 2012, S. 138) gesprochen, als konzentrische Einflusskreise „ähnlich wie die von einem in einen See geworfenen Stein ausgehenden ringförmigen Wellen“ (ebd.), auch dann noch lange weiter ausbreiten, wenn der Stein längst auf den Seegrund herab gesunken ist. Spuren, die „quasi mit einem Augenzwinkern“ (Braun, 2020, S. 10) verewigt wurden - ein doppelsinniger Hinweis darauf, dass ALS schon so weit fortgeschritten ist, dass nur noch die Augenbewegung bleibt, um sich mithilfe eines Eye-Trackers zu verständigen. Fazit „Leben und gleichzeitig sterben“ ist ein vielschichtiges Buch. Es berührt zentrale Themen des Menschseins. Im Zentrum steht die Bezogenheit; die Anwesenheit Anderer als Anker in Momenten existenzieller Bedrängnis. Die Präsenz dieser Menschen macht „den Unterschied“ (ebd., S. 12). Im Diskurs der Heilpädagogik gilt es diese Themen in den Blick zu nehmen. Fragen am Beginn und am Ende des Lebens können immer auch vor dem Prisma ihrer Bedeutung für pädagogische Kontexte und Reflektionen aufgefächert werden (Strachota, 2019). Sie nicht allein der Ethik, Medizin, Psychologie oder Rechtsprechung zu überlassen, ist ein Movens, das vermutlich auch vorliegendes Buch inspirierte. Braun, Lakovits und Strachota haben hier einen wichtigen Impuls gesetzt. Mit einer Dissertation zu ihrem eigenen Sterbeprozess führt Braun diesen Impuls weiter fort. Solange ihr diese Freiheit bleibt. Literatur Braun, S. (2020). Vorwort. In S. Braun, U. Lakovits & A. Strachota (Hrsg.), Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS, 9 -12. Frankfurt a. M.: Mabuse. Lakovits, U. (2020). Udo. In S. Braun, U. Lakovits & A. Strachota (Hrsg.), Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS, 265 -294. Frankfurt a. M.: Mabuse. Lorenzl, S. (2020). Diagnose ALS - Was ist das? In S. Braun, U. Lakovits & A. Strachota (Hrsg.), Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS, 15 -17. Frankfurt a. M.: Mabuse. Noyon, A. & Heidenreich, T. (2012). Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung. Weinheim: Beltz. Strachota, A. (2019). Bis zum letzten Atemzug: Pädagogische Reflexionen zum Übergang vom Leben in den Tod. In H. Fasching (Hrsg.), Beziehungen in pädagogischen Arbeitsfeldern und ihren Transitionen über die Lebensalter, 312 - 326. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Prof. Dr. Marion Baldus D-68163 Mannheim DOI 10.2378/ vhn2020.art40d Lidzba, Karen; Everts, Regula; Reuner, Gitta (2019): Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen Göttingen: Hogrefe. 114 S., € 22.95 Drei habilitierte Frauen - alle Psychologinnen - schreiben ein Buch zum Thema Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen für die Reihe Fortschritte der Neuropsychologie im Hogrefe Verlag. Während es für das Erwachsenenalter einige sehr gute und etablierte deutschsprachige (Lehr-)bücher zum Thema Neuropsychologie gibt, ist diesbezüglich zu Kindern und Jugendlichen kaum deutschsprachige Literatur vorhanden. Zunächst beschreiben die Autorinnen die Grundlagen, Diagnostik und Therapie, bevor sie die Störungsbilder behandeln, die sich nach verschiedenen Patientengruppen bezogen auf die Ursachen richten. Nach der Beschreibung der neuropsychologischen Funktionsstörungen, inklusive der Funktion Sprache, schließt das Buch mit dem Kapitel Fallvignetten ab. Bei den Grundlagen wird näher auf die Phänomene Plastizität und Vulnerabilität des Gehirns bei Kindern eingegangen. Damit wird angemerkt, dass VHN 4 | 2020 308 REZE NSION E N die Plastizität und Vulnerabilität und die damit verbundene Prognose Gegenstand von wissenschaftlichen Diskursen sind. Etwas genauer wird auf die Erholung von Sprache nach Schlaganfällen im Vergleich zu Erwachsenen eingegangen. Bei Kindern ist die Prognose bezogen auf Sprache im Gegensatz zur Wiederherstellung bei Erwachsenen nach einem Schlaganfall verblüffend gut. Als Erklärung wird die erstaunlich gute Reorganisation des Gehirns angeführt und die Bedeutung der Kompensation durch die rechte Hirnhälfte. Es wird aber auch angemerkt, dass sich bei komplexen sprachlichen Anforderungen Schwierigkeiten zeigen. Obwohl diese Schwierigkeiten nicht genauer beschrieben werden, wird im Kapitel Sprache deutlich, dass sie sich vor allem bei schulischen Anforderungen wie Lesen und Schreiben bemerkbar machen. Auch in dem kurzen Kapitel zu „Growing into Deficit“, was zwar nicht explizit auf Sprache bezogen, aber durchaus auf Sprache anwendbar ist, wird hervorgehoben, dass eine anfängliche rasche Erholung täuscht und sich die Defizite erst im Laufe der Jahre und vor allem beim Schulbesuch bemerkbar machen. Im Folgenden wird sowohl auf die Diagnostik wie auf die Therapie eingegangen. Bei der Therapie gibt es ein extra Kapitel zur Wirksamkeit und zu den Einflussfaktoren auf den Erfolg. Die verschiedenen Störungsbilder nach Ätiologie werden beschrieben. Sie sind gut systematisch gegliedert nach Definition, Häufigkeit und Ätiologie, Neuropsychologische Folgen und Einflussfaktoren. Allerdings kann beim beschränkten Umfang des Buches nur ein Überblick gegeben werden. Zum Teil könnte die Darstellung genauer sein. Aphasie wird nicht eindeutig definiert, auch nicht im Glossar. Dort findet sich auch der in der deutschsprachigen Logopädie nicht übliche Begriff der Dysphasie wieder. Auf kognitive Kommunikationsstörungen, die derzeit auch im deutschen Raum vermehrt im Fokus des Interesses stehen, finden sich leider keine Hinweise. Die Stärken dieses Buches liegen bei den primär in der Neuropsychologie verankerten Themen, wie etwa bei den exekutiven Funktionen. Auch wird die Interdisziplinarität an mehreren Stellen des Buches betont. So wird z. B. im Vorwort der Autorinnen hervorgehoben, dass ärztliche Kolleginnen und Kollegen die Ausfühungen zu den neurologischen Pathologien des Kindes- und Jugendalters gegengelesen hätten. Didaktisch werden in dem Buch zentrale Aussagen fett und prägnant am Rand vermerkt. Im Anhang gibt es ein Glossar und am Ende des Buches zwei Einsteckkarten. Auf der einen Karte ist der Ablauf des diagnostischen Prozesses der Kinder- und Jugendneuropsychologie mit dem Anspruch, es sei der Goldstandard, schematisch darstellt. In der zweiten Einsteckkarte sind bezogen nach Alter und Funktionen schematisch die Testverfahren aufgelistet mit Verweisen auf die bibliografischen Angaben am Ende des Buches. Der Bereich Sprache ist aufgeführt mit einigen Testverfahren, die auf dem Markt erhältlich sind. Das komprimierte Buch ist grundsätzlich gut aufgebaut und schließt eine Lücke im deutschsprachigen Raum. Es ist vor allem als Überblick und Einführung in das Thema zu empfehlen. Wer besonders an Sprache und ihren Störungen interessiert ist, wird diese Thematik zwar an mehreren Stellen abgehandelt finden, aber, aus dem Blickwinkel einer Logopädin betrachtet, zu wenig systematisiert. Für Neuropsychologen gibt es Stärken, wie bereits erwähnt u. a. bei den Abhandlungen zu Exekutivfunktionen. Wer sich mit der Thematik noch vertiefender beschäftigen möchte, muss weiterhin auf englischsprachige Literatur zurückgreifen. Angelika Rother CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2020.art41d Schmidt, Yvonne (2020): Ausweitung der Spielzone Experten, Amateure, behinderte Darsteller im Gegenwartstheater Zürich: Chronos Verlag. 220 S., € 44,- Was heißt „schauspielen“? Imitieren oder improvisieren, eine Rolle oder Figur nachahmen oder etwas Persönliches öffentlich wiedergeben, sich zur Schau stellen oder sich abgrenzen? Werden