eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 89/VHN Plus

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2020
89VHN Plus

Fachbeitrag: Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und Bildungsnotwendigkeit

11
2020
Rainer Benkmann
Die Habitus von Lehrkräften wirken sich fördernd oder hemmend auf den inklusiven Unterricht aus, je nachdem ob eine Passung mit dem Schülerhabitus herstellbar ist. Die in unterprivilegierten Herkunftsmilieus anzutreffenden Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und Bildungsnotwendigkeit – vielen dieser Schüler/innen werden oft Förderschwerpunkte zugeschrieben oder sie gelten als Risikoschüler/innen – stellen eine Herausforderung dar, weil sie sich von den aus privilegierten Milieus stammenden Habitus der Lehrkräfte unterscheiden. Es wird von einer herkunftsbezogenen Habitusdifferenz gesprochen. Vor diesem Hintergrund zielt unsere Fragestellung auf die Analyse der Passung oder Nicht-Passung der differenten habituellen Orientierungen der Lehrkräfte der allgemeinen Schule und Schüler/innen im inklusiven Unterricht. Ergebnisse lassen ein erweitertes Wahrnehmen und Verstehen von Habitusdifferenzen erwarten, die Lehrkräfte mithilfe sonderpädagogischer Unterstützung in die Lage versetzen, guten inklusiven Unterricht zu gestalten.
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1 FACH B E ITR AG VHN plus VHN plus , 89. Jg. (2020) DOI 10.2378/ vhn2020.art08d © Ernst Reinhardt Verlag Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und Bildungsnotwendigkeit Herausforderung für den inklusiven Unterricht Rainer Benkmann Universität Erfurt Zusammenfassung: Die Habitus von Lehrkräften wirken sich fördernd oder hemmend auf den inklusiven Unterricht aus, je nachdem ob eine Passung mit dem Schülerhabitus herstellbar ist. Die in unterprivilegierten Herkunftsmilieus anzutreffenden Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und Bildungsnotwendigkeit - vielen dieser Schüler/ innen werden oft Förderschwerpunkte zugeschrieben oder sie gelten als Risikoschüler/ innen - stellen eine Herausforderung dar, weil sie sich von den aus privilegierten Milieus stammenden Habitus der Lehrkräfte unterscheiden. Es wird von einer herkunftsbezogenen Habitusdifferenz gesprochen. Vor diesem Hintergrund zielt unsere Fragestellung auf die Analyse der Passung oder Nicht-Passung der differenten habituellen Orientierungen der Lehrkräfte der allgemeinen Schule und Schüler/ innen im inklusiven Unterricht. Ergebnisse lassen ein erweitertes Wahrnehmen und Verstehen von Habitusdifferenzen erwarten, die Lehrkräfte mithilfe sonderpädagogischer Unterstützung in die Lage versetzen, guten inklusiven Unterricht zu gestalten. Schlüsselbegriffe: Habitusdifferenz, Lehrkräfte, soziale Herkunft, Schüler/ innen, inklusiver Unterricht Difference of Teacher Habitus and Student Habitus of Educational Alienation and Educational Necessity - Challenge for Inclusive Teaching Summary: The habitus of teachers has a supportive or inhibitory effect on inclusive teaching, depending on whether a fit with the student habitus can be established or not. The student habitus of educational alienation and educational necessity found in underprivileged milieus of origin - many of these students are considered high-risk - present a challenge because they differ from the habitus of teachers from privileged milieus. This can be called an origin-related habitus difference. Against this background, our question aims to analyze the fit or non-fit of the different habitual orientations of teachers in general schools and pupils in inclusive teaching. The results suggest an expanded perception and understanding of habitus differences, enabling teachers, with the help of special educational support, to design good inclusive teaching. Keywords: Habitus difference, teachers, social background, students, inclusive education 1 Habitusdifferenz und inklusiver Unterricht Inklusiver Unterricht setzt Kenntnisse der Lehrkräfte der allgemeinen Schule über die in den sozialen Herkunftsmilieus erworbenen Habitus der Schüler/ innen voraus, um Bildungsprozesse zu fördern. Dies ist wichtig, weil inklusiver Unterricht mehr als traditioneller Unterricht differente Habitus der Schüler/ innen aufweist, die sonst durch Schulformen segregiert sind. Zu diesen Habitus werden im Sinne von Kramer VHN plus 2 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus und Helsper (2010) der Habitus der Bildungsexzellenz, des Bildungsstrebens, der Bildungsnotwendigkeit und Bildungsfremdheit gezählt. Während Lehrkräfte mit bildungsbezogenen Habitus vertraut sind - sie selbst haben einen solchen erworben und sind als Vertreter/ innen der Schule von der Gesellschaft zur Weitergabe von Bildung beauftragt -, sind Kenntnisse über die Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit nicht selbstverständlich. Diese Habitus treten in höheren Schulformen selten auf, gehäuft dagegen in niedrigen. Im inklusiven Unterricht finden sich nun alle vier differenten Habitus gemeinsam wieder, für die Bildungsprozesse angeregt werden sollen. Dies erscheint beim Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit insofern anspruchsvoll, als seine Orientierungen nicht der „Mittelschichtsorientierung“ von Schule und Unterricht entsprechen (Ditton, 2017). Es handelt sich meist um Schüler/ innen, denen aufgrund ihres unterprivilegierten Herkunftsmilieus oder ihrer geringen deutschen Sprachkenntnisse die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache zugeschrieben werden. Zusätzlich lassen sich angesichts vergleichbarer sozialer und sprachlicher Merkmale sogenannte Risikoschüler/ innen ohne sonderpädagogisches Label zählen. Neben diesen Habitus muss folglich der inklusive Unterricht denen der Bildungsexzellenz und des Bildungsstrebens gerecht werden. Die Lehrkräfte brauchen nicht nur Kenntnisse über die differenten Habitus der Schüler/ innen und deren bildungsbezogene Orientierungen, sondern auch über ihren eigenen Habitus. Ihre differenten Habitus korrespondieren eher denjenigen in oberen sozialen Gruppen (vgl. Kühne, 2006; Cramer, 2010; Ditton, 2017), unterscheiden sich also vom Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit aus unterprivilegierten Milieus. Ohne Selbstreflexion der Lehrkräfte setzt sich der eigene Habitus immer wieder hinter ihrem Rücken durch und verhindert eine Passung mit den Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit. Damit wird präreflexiv zur Reproduktion herkunftsbezogener sozialer Ungleichheit in der Schule beigetragen. Die Habitus der Lehrkräfte können sich folglich fördernd oder hemmend auf den inklusiven Unterricht auswirken. Vor diesem Hintergrund zielt unsere Fragestellung auf die Analyse der Differenz zwischen verschiedenen Habitus der Lehrkräfte der allgemeinen Schule und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und Bildungsnotwendigkeit. Dazu klären wir den Begriff der herkunftsbezogenen Habitusdifferenz mithilfe der Erörterung der Kategorien Habitus, Lehrer-/ Schülerhabitus und soziale Herkunft von Lehrkräften. Orientierungen von Lehrkräften, hermeneutisch rekonstruiert auf der Grundlage nicht selbst durchgeführter Befragungen und Interviews mit Lehrkräften aus verschiedenen Formen der allgemeinen Schule, werden in den Kontext vom inklusiven Unterricht übertragen. Hier treffen wir die Schülerhabitus der Bildungsexzellenz und des Bildungsstrebens gemeinsam mit den uns interessierenden der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit an. Die Letzteren machen insgesamt etwa ein Fünftel aus, ca. vier Prozent ehemals exkludierte Schüler/ innen in Förderschulen (Klemm, 2018) und bis zu 17 % Risikoschüler/ innen in der allgemeinen Schule, deren Kompetenzniveaus es nicht erlauben, am Leben als Erwachsene effektiv und produktiv teilzuhaben (vgl. OECD, 2015). Die Analyse soll zeigen, welche Orientierungen Passungen zwischen diesen Habitus erwarten lassen. Ergebnisse zu einem erweiterten Wahrnehmen und Verstehen habituell bedingter differenter Prozesse können auf Möglichkeitsbedingungen der Transformation zum Habitus des Bildungsstrebens 1 hinweisen. Regel- und sonderpädagogische Lehrkräfte mit längerer Erfahrung in niedrigen Bildungsgängen, wie denen der Förder- und Hauptschule und denen der sich im Zuge der Zweigliedrigkeit entwickelnden Sekundarschulen mit VHN plus 3 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus mehreren Bildungsgängen, verfügen oft über Kenntnisse der unterprivilegierten Herkunftsmilieus der Kinder und Jugendlichen, Lehrkräfte in höheren Bildungsgängen dagegen kaum. Diejenigen mit nur wenig Wissen sind im inklusiven Unterricht gleichwohl aufgefordert, Passungen zwischen Lehrer- und Schülerhabitus herzustellen. Sie stellen die Grundlage für pädagogisches und didaktischmethodisches Handeln dar. Passung bedeutet nicht die Übereinstimmung von schul- und bildungsbezogenen Orientierungen zwischen Lehrer- und Schülerhabitus, sondern, dass sich Lehrkräfte ihrer betreffenden Orientierungen, d. h. ihrer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, bewusst sind, wie über diejenigen der Schüler/ innen, um ein tragfähiges Arbeitsbündnis herzustellen (Helsper, 2018 a). Dazu ist die Unterstützung von Sonderpädagog/ innen sowie habitusreflexive Beratung (Vogel, 2019), Fort- und Weiterbildung für Lehrkräfte in der allgemeinen Schule notwendig. 2 Theoretischer Rahmen 2.1 Habitus und soziale Felder „Habitus, […] das ist eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt. … wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat usw. - all das ist eng miteinander verknüpft“ (Bourdieu, 1992, S. 32f.). Sprache, Kleidung, Körperhaltung, Interessen und Geschmack sind Ausdruck des Habitus eines Subjekts, seiner dominierenden Dispositionen, Mentalitäten und der darin enthaltenen Werte und Normen. Der Habitus ist nicht direkt sichtbar, lässt sich aber in alltäglichen Interaktionen entschlüsseln und im Feld der Forschung rekonstruieren. Er wird über Symbole vermittelt, die sich in einer spezifischen Auswahl von Merkmalen widerspiegeln. Im Habitus von Subjekten wird das Gesellschaftliche sichtbar, das die individuelle Auswahl der Merkmale als Symbolträger bestimmt. Insofern sind die Symbole nicht frei gewählt. Zugleich ist ihre Wahl von verfügbarem ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital abhängig (ebd., S. 49ff.) und verweist in ihrer Gesamtheit auf einen besonderen Lebensstil. Lebensstile können sich ähneln, weil vergleichbare soziale Herkunftsmilieus zwar nicht zu übereinstimmendem, aber strukturähnlichem Habitus beitragen. Im Habitus drücken sich nicht nur Ausschnitte oder einzelne Aspekte einer Person aus, sondern immer auch die ‚ganze‘ Person. So verweist der Habitus der Professionellen in sozialen Feldern wie der Schule auf Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch Ausbildung und Berufserfahrung erworben werden ebenso wie auf die Gesamtheit von Handlungsdispositionen und Orientierungen, die durch ihre vorangegangene Lebensgeschichte geprägt sind. Insofern lassen sie sich auch nicht einfach verändern. Den Habitus kennzeichnet eine relative Trägheit, den „Hysteresiseffekt“ (Bourdieu, 1999, S. 238f.). Habitus bestimmen letztlich bewusstes und intentionales Handeln, dessen Reichweite und Grenzen. Sie vermitteln Subjekten ihren Sinn für die eigene Stellung im sozialen Raum, d. h. in der Gesellschaft, wodurch sie „bestimmen“, was Subjekte sich erlauben können und was nicht (Kramer, 2014, S. 185). Jedoch drückt sich im habituellen Handeln weder allein die Verarbeitung von Erfahrungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen noch allein die Verarbeitung von „autonomen“ Entscheidungen des Subjekts aus. Das Habituskonzept versucht vielmehr, die Dichotomie von Gesellschaft und Subjekt zu überwinden. Es verschränkt beides so, dass im individuellen Handeln Gesellschaftliches sichtbar wird und der Habitus des Subjekts als Ergebnis der „Inkorporierung von sozialen Strukturen“ erkennbar und verstehbar wird (Bourdieu & Wacquant, 2006, S. 173). VHN plus 4 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus Je nach Herkunftsmilieu entstehen verschiedene Habitus. Das familiale Herkunftsmilieu ist der Ort, in dem durch Aushandlung und Sozialisation der familiale Habitus entsteht, der im weiteren Lebensverlauf Struktur und Grenzen der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata mit formt. Auch spezifische Bildungsorientierungen haben hier ihren Ursprung und sind Teil des Habitus. Wenn Kinder in der Familie allgemeine Grundhaltungen generieren, sind sie den Einflüssen des Milieus nicht passiv ausgesetzt, sondern aktiv beteiligt. Auf dieser Basis entwickeln sich Schemata, die der Habitus je nach sozialer Situation aktiviert, durch neue Erfahrungen verändert und erweitert. Insofern ist der Habitus eine „strukturierte Struktur“, weil er als inkorporierte Lebensgeschichte in die soziale Situation eingebracht wird, wie auch eine „strukturierende Struktur“, weil er situationsspezifisch immer wieder neue Praktiken erzeugt (Bourdieu, 1993, S. 98ff.). Die Schemata beider Strukturtypen bringen sozial angemessene oder abweichende Praktiken hervor. Soziale Ungleichheit entsteht, wenn habituelle Praktiken nicht in ein soziales Feld passen, die Akteur/ innen seine Spielregeln weder kennen noch befolgen oder kein ausreichendes ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital haben, um ihre Sichtweisen durchzusetzen. Soziale Felder sind relativ autonome gesellschaftliche Systeme mit unterschiedlichem Komplexitätsgrad, etwa Wirtschaft und Familie, und haben ihre Eigenlogik. Jedes Feld beinhaltet spezifische Interessen, eigene Spielregeln und „Gesetze“. Was in einem Feld, z. B. in der Wissenschaft, anerkannt und für wichtig erachtet wird, ist in einem anderen Feld irrelevant, etwa im Handwerk. Das Subjekt macht im Laufe des Lebens verschiedene Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Feldern und erfährt, dass Macht und Erfolg vom Einsatz des jeweiligen Kapitals bzw. der Ressourcen einer Person oder von Gruppen abhängig sind. In vielen Feldern gibt es Gruppen, die entweder die traditionelle Ordnung des Feldes aufrechterhalten wollen oder ihre Veränderung. Aufrechterhaltung oder Veränderung der Ordnung ist vom jeweiligen für das spezifische Feld bestimmenden Kapital abhängig. Kapital wird dann „…als Waffe und als umkämpftes Objekt wirksam, das, was es seinem Besitzer erlaubt, Macht oder Einfluss auszuüben, also in einem bestimmten Feld zu existieren…“ (Bourdieu & Wacquant, 2006, S. 128). Die Dominanz einer Position innerhalb des Feldes der Bildung, etwa hinsichtlich des Erhalts des selektiven, segregierenden Schulsystems, ist das Ergebnis historischer und aktueller gesellschaftspolitischer Machtkämpfe. Veränderung findet statt, wenn sich eine Gegenposition zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems mit für das Feld ausschlaggebendem Kapitaleinsatz als durchsetzungsfähiger erweist. Bei Feld und Habitus handelt es sich um eine Verschränkung zwischen Subjekt und Gesellschaft, die feldspezifische Habitus und Habitusformen hervorbringt, im schulischen Feld etwa den Lehrer- und Schülerhabitus (Helsper, 2018 a). 2.2 Lehrerhabitus und Habitussensibilität Wie jeder Habitus ist auch der Lehrerhabitus Resultat der Biografie des Subjekts. Lehrerhabitus entstehen in Abhängigkeit von unterschiedlichen Herkunftsmilieus (Bremer & Lange-Vester, 2014). Meist kommen die Lehrkräfte aus mittleren und oberen Milieus und weisen keinen homogenen Habitus auf (vgl. Kap. 3). Bis er sich in der schulischen Tätigkeit zu einem feldspezifischen Habitus ausformt, müssen von der Gesellschaft gesetzte Qualifikationsvoraussetzungen erfüllt sein. Abb. 1 fasst zusammen, welche habituellen Orientierungen und welche Wechselwirkungen zwischen verschiedenen sozialen Feldern und feldspezifischen Habitus bei der Herausbildung eines Lehrerhabitus von Bedeutung sind. VHN plus 5 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus Abb. 1 zeigt, dass familialer, Schülerhabitus und selbst erworbener Habitus in die Orientierungen des Lehrerhabitus eingehen. Familialer Herkunftshabitus ist Grundlage für die Entwicklung aller weiteren Habitusformen. Der Schülerhabitus löst eine intensive Beschäftigung mit den familialen Bildungsorientierungen aus. Sie fließen während der Schulzeit reproduziert, relativiert oder transformiert samt Verarbeitung milieuspezifischer Erfahrungen, z. B. mit Peers, in die Herausbildung des eigenen Habitus ein. Schüler- und eigener Habitus sind maßgeblich an der Herausbildung des Lehrerhabitus beteiligt. Tragen sie zur Bestätigung oder Revision der familialen Orientierungen bei, zeigt sich, dass die Orientierungen des Lehrerhabitus mit den Orientierungen des eigenen Habitus im Sinne eines reproduzierten oder revidierten familialen und Schülerhabitus eng zusammenhängen. Die in Abb. 1 dargestellten Orientierungen und Praktiken des Lehrerhabitus oszillieren zwischen zwei Polen hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung der Lehrkräfte, die Orientierungen für selbstständiges Lernen für relevant halten, und denen, die Lehrerzentrierung favorisieren; hinsichtlich der Fachinhalte und Bildung zwischen denen, für die es um die Welterweiterung der Schüler/ innen geht, und denen, für die Fachinhalte zentral sind; hinsichtlich Leistungsdifferenzierung und Selektion zwischen denen, die Leistung nicht als selektive Größe in den Vordergrund rücken, und denen, die sie als ein gerechtes Legitimationsmittel für Selektion und Allokation ansehen; schließlich hinsichtlich Disziplin und Norm zwischen denen, die eine demokratische Teilhabe der Schüler/ innen ermöglichen, und denen, die durch Macht und Kontrolle Regeln und Ordnung oktroyieren. In diese Orientierungen des Lehrerhabitus sind Schülerbilder inkorporiert, die je nach Pendelausschlag auf dem Kontinuum der beiden Pole zu den jeweiligen Orientierungen passen (vgl. Helsper, 2018 b). Der Kasten zum Lehrerhabitus ist mit einem weiteren Strukturmoment zu versehen: Die Milieubezüge Milieubezüge primärer familialer Habitus/ sozial vererbte Milieubezüge eigener erworbener Habitus und Milieubezüge Schülerhabitus Schul- und bildungsbezogene Orientierungen und Praktiken n Leistung/ Status n Inhalte/ Bildung n Disziplin/ Norm n Unterricht und Lernen n Schulpeers Lehrerhabitus Schul-, bildungs- und unterrichtsbezogene Orientierungen und Praktiken n Unterrichtsgestaltung n Fachinhalte/ Bildung n Leistung/ Selektion n Disziplin/ Norm n Schülerbilder antizipatorische schulische Sozialisation Schülerhabitus Lehrerhabitus Abb. 1 Herkunfts- und individueller sowie Schüler- und Lehrerhabitus (Quelle: Helsper 2018, S. 128) VHN plus 6 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektoren- und Kultusministerkonferenz zur Lehrerbildung sieht für eine Schule der Vielfalt den „professionelle(n) Umgang mit Inklusion“ als „Querschnittsaufgabe“ für das Lehramtsstudium für alle Schultypen vor (HRK & KMK, 2015, S. 14). Der zukünftige Lehrerhabitus ist demnach auf die neue Herausforderung „Inklusion“ zu beziehen. Vermittelt durch Studium von Bildungswissenschaft, Fachwissenschaft und Fachdidaktik entstehen inklusionsbezogene Orientierungen über die Unterrichtsgestaltung bis hin zu veränderten Schülerbildern. Erste Anhaltspunkte für solche neuen Orientierungen liefern bereits Ergebnisse von Untersuchungen (z. B. Gercke, 2018). Inklusion betrifft ferner die in den Lehrerhabitus eingegangenen ehemaligen Erfahrungen des Schülerhabitus der Lehrkraft (vgl. oben), der sich durch zukünftige Interaktion in einer inklusiven Schule wahrscheinlich anders konfiguriert als im gegliederten Schulsystem. Anzumerken ist, dass Orientierungen von Lehrkräften nicht allein in habitustheoretischen Studien eine Rolle spielen, sondern auch in quantitativer Forschung. Im Rahmen psychologischer Ansätze werden sie im Sinne von Haltungen, subjektiven Theorien und Überzeugungen von Lehrkräften untersucht (z. B. Wilde & Kunter, 2016), in der Sonderpädagogik auch unter dem Begriff Beliefs. Beliefs sind nach Vorschlag von Kuhl, Moser, Schäfer und Redlich (2013) ein wertebasiertes „Überzeugungssystem“ mit affektiven und kognitiven Bestandteilen, das bewusst oder unbewusst handlungswirksam ist. Beliefs, wie z. B. eine positive Einstellung zur Inklusion, sind ausschlaggebend, soll Inklusion gelingen (z. B. Moser, 2017). Allerdings spielen in der Beliefsforschung der Sonderpädagogik soziale Herkunft und Biografie der Lehrkräfte bisher kaum eine Rolle. Dagegen hält die soziologische Habitusforschung Herkunft und Biografie für die Entwicklung und Stabilität habitueller Orientierungen für entscheidend. Orientierungen und Praktiken der Schüler/ innen fordern das Verstehen von Lehrkräften im Schulalltag immer wieder aufs Neue heraus. Der Begriff Verstehen bedeutet im Sinne Bourdieus (1997, S. 786), ein „Verständnis der Existenz des anderen anzustreben, das auf der … Einsicht in die sozialen Bedingungen basiert, deren Produkt er ist“. Ihm zufolge bedarf es dazu der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexivität, die andere theoretische Perspektiven zum Verstehensbegriff nicht berücksichtigen (Schultheis, 2017). Insofern handelt es sich bei diesem Vermögen um eine Sensibilität im Sinne einer Schlüsselqualifikation für alle Berufe, die einen Bezug zu Menschen aufweisen. Sie kann als Habitussensibilität bezeichnet werden (Sander, 2014). Pädagogische Interaktion in der Schule ist auf Habitussensibilität angewiesen, wenn Lehrkräfte bei Kindern und Jugendlichen nachhaltige Lern- und Bildungsprozesse fördern wollen. Das setzt sensibles Eingehen auf die Schülerhabitus voraus. Solche Bildungsprozesse besitzen dann das Potenzial, familiale und eigene erworbene Habitus zu transformieren, wie in unserem Fall den Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit in den Habitus des Bildungsstrebens zu verändern. Bildung wird zum Auslöser von Habitustransformation (Koller, 2012). Sensibel für Habitusformen von Kindern und Jugendlichen zu sein, erfordert eine Auseinandersetzung mit ihrem Herkunftsmilieu und die gemeinsame Reflexion über ihre milieuspezifischen Erfahrungen und die darin eingelassenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Ferner die Verarbeitung vergangener Erfahrungen des Umgangs miteinander und den Erwerb von systematisiertem Wissen über Schüler/ innen. Das führt zu einer Wahrnehmungsweise, Schülerhabitus zu entschlüsseln und zu rekonstruieren. Ist nun der „wirkliche“ Habitus schwer oder nicht erschließbar, ermöglicht das Vermögen zur professionellen Habitussensibilität, dies wahrzunehmen VHN plus 7 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus und Reflexion über den eigenen und fremden Habitus auszulösen. Neue Fälle fordern dieses Vermögen und Reflexionsprozesse immer wieder auf andere Art und Weise heraus. Mithilfe von Habitussensibilität werden herkunftsbezogene Habitusdifferenzen professionell durch die Arbeit am „eigenen Fall“ im Sinne einer biografisch-habituellen Selbstreflexion (Terhart, 2011) und am „fremden Fall“ im Sinne einer kasuistisch-rekonstruktiven und sinnerschließenden Auseinandersetzung (Hummrich, Hebenstreit, Hinrichsen & Meier, 2016) reflexiv zugänglich. Die Bearbeitung von Habitusdifferenzen wird für inklusiven Unterricht wichtig, weil hier Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus teilhaben und auf Lehrkräfte höherer Bildungsgänge treffen, für die es bisher nicht erforderlich war, auf diese Gruppen bezogene Habitussensibilität zu generieren. Bei ihnen könnten Orientierungen und Praktiken unhinterfragt bleiben und persistieren. Der Zugang zu den Schüler/ innen wird durch Dispositionen und Distinktion ihres Habitus versperrt. 2.3 Schülerhabitus Werden Förder- und Risikoschüler/ innen sowie Schüler/ innen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen inkludiert, erweitert sich die Heterogenität der Schulklassen. Probleme im Umgang mit Leistungsanforderungen und sozialen Erwartungen sind voraussehbar, wird die Gestaltung des inklusiven Unterrichts nicht an ihre individuellen Bedarfe angepasst. Hinzu kommen Differenzen der Akteur/ innen in habituellem Wahrnehmen und Verstehen von Ereignissen: Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus mit Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit treffen, wie gesagt, auf Lehrkräfte und Schüler/ innen aus privilegierten Milieus mit den Habitus des Bildungsstrebens und der -exzellenz. Die folgenden Ausführungen zu den vier Habitusformen basieren auf der Typologie des Bildungshabitus 2 von Kramer und Helsper (2010). Der Habitus der Bildungsfremdheit ist durch eine große Distanz gegenüber Leistungs- und Verhaltenserwartungen der Schule gekennzeichnet. Er findet sich bei Förder- und Risikoschüler/ innen sowie Schüler/ innen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen. Distanz entsteht, weil Schüler/ innen permanent daran scheitern, diesen Erwartungen zu entsprechen. Eine lange Karriere von Misserfolgen im Leistungsbereich und massive Anpassungsschwierigkeiten kennzeichnen ihre Schullaufbahn. Zusätzlich erleben sie, dass ihre familial geprägten Interessen und Kompetenzen sowie ihre Lebensweltprobleme in der Schule keine Rolle spielen. Die negativen Erfahrungen tragen zur Entwicklung einer grundlegenden Misserfolgsorientierung im Begabungsselbstbild der Schüler/ innen und zu wenig Selbstvertrauen bei. So führt die chronisch negative Fremdstigmatisierung durch Außenstehende, Schule und andere gesellschaftliche Organisationen im Verlauf der Lebens- und Lerngeschichte zu einer fest verankerten negativen Selbststigmatisierung. Sie wenden sich von der Schule ab und verlagern ihre Interessen in den Peer- und außerschulischen Bereich. Beim Habitus der Bildungsfremdheit lassen sich drei Unterformen unterscheiden: Die erste betrifft die Gruppe, die sich, so gut es geht, an die schulischen Erwartungen anpasst. Letztlich bleibt ihnen die Schule aber fremd. Die zweite Gruppe ist durch eine offene Oppositionshaltung und Schuldistanz gekennzeichnet. Beide Gruppen haben gemeinsam, dass sie sich sehr stark an der Peergroup orientieren, wobei sich die zweite insbesondere an schuloppositionellen Peers ausrichtet. Die dritte Gruppe ist durch die Inszenierung von Hilflosigkeit, verbunden mit Resignation und Fatalismus, gekennzeichnet. VHN plus 8 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus Der Habitus der Bildungsnotwendigkeit weist ebenfalls eine distanzierende Orientierung gegenüber schulischen Leistungs- und Verhaltenserwartungen auf. Auch er kommt bei Förder- und Risikoschüler/ innen sowie Schüler/ innen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen vor. Im Unterschied zum Habitus der Bildungsfremdheit halten sich die Schüler/ innen allerdings an schulische Pflichten und sind bemüht, kein Aufsehen zu erregen. Schule und ihre Anforderungen repräsentieren die Normalität der Gesellschaft, deren Werte und Normen für sie verbindlich sind. Schule wird als Notwendigkeit akzeptiert, um nach ihrem Besuch in der gesellschaftlichen Mitte anzukommen. Um das zu erreichen, zeigen sie allerdings nur wenig Anstrengungsbereitschaft. Sie sind mit niedrigen Bildungsabschlüssen zufrieden. Den Habitus des Bildungsstrebens, der unter Real- oder Gymnasialschüler/ innen häufig anzutreffen ist, kennzeichnen eine starke Bildungsorientierung und Leistungsbereitschaft, die sich auf die Schule beziehen. Werden Leistungen schwächer, werden massive Bemühungen unternommen, sie zu verbessern. Gute Leistungen führen nicht dazu, durch eine Haltung von Souveränität und Distinktion zu beeindrucken. Dem Habitus haftet etwas Unsicheres an, etwas angestrengt Bemühtes, das von der Furcht vor Leistungsabfall begleitet wird. Der Habitus der Bildungsexzellenz enthält eine über die Schule hinausgehende tiefergehende Bildungsorientierung. Er basiert neben einer elitären schulischen Bildung auch auf kultureller Bildung und ist mit der Haltung von Souveränität und Distinktion verbunden, die das Besonderssein herauskehrt. Mit ihm verbindet sich die Attitüde, sich vom Durchschnitt abzuheben. Schulischen Herausforderungen wird mit der Pose von Selbstsicherheit zum Erfolg begegnet. Dieser Habitus kommt eher selten vor. Die Teilhabe von Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus im inklusiven Unterricht fordert also außer der Lehrkraft auch die Schülergruppen mit anderen Habitus heraus. Entscheidend für Inklusion ist es, dass die Schüler/ innen lernen, sich wechselseitig aufeinander einzulassen und habituelle Differenzen zu relativieren, bestenfalls zu überwinden. Diese Thematik kann hier nicht weiterverfolgt werden. Zusammenfassend ist zu sagen: Habituelle Differenzen der Akteur/ innen im inklusiven Unterricht können sich als Barrieren erweisen, sodass auch eine optimale personelle, materielle und räumliche Ausstattung keine hinreichende Bedingung für den Erfolg schulischer Inklusion darstellt. Warum? Dazu Kramer (2015, S. 351f.): „Für Angehörige unterprivilegierter Schichten ist die Schule aber eine Zumutung, weil deren fremde Imperative nur verweigert oder fraglos akzeptiert werden können“ und „dass Schule und das Bildungssystem, mithin die Lehrkräfte, in der pädagogischen Arbeit an der kulturellen Willkür herrschender Schichten orientiert sind und diese Ausrichtung zugleich verschleiern (z. B. durch Ideologien der Begabung und der Leistungsgerechtigkeit)“. In den fremden Imperativen der Schule und ihrer Orientierung an der herrschenden Kultur manifestieren sich der Habitus der Lehrkräfte und die des Bildungsstrebens und der -exzellenz, mit denen sich leichter ein Passungsverhältnis herstellen lässt als mit den Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit. 3 Soziale Herkunft von Lehrkräften Wenn Habitus ihren Ursprung in den sozialen Herkunftsmilieus haben, stellt sich die Frage nach Erkenntnissen zur sozialen Herkunft der Lehrkräfte. Der Lehrerberuf wird zum einen als ein Beruf des sozialen Aufstiegs gesehen VHN plus 9 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus (Neugebauer, 2013), zum anderen nicht (Cramer, 2012, S. 158ff.). Differenziert nach verschiedenen Schulformen zeigt sich: Studierende des Lehramts für das Gymnasium bzw. die Sekundarstufe II weisen die höchste soziale Herkunft auf, sind also keine Aufsteiger/ innen, sondern konsolidieren die sozioökonomische Stellung ihres Herkunftsmilieus. Die nichtgymnasialen Lehramtsstudiengänge, angehende Grund-, Haupt-, Sonder-, Berufs- und Realschullehrkräfte, verfügen dagegen über höhere Anteile von Aufsteiger/ innen. Allerdings ist auch das umstritten. So wird angehenden Grundschullehrkräften in einer älteren Untersuchung eine höhere soziale Herkunft bescheinigt (vgl. Übersichtsartikel Rothland, 2014, S. 322f.). Für die Gruppe der Studierenden des Lehramts an Sonderschulen wird eher eine mittlere bis unterprivilegierte Herkunft festgestellt (ebd.); eine neuere Studie hingegen ermittelt für diese Gruppe eine höhere sozioökonomische Stellung, die gleich der Stellung der Studierenden für das Gymnasiallehramt folgt (Cramer, 2010). Den Lehrerberuf allgemein als einen Beruf des sozialen Aufstiegs zu bezeichnen, ist folglich verfehlt. Allerdings lässt sich von einer „sozioökonomischen Disparität“ im Blick auf die einzelnen Lehrämter sprechen. Während Studierende des Gymnasiums meist aus oberen sozio-ökonomischen Herkunftsmilieus kommen, lassen sich unter denjenigen des Sonder-, Grund-/ Haupt- und Realschullehramts auch welche aus mittleren und unterprivilegierten Milieus finden (Cramer, 2010, S. 11). Diese Befunde erhärten unsere Hypothese von der herkunftsbezogenen Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit wie auch drei der folgenden Untersuchungen, die auf zusätzliche Aspekte sozialer Herkunft eingehen: Das Herkunftsprofil des Lehrerberufs, verglichen mit anderen akademischen Professionen, entspricht nach Kühne (2006) mehr dem eines Aufsteigerberufs. Ca. 25 % der Grund-/ Volksschul- und Gymnasiallehrkräfte stammen aus der Arbeiterklasse, allein Ingenieur/ innen sind mit 36,8 % noch häufiger vertreten. Dagegen kommen nur 12 % bis 18 % der Architekt/ innen, Jurist/ innen und Ärzt/ innen aus den Arbeitermilieus. Die Mehrzahl der Lehrkräfte zählt zur oberen und unteren Dienstklasse, den beiden höchsten sozialen Statusgruppen nach dem EGP-Klassenschema. Unterschiedliche soziale Herkunftseffekte lassen sich zwischen den Lehrkräften der Grund- und Volksschule sowie des Gymnasiums nicht ermitteln, sodass bei der Mehrzahl von einer Reproduktion ihrer sozialen Klassenzugehörigkeit auszugehen ist. Auf dem Hintergrund von Bourdieus Annahme, Schule würde nach sozialen Kriterien diskriminieren, wird vermutet, dass der soziale Aufstieg eines Viertels der Lehrkräfte ein möglicher Grund für ihr Abwehrverhalten nach unten, ihr „Distanz- und Abwehrhabitus“ (ebd.), ist. Die Lehrkräfte grenzen sich von unteren Statusgruppen ab, benachteiligen Kinder unterprivilegierter Milieus und reproduzieren dadurch soziale Ungleichheit. Nach dem EGP-Klassenschema zählen auch Kampa, Kunter, Maaz und Baumert (2011) Lehrkräfte generell zur unteren Dienstklasse, der zweithöchsten Statusgruppe. Wie ihre Studie an Mathematiklehrkräften in neunten Klassen der Sekundarstufe I (Haupt-, Real-, Mittel-, Gesamtschulen, Gymnasien) zeigt, kann von einer Disparität sozialer Herkunft der Lehrergruppen keine Rede sein. Die Ergebnisse weisen Bourdieus These von der Diskrepanz zwischen der sozioökonomisch günstigeren Herkunft der Lehrkräfte und der ungünstigeren der Schüler/ innen zurück. Weder die Behauptung von der Schule als Mittelschichtinstitution lässt sich belegen noch der Einfluss herkunftsbedingter Unterschiede auf professionelle Überzeugungen. Die Autor/ innen weisen jedoch darauf hin, dass entsprechend der Schulform das Ausmaß der Diskrepanz zwischen der sozioökonomischen Herkunft von Lehrkräften und Schüler/ innen variiert: Die aus privilegierten Milieus stammenden Lehr- VHN plus 10 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus kräfte treffen in Haupt- und Gesamtschule in der Regel auf Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus, im Gymnasium aus „unterschiedlichen“ Milieus. Im Unterschied zur vorangegangenen Untersuchung ist die These von der Disparität sozialer Herkunft zukünftiger Lehrkräfte nach Cramer (2012, S. 169ff.) unstrittig. Sozioökonomische Disparität wird mithilfe des unterschiedlichen Ausmaßes von kulturellem und sozialem Kapital des Herkunftsmilieus gemessen. Kulturelles Kapital wird als Teilhabe an der bürgerlichen Kultur verstanden. Hochsignifikant ist der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Stellung und kulturellem Kapital. Während bei den Studierenden des Lehramts an Gymnasien die meisten kulturellen Ressourcen im Verlauf ihrer familiären Sozialisation vorhanden sind, nehmen sie bei den Studierenden des Sonder-, Grund-/ Hauptschullehramts und des Realschullehramts stetig ab. Beim sozialen Kapital - dazu zählt der Austausch in Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft - ergibt sich ein anderes Bild. Lehramtsstudierende für das Gymnasium und die Sonderschule können auf ein vergleichbares Ausmaß an sozialen Ressourcen zurückgreifen, im Anschluss folgen Studierende des Lehramts an Real- und Grund-/ Hauptschulen. Fazit: Die Frage nach dem Einfluss des biografisch erworbenen Habitus von Lehrkräften auf das Handeln in Schule und Unterricht ist wenig erforscht (vgl. Rothland, 2014). Die Behauptung, dass der Lehrerberuf generell ein Beruf sozialen Aufstiegs ist, kann zurückgewiesen werden. Viel spricht für die These von der sozioökonomischen Disparität der Lehrämter: Lehrkräfte an Gymnasien kommen vermehrt aus oberen Herkunftsmilieus, Lehrkräfte in anderen Bildungsgängen zwar auch, stammen aber häufiger aus mittleren und unteren Herkunftsmilieus. Für sie trifft die These vom Lehrerberuf als Aufsteigerberuf zu. 4 Lehrerhabitusmuster Folgende Analyse unternimmt den Versuch, Gemeinsamkeiten der aus unterschiedlichen Datenquellen gewonnenen Habitus herauszuarbeiten. Die in den Kontext inklusiver Schulbildung übertragenen bildungsbezogenen Orientierungen der Lehrkräfte werden entsprechend der Fragestellung daraufhin ausgedeutet, ob Differenzen von Lehrerhabitus und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit zur Passung gebracht werden können. Es wird diskutiert, welchen Einfluss dies auf ein erweitertes Wahrnehmen und Verstehen von habituell bedingten differenten Prozessen im inklusiven Unterricht hat und ob sich Möglichkeiten zur Habitustransformation ergeben. Das Thema schulische Inklusion spielt im Datenmaterial keine Rolle, weil es vor dem Inkrafttreten der UN-BRK erhoben wurde. Ausgangspunkt der Studie von Bremer und Lange-Vester (2014) zum Lehrerhabitus ist das von Michael Vester evidenzbasierte Modell zu sozialen Milieus mit drei vertikalen Unterscheidungen - obere bürgerliche Milieus, respektable Volks- und Arbeitnehmermilieus sowie unterprivilegierte Volksmilieus - und deren jeweils horizontalen gesellschaftlichen Differenzierungen. In folgenden Ausführungen spielen horizontal das bildungsbürgerliche und gehobene Dienstleistungsmilieu der oberen Milieus eine Rolle, bei den Arbeitnehmermilieus das leistungsorientierte sowie das moderne und traditionelle kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu. Dieses Modell bildet die Folie, auf der die Muster der Lehrkräfte abgetragen werden (Vester, 2012, zit. nach Bremer & Lange- Vester, 2014). Die Studie eröffnet ein Spektrum von herkunftsbezogenen Habitusmustern. Unter Habitusmustern verstehen wir die Zusammenführung verwandter habitueller Orientierungen und VHN plus 11 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus Praktiken. Sie kommen bei Lehrkräften in allen Schulformen, in einer einzigen Form oder innerhalb einer Einzelschule vor. Die Muster haben heuristischen Charakter und lassen keine Typenbildung aufgrund der geringen Fallzahl zu. Datenbasis sind Befragungen von angehenden Lehrkräften an Gymnasien und berufsbildenden Schulen sowie Gruppengespräche mit Lehrkräften und Schulleitungen unterschiedlicher Schulformen (Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2014). Sie wurden „habitushermeneutisch“ ausgewertet. Im Vordergrund steht die Untersuchung zum Zusammenhang von Habitusmustern und ihrer Einbindung in verschiedene soziale Herkunftsmilieus und die Frage nach der Passung von Lehrer- und Schülerhabitus. Professionstheoretisch ist diese Forschung dem berufsbiografischen Ansatz im Sinne Terharts (2011) zuzuordnen. Eine weitere Studie zum Habitus eines Schulleiters und einer Lehrerin an einer Hauptschule sowie eines Schulleiters an einer Sekundarschule legt Helsper (2018 a) vor. Auch hier werden vor dem Hintergrund von Vesters Modell Habitusmuster an Einzelfällen gewonnen. Sie finden sich in ähnlicher Form in der ersten Studie, bekräftigen die dort ermittelten Muster und lassen die These wagen, dass sie über die untersuchten Einzelfälle hinaus auf andere Lehrkräfte übertragbar sind. Die Studie steht in der von Helsper (2006) weiterentwickelten strukturtheoretischen Perspektive pädagogischer Professionsforschung. 4.1 Habitusmuster 1 Ein erstes Muster lässt sich bei Lehrkräften aus dem bildungsbürgerlichen Milieu ausmachen (vgl. oben), das einer reformpädagogischen Fraktion zugerechnet wird. Für diese Lehrkräfte sind anspruchsvolle Bildungsideale leitend, die auf Emanzipation, Selbstreflexion und Integration zielen und nach ihrer Auffassung am ehesten in Gesamtschulen realisiert werden. Sie sprechen sich gegen „Förderschulen für sozial-emotional auffällige Kinder mit Lernschwierigkeiten“ (Bremer & Lange-Vester, 2014, S. 73) aus, setzen sich für Bildungsreformen ein und sind teilweise politisch tätig. Das Muster ist durch bildungspolitische, pädagogische und fachwissenschaftliche Orientierungen gekennzeichnet. Bemerkenswert ist der Befund, dass bei diesem Muster „in der Praxis durchaus eine gewisse Distanz zu den Schülern und Schülerinnen insbesondere auch unterer Milieus deutlich“ (ebd.) wird. Habitusmuster 1 kann im Hinblick auf die Lehrkräfte des bildungsbürgerlichen Milieus im Zusammenhang mit inklusiver Bildung wie folgt ausgelegt werden: Das Muster der reformpädagogischen Gruppe enthält Orientierungen, die auf die Auflösung niedriger Bildungsgänge mit Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus und damit auf eine inklusive Schule zielen. Diese reformpädagogische Haltung lässt eine positive Einstellung und Bereitschaft zu inklusivem Unterricht erkennen, die sich als bedeutsame Prädiktoren für dessen Erfolg herausgestellt haben (z. B. Moser, Kuhl, Schäfer & Redlich, 2012). Es ist von erheblichen Anstrengungen zur Herstellung der Passung zwischen Lehrerhabitus und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit auszugehen. Dafür sind die Zielperspektiven hilfreich, die Schule nach Meinung der Lehrkräfte verfolgen sollte: Emanzipation, Selbstreflexion und Integration. Sie lassen erwarten, dass die Lehrkräfte didaktisch-methodische Strukturen im inklusiven Unterricht generieren, die selbstbestimmtes und selbstreflexives Lernen der Schüler/ innen fördern und Möglichkeiten zur Habitustransformation eröffnen. Und dass Anstrengungen gemacht werden, sich mit habituell bedingten exkludierenden Prozessen beim Lernen pädagogisch auseinanderzusetzen, um Integration in Schule und Gesellschaft zu ermöglichen. VHN plus 12 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus Vor diesem Hintergrund kann von einem Interesse der Lehrkräfte ausgegangen werden, auftretenden Habitusdifferenzen im Unterricht auf den Grund zu gehen. Die Arbeit am Lehrerhabitus als Selbstreflexion über Biografie und Habitus sowie die Arbeit am Schülerhabitus als sinnerschließende Fallrekonstruktion werden erforderlich, wodurch sich nicht zuletzt auch Habitussensibilität erweitern lässt (vgl. Kap 2.2). Schließlich bringt die Befürwortung der Gesamtschule die Erwartung von Lehrkräften zum Ausdruck, alle Schüler/ innen gemeinsam zu unterrichten. Distinktionshaltungen, wie sie das mehrgliedrige Schulsystem erzeugt, sind weniger zu erwarten. Diese Orientierung macht eine positive Haltung zur Inklusion deutlich und ist mit dem bildungspolitischen Interesse verbunden, mehr soziale Chancengleichheit herzustellen, die auch die inklusive Schule verfolgt. Insofern korrespondieren die hier ermittelten bildungspolitischen Orientierungen mit normativen Vorstellungen inklusiver Pädagogik und ihrer Ablehnung gegenüber Förderschulen, die für Chancenungleichheit und Diskriminierung des Bildungssystems stehen. Während die bisherige Analyse des Habitusmusters für die Einführung einer inklusiven Schule spricht, ist Skepsis hinsichtlich des Befunds von einer „gewissen Distanz“ zu Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus angebracht. Hier schlägt der herkunftsbezogene Habitus der Lehrkräfte aus dem bildungsbürgerlichen Milieu durch und versperrt ihnen möglicherweise den Zugang zum Welt- und Selbstverständnis dieser Schüler/ innen. Inwieweit dadurch die Bemühungen der Lehrkräfte, sich Zugang zu ihnen zu erschließen, relativiert werden, ist abhängig von einer zu entwickelnden Haltung, die den habituellen politisch-pädagogischen Orientierungen mehr Gewicht beimisst als der Distinktionshaltung, die diesen widerspricht. 4.2 Habitusmuster 2 Bremer und Lange-Vester (2014) ermitteln ein zweites Muster von Lehrkräften, die aus dem horizontal verorteten leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu des respektablen Volks- und Arbeitnehmermilieus stammen. Ziele wie Selbstbestimmung der Schüler/ innen sind für sie entscheidend, verbunden mit der Erwartung einer hohen Leistungsbereitschaft. Allein dadurch gelang ihnen, den Lehrkräften, der Bildungsaufstieg aus ihrem Herkunftsmilieu. Sie stellen an die Schüler/ innen sehr hohe Anforderungen, vergleichbar denen, die sie selbst als Schüler/ innen bewältigen mussten. Im Unterschied zur reformpädagogischen Fraktion pflegen sie allerdings engere soziale Beziehungen zu Schüler/ innen. Das manifestiert sich in ihrem Verständnis und ihrer Zuwendung sowie im Interesse, die Lebenstüchtigkeit der Schüler/ innen zu fördern. Diese schulischen und unterrichtlichen Orientierungen verweisen auf eine Auffassung von ihrer Berufsrolle als Pädagog/ innen. Diesem zweiten Muster lässt sich in der Studie von Helsper (2018 a) der Habitus von einem Schulleiter und einer Lehrerin an einer Hauptschule zuordnen. Die Berufswahl des Schulleiters, Hauptschullehrer zu werden, geht lebensgeschichtlich auf die Erfahrung einer massiven öffentlichen Diskriminierung, ein Arbeiterkind zu sein, im Gymnasium zurück. Sein Vater ging „zornesbebend“ in die Schule und setzte sich für sein gedemütigtes Kind ein. Anschließend schickte er es auf ein anderes Gymnasium. Aufgrund seiner Herkunft aus dem leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu entschied sich der Schulleiter, an einer Hauptschule zu arbeiten. Er ist den Schüler/ innen gegenüber positiv aufgeschlossen, weil er Anteile seines Selbst wiedererkennt. So wie er stammen die Schüler/ innen aus Arbeiter- und unterprivilegierten Milieus; wie er sind sie Diskriminierung und Stigmatisierung VHN plus 13 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus ausgesetzt. Insofern fällt es ihm nicht schwer, Zugang zu ihnen zu finden, Verständnis aufzubringen und positive Beziehungen aufzubauen. Er versteht sich als Interessenvertreter für unterprivilegierte Schüler/ innen, was an den ehemaligen väterlichen Einsatz für ihn erinnert. Diese habituellen Orientierungen manifestieren sich nicht zuletzt darin, Lehrkräfte für seine Schule zu gewinnen, die Verständnis und Einfühlungsvermögen gegenüber Schüler/ innen zeigen, und in der Lage sind, „passförmige Arbeitsbündnisse“ (ebd., S. 111) herzustellen. Eine Lehrerin an der Schule entspricht seinen Erwartungen in besonderer Weise. Sie wird für sehr kompetent gehalten, einen passförmigen Umgang mit den Schüler/ innen zu pflegen, weil sie sich nicht nur für die Vermittlung von Wissen und Kompetenz im Unterricht zuständig fühlt, sondern sich auch der Lebensprobleme ihrer Schüler/ innen annimmt. Beispiel: Als ein Mädchen ihrer Klasse von der Mutter aus der Wohnung hinausgeworfen werden soll, hilft sie mit konstruktiven Vorschlägen für das anstehende Gespräch mit der Mutter. Durch Nähe, Vertrauen und Unterstützung versteht es die Lehrerin, passförmige Beziehungen zu Schüler/ innen herzustellen. Sie zeigt ein hohes Maß an Habitussensibilität, die sich auch in der Gestaltung des Unterrichts niederschlägt: Es dominiert eine Unterstützungs- und Anerkennungskultur, die Tadel und Abwertung vermeidet. So gelingt der Lehrerin - Helsper ordnet ihren Habitus dem „liberal-intellektuellen“ Milieu zu (ebd., S. 114), das dem bildungsbürgerlichen Milieu in Vesters Modell entspricht (vgl. oben) - eine erfolgreiche Herstellung von passförmigen Arbeitsbündnissen mit Einzelnen und der gesamten Klasse. Habitusmuster 2 lässt sich im Hinblick auf die Lehrkräfte aus dem leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu im Zusammenhang mit inklusiver Bildung folgendermaßen ausdeuten: Muster 2 hat eine besondere Bedeutung für die Herstellung von Passungsverhältnissen mit dem Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit im inklusiven Unterricht. Wie die Rekonstruktion zeigt, gelingt Lehrkräften und Schulleitern aus diesem Herkunftsmilieu ein leichterer Zugang zu Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus. Dieser Befund widerspricht der obigen Hypothese von Kühne (2006), der den sozialen Aufstieg von Lehrkräften als Grund für einen „Distanz- und Abwehrhabitus“ nach unten sieht (vgl. Kap. 3). Vorliegendes Muster dokumentiert: Lehrkräfte und Schulleiter sind angesichts eigener Herkunftserfahrungen besonders ambitioniert und versuchen, durch enge Beziehungen, hohe Leistungserwartung, positive Aufgeschlossenheit und gleichzeitige Unterstützung den Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit in den des Bildungsstrebens zu transformieren. Damit werden Bildungschancen ermöglicht, die soziale Aufstiege eröffnen. Belege für die Validität dieses Musters werden im Weiteren geliefert. Das ambitionierte Verhalten der Lehrkräfte lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass sie sich verstärkt um das Verstehen von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern der Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus bemühen. Treten Misserfolge in inklusivem Unterricht auf, werden Scheitern, mangelndes Interesse und wenig Motivation nicht auf geringe Intelligenz und Begabung zurückgeführt, sondern auf die eigene Unterrichtsgestaltung, z. B. zu abstrakte oder nicht gut aufbereitete Lerngegenstände. Das eröffnet den Blick für die Einbeziehung von milieusensiblen Inhalten und Lerngegenständen mit praktischen Bezügen und subjektiven Interessen der Schüler/ innen. Weiter sprechen für das verstärkte Bemühen um Verstehen die Ziele der Förderung von Selbstbestimmung und Gestaltung engerer Beziehungen, das Verständnis und die Zuwen- VHN plus 14 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus dung sowie die Erziehung zur Lebenstüchtigkeit der Schüler/ innen - übrigens auch Kernelemente inklusiver Pädagogik. Mithilfe der positiven Aufgeschlossenheit des Schulleiters sowie der Zuwendung der Lehrkräfte verbinden sich Akzeptanz und Sympathie gegenüber Schüler/ innen aus unterprivilegierten Herkunftsmilieus, die ihnen sonst nicht zuteil werden (vgl. Koch, 2007). Der stellvertretende Einsatz des Schulleiters für die Interessen der Schüler/ innen verleiht ihnen eine Stimme, die selber sprachlos sind. Darin dokumentiert sich eine advokatorische Haltung, die auch das Verständnis und die Zuwendung der Lehrkräfte erwarten lassen. Diese Orientierungen manifestieren sich differenzierter am Beispiel des oben dargestellten Verhaltens der Lehrerin, die im Unterschied zu den anderen Lehrkräften aus bildungsbürgerlichem Milieu kommt. Es zeigt sich, dass es keines gleichen Herkunftsmilieus bedarf, sich habitussensibel den Lebensproblemen der Schüler/ innen zu widmen. Die auf Feingefühl und Einfühlungsvermögen basierende Unterstützungs- und Anerkennungskultur verbunden mit einem milieusensiblen Unterricht mit dialogischer Ausrichtung entspricht den Erwartungen an einen guten inklusiven Unterricht. Das Habitusmuster 2 würde der „Kultur der Unterklassen“ in der inklusiven Schule mehr Anerkennung verschaffen (Lange-Vester, 2015). Es kann Grundlage inklusionspädagogischer Konzepte sein (z. B. Reich, 2014), wenn es etwa um habitussensibles Wahrnehmen und Verstehen von Förderbedarfen bei der Erstellung von Förderplänen und für wirksame individuelle Förderung geht. Um die Potenziale der Schüler/ innen auszuschöpfen, legen die Orientierungen ferner das Zustandekommen einer erfolgreichen Kooperation zwischen Lehrkräften der allgemeinen Schule und Sonderpädagog/ innen nahe sowie eine nachhaltige Beratung und Arbeit mit Eltern aus unterprivilegierten Milieus. Nicht zuletzt wird deutlich: Orientierungen, die dominant sonderpädagogischen Professionen zugeschrieben werden, sind bei anderen Lehrkräften ebenso bedeutsam. Daneben enthält das Habitusmuster 2 eine Orientierung, die inklusionspädagogischen Belangen nicht entspricht, und zwar die hohen schulischen Leistungserwartungen. Für Lehrkräfte mit diesen Erwartungen tut sich angesichts der schwachen Leistungen der Schüler/ innen mit den Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit ein Problem auf: Auf der einen Seite zeigen sie Verständnis und Zuwendung, auf der anderen Seite konfrontieren sie die Schüler/ innen mit einem zu hohen Leistungsanspruch. Infolge dieses habituellen Anspruchs schaffen sie immer wieder Überforderungssituationen, die die Schüler/ innen mit verweigernden Reaktionen quittieren, auf die die Lehrkräfte ihrerseits frustriert reagieren. Ein sich wechselseitig verstärkender Kreislauf wird ausgelöst. Angesichts der Habitussensibilität dieser Lehrkräfte kann der Kreislauf unterbrochen werden. Er wird als unproduktiv wahrgenommen und löst die Arbeit am eigenen und fremden Fall aus. Dadurch ist ein Ansatzpunkt zur Bearbeitung der eigenen Haltung gegeben, trotz des Beharrungsvermögens des Habitus den hohen Leistungsanspruch auf längere Sicht hin zu revidieren (vgl. Kap. 3). Dieser Prozess wird unterstützt, wenn Lehrkräfte der im Muster 2 implizierten Schülerorientierung mehr Bedeutung beimessen. Wenn Bildung vom Einzelnen aus gedacht und gestaltet wird, muss sich außerdem die bisherige schulische Bewertung verändern. Die übliche an der sozialen Bezugsnorm orientierte Bewertung bietet sich bei individualisiertem Lernen nicht mehr an. Eine individuelle Leistungsbewertung wird erforderlich. Nicht zuletzt geht damit die Entwicklung eines anderen Verständnisses von Leistung im inklusiven Unterricht einher. VHN plus 15 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus 4.3 Fazit Habitusmuster 1 von Lehrkräften aus dem bildungsbürgerlichen Milieu bildet mit seinen Orientierungen hinsichtlich Emanzipation, Selbstreflexion und Integration, des Eintretens für die Gesamtschule und der Ablehnung von bestimmten Förderschulen günstige Voraussetzungen für die Herstellung einer Passung zwischen Lehrerhabitus und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit. Dieses Muster erleichtert das Verstehen von habituell bedingten differenten Prozessen im inklusiven Unterricht und eine mögliche Transformation der Schülerhabitus. Gleichzeitig fördert es soziale Chancengleichheit. Unerwähnt bleibt das Bemühen, engere Beziehungen zur Schülerschaft herzustellen, die gerade für die Schüler/ innen mit den Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit wichtig sind, will man sie für unterrichtliche Belange aufschließen. Hier zeigt sich eine gewisse Distanz der Lehrkräfte, die den pädagogischen Umgang mit den Schüler/ innen erschwert, sofern keine Arbeit am eigenen und fremden Fall stattfindet. Dagegen weist Habitusmuster 2 von Lehrkräften und Schulleitern aus dem leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu das Herstellen engerer Beziehungen zu den Schüler/ innen neben Orientierungen wie Selbstbestimmung, hohe Leistungserwartung, advokatorisches Handeln, Unterstützung und Anerkennung auf. Dieses Muster zeigt ausgeprägte Züge von Habitussensibilität der Lehrkräfte. Es trägt zum Wahrnehmen und Verstehen habituell bedingter differenter Prozesse im inklusiven Unterricht bei und fördert die Herstellung von Passungen zwischen Lehrer- und Schülerhabitus durch eine Unterstützungs- und Anerkennungskultur. Dadurch werden Gelegenheitsbedingungen für die Transformation des Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit in den Habitus des Bildungsstrebens hergestellt. An die Orientierungen der Muster 1 und 2 sollten habitusreflexive Beratung (Vogel, 2019), Fort- und Weiterbildungen anknüpfen, um eine intensive Arbeit und Reflexion am eigenen und fremden Fall anzuregen. Selbstreflexion über den eigenen Lehrerhabitus und sinnerschließende Rekonstruktionen von Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit stehen dabei im Vordergrund. Die implizite Trägheit des Habitus lässt einen längerfristigen Prozess erwarten, sollen sich habituelle Orientierungen verändern. 4.4 Habitusmuster 3 Das dritte Habitusmuster von Lehrkräften aus einem der respektablen Volks- und Arbeitnehmermilieus, dem modernen und traditionellen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu (vgl. oben), ist durch ein patriarchalisches Prinzip gekennzeichnet (Bremer & Lange-Vester, 2014). Die dominante Vorstellung der Pflichterfüllung als Lehrkraft ist mit der Erwartung an die Schüler/ innen verknüpft, ihre Autorität zu respektieren. Veränderungen in der Schule sind unerwünscht. Hierarchie und Bildungsungleichheit im Schulsystem werden auf natürliche Begabungsunterschiede zurückgeführt. Dies drückt sich im Verhalten einer Lehrkraft aus, die sich für die Einrichtung einer Förderschule für Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten einsetzt, um weniger begabte Schüler/ innen von der eigenen Schule zu entfernen. Sie gehörten nicht hierher, so die Begründung. Die dem patriarchalischen Prinzip implizite Hierarchievorstellung von oben und unten entspricht der Mehrgliedrigkeit mit höheren und niedrigen segregierenden Schulformen. Dieses dritte Muster wird in Helspers Studie (2018 a) durch die Orientierungen des Leiters einer Sekundarschule in einer ostdeutschen Kleinstadt mit hoher Arbeitslosigkeit bestätigt und differenziert. Das Habitusmuster des in der DDR sozialisierten Schulleiters repräsentiert VHN plus 16 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus grundlegende Orientierungen des „kleinbürgerlich-konventionellen Milieus“ (ebd., S. 117), das dem traditionellen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu in Vesters Modell entspricht (vgl. oben). Die Schule wird von Jugendlichen besucht, die nach der Wendezeit in prekären Verhältnissen und unter Bedingungen von Individualisierung und gesellschaftlicher Pluralisierung aufgewachsen sind. Der Schulleiter hat rigide Ordnungsvorstellungen, deren Einhaltung durch Sanktionen kontrolliert wird. Dazu bieten ihm Verhalten, Selbstdarstellung und äußere Erscheinung von Schüler/ innen und Lehrkräften genügend Anlass. Sein Amt als Autoritätsperson versteht er so, keine Diskussion zu dulden, wenn er etwas anordnet. Machtausübung durch Sanktion und Kontrolle manifestiert eine „paternalistische, hierarchie- und befehlsorientierte Orientierung“ (Helsper, 2018 a, S. 116). Sie kennzeichnet den Kern eines autoritären Habitusmusters. Der Schulleiter sichert seine Macht durch die Etablierung einer hierarchischen Ordnung mit klar festgelegten Rollen von Befehlsgebern und Befehlsempfängern, wehrt Gefahren ab, die die normative Ordnung in der Schule destabilisieren, und prägt dadurch Klima und Kultur der Schule. Teile des Kollegiums begrüßen dies, weil sie keine weitere Verantwortung übernehmen müssen. Im Blick auf Lehrkräfte und Schulleiter aus dem modernen und traditionellen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu lässt sich Habitusmuster 3 im Zusammenhang mit inklusiver Bildung folgendermaßen ausdeuten: Lehrkräfte und Schulleiter mit autoritärem Habitusmuster werden keine Versuche unternehmen, Passungen mit dem Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit herzustellen. Allein das Beispiel zum Engagement für den Aufbau einer Förderschule im Fallbeispiel von Bremer & Lange-Vester macht dies deutlich. Diese Schüler/ innen gehören „naturgemäß“ in eine nächstniedrige Schulform. Solche separierenden Selektionsbemühungen konterkarieren inklusive Bemühungen. Die hier ermittelte Orientierung der Lehrkräfte am patriarchalischen Prinzip mit der Forderung nach Respekt und Anerkennung ihrer Autorität kann auf den ersten Blick pädagogisch sinnvoll sein, wenn sie eine Reaktion auf das desorientierte Verhalten eines Teils der heranwachsenden Generation ist, das durch anomische Strukturen der Gesellschaft erzeugt wird. In Ostdeutschland traten infolge der Transformation der DDR nach 1990 diese Strukturen noch viel massiver auf als in Westdeutschland. Anomie im Sinne Durkheims lässt besonders häufig Orientierungslosigkeit in Familien mit niedrigem Bildungsniveau entstehen, die bei einem Teil der dort Heranwachsenden zu einem Bedürfnis nach haltgebender Sicherheit und Kontrolle führt (Heitmeyer, 2018). Das kann von den auf Autorität pochenden Lehrkräften bedient werden, allerdings mit dem Risiko der Förderung „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“: Gehorsame Heranwachsende werten noch Schwächere ab, mit denen sie so umgehen, wie mit ihnen selbst umgegangen wurde und wird. Diese Pädagogik fördert die Abwertung der Ungleichwertigen (ebd.) und ist unvereinbar mit dem Postulat der Gleichwertigkeit der inklusiven Bildung. Zu Muster 3 gehören weiter extrem rigide Ordnungsvorstellungen des Schulleiters im Fallbeispiel von Helsper. Sie zielen auf kruden Machterhalt und Kontrolle und basieren auf einem engen Normalitätsbegriff. Abweichendes Verhalten, das Schüler/ innen der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit bei Herausforderungen im Unterricht zeigen, wird nicht als Signal der Furcht vor Misserfolg, Überforderung oder als Hilfeersuchen wahrgenommen, sondern als Versuch, die Unterrichtsordnung zu destabilisieren. Macht- und Kontrollverlust drohen. Diese Befürchtungen sind Ausdruck für ein Gefühl der Bedrohung, Kontrolle über die soziale Ordnung zu verlieren. Parallelen ergeben sich zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen, wenn die Wahr- VHN plus 17 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus nehmung eines vermeintlich eingetretenen Kontrollverlusts zu Vorschlägen führt, die „oft auf Überwachung, kompromissloses Durchgreifen (‚law and order‘) und die Festigung von Hierarchien ausgerichtet sind - letztlich auf eine geschlossene Gesellschaft…“ (Heitmeyer, 2018, S. 20). Dieses Muster mit korrespondierenden starren und engen Normalitätsvorstellungen bereitet den Boden für Konformität und Unterwerfung der Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus vor. Die Identifikation mit Zielen und Inhalten demokratischer Schulbildung und die Entwicklung von bildungsbezogenen Interessen werden verfehlt. Die Schüler/ innen entfremden sich von den Lehrkräften, distanzieren sich von der Schule als Institution der gesellschaftlichen Wertevermittlung oder gehen in die Opposition (vgl. Kap. 2.3). Daher kann angenommen werden, dass Lehrkräfte und Schulleiter mit autoritärem Habitusmuster die Idee von einer inklusiven Schule für töricht halten. Bemühungen, Habitusdifferenzen im inklusiven Unterricht zu verstehen, sind nicht zu erwarten. Dafür mangelt es ihnen prinzipiell an positiver Einstellung und Bereitschaft. Scheitern und Versagen im Kontext traditioneller Unterrichtsgestaltung werden dem Einzelnen zugeschrieben, Lernschwierigkeiten naturalisiert und auf geringe Intelligenz und Begabung zurückgeführt. Aus ihrer Sicht behindern Schüler/ innen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten andere beim Lernen und lernen besser in homogenen Lerngruppen in Förderschulen, obwohl unzählige Forschungen zeigen: Weder die Hypothese von der Behinderung der anderen beim Lernen noch die Homogenitätsthese vom besseren Lernen lassen sich empirisch belegen (z. B. Ruijs & Peetsma, 2009). Nicht zuletzt sind Förderschulen aufgrund des Diskriminierungsverbots und Teilhabegebots der UN-BRK nicht zu begründen. Schule wird damit zur Reproduktionsagentur für soziale Ungleichheit. 4.5 Habitusmuster 4 Zeigte sich bei Habitusmuster 1 eine „gewisse Distanz“ zu Schüler/ innen mit den Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit (Bremer & Lange-Vester, 2014), ist die Distanz bei Habitusmuster 4 besonders ausgeprägt. Die Lehrkraft kommt aus einem der oberen bürgerlichen Milieus, dem gehobenen Dienstleistungsmilieu, und schließt an ihre Eltern als Bildungsaufsteiger an. Sie steht Schüler/ innen mit Schwierigkeiten bei der Aufgabenbewältigung verständnislos gegenüber. Automatisch erwartet sie Selbstständigkeit und Selbstvertrauen. Sind diese nicht vorhanden, sieht sie es nicht als ihre Aufgabe, den Schüler/ innen Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Ihr Muster enthält keine pädagogischen Orientierungen, es ist allein durch Fachkompetenz, traditionelles Leistungs- und Konkurrenzprinzip geprägt. Im Blick auf die Lehrkraft aus dem gehobenen Dienstleistungsmilieu lässt sich Habitusmuster 4 im Zusammenhang mit inklusiver Bildung folgendermaßen ausdeuten: Das Muster zeigt deutliche Züge sozialer Distanz gegenüber Schüler/ innen aus unterprivilegierten Milieus. Es konterkariert inklusive Ideen und Bemühungen. Weder wird Bereitschaft signalisiert, Passungen zwischen Lehrerhabitus und Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit herzustellen, noch werden ansatzweise Bemühungen zum Verstehen von Habitusdifferenzen gezeigt. Überspitzt lässt sich sagen, die Lehrkraft unterrichtet keine Schüler/ innen, sondern Fächer. Ihre Haltung der Distinktion und Abwehr blockiert jeden Versuch zur kritischen Selbstreflexion. Die ausschließliche Orientierung am Leistungs- und Konkurrenzprinzip hängt Schüler/ innen der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit ab, weil keine pädagogische Hilfe und Unterstützung erfolgt. Dieser Lehrerhabitus steht für ein segregierendes Schulsystem und stabilisiert die Reproduktion sozialer Ungleichheit. VHN plus 18 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus 4.6 Fazit Die inklusive Schule ist eine demokratische Schule. Sie setzt auf Anerkennung, Gleichwertigkeit jedes Einzelnen und Solidarität. Einer solchen Schule widersprechen die mit Habitusmuster 3 und 4 verbundenen autoritären, auf Segregation, Selektion, Konkurrenz und Distinktion basierenden Orientierungen. Die Wahrnehmung von Habitusdifferenzen wird zum Anlass, Schüler/ innen loszuwerden. Die Lösung pädagogischer Probleme wird hier einem Schulsystem überantwortet und mitgetragen, das dafür sorgt, dass „die Leistungsstarken von den Leistungsschwachen getrennt werden“ und „keine Mäßigung des eskalierenden Wettkampfs um Bildungs- und Berufschancen“ (Haeberlin, 2019, S. 3f.) durch Inklusion abzusehen ist. Muster 3 und 4 führen zum Scheitern inklusiver Bildung. Habitusreflexive Beratung, Fort- und Weiterbildung sollten bei diesen Mustern eine nachhaltige Arbeit und Reflexion am eigenen und fremden Fall anregen (Vogel, 2019). Selbstreflexion über eigene habituelle Prägungen, über Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster sowie sinnerschließende Rekonstruktionen von Schülerhabitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit stellen hier den Schwerpunkt dar. Nur ein langer und begleiteter Prozess wird aufgrund der relativen Stabilität des Habitus Veränderungen habitueller Orientierungen einleiten können. 5 Schluss Die vier dargestellten Habitusmuster sind an wenigen Fällen gewonnen worden. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, dass sich vergleichbare, zumindest ähnliche Formen dieser Muster auch bei anderen Lehrkräften finden: Auf der einen Seite Muster 1 und 2 mit den Orientierungen an Emanzipation und Integration sowie einer hohen Leistungserwartung, dem Bemühen der Herstellung enger Beziehung und Verständnis, auf der anderen Seite Muster 3 und 4 mit einer paternalistischen und segregierenden Orientierung sowie einer starken Distinktions- und leistungskonkurrenten Haltung. Wie die Analyse zeigt, werden mit diesen Mustern herkunftsbezogene Habitusdifferenzen von Lehrkräften und Schüler/ innen ganz unterschiedlich bewältigt. Mit den beiden ersten eröffnen sich z. B. Möglichkeiten für eine Transformation der Habitus der Bildungsfremdheit und -notwendigkeit, durch die beiden anderen Muster werden sie stabilisiert. Sollte sich eine vergleichbare Zweiteilung an Habitusmustern in weiteren Untersuchungen abzeichnen, hat unsere Analyse erste wichtige Hinweise für eine positive Einstellung und Bereitschaft der Lehrkräfte, inklusiven Unterricht zu gestalten, ergeben, ebenso wie für Widerstände und Gründe, traditionellen Unterricht aufrechtzuerhalten. Habitusforschung als notwendige Ergänzung der Professionalisierung in der Lehrerbildung ist wichtig. Sie bezieht sich auf Aspekte, die im Rahmen der Forschung zu Lehrerüberzeugungen zu wenig berücksichtigt werden, jedoch erhebliche Bedeutung für die Herausbildung eines wissenschaftlich-reflexiven Habitus haben. Bedenkt man, dass Lehramtsstudierende einst als Schüler/ innen „fest verankerte Überzeugungen über den Schulbetrieb entwickelt“ haben (Wilde & Kunter, 2016, S. 308), die bis in den späteren Berufsalltag Bestand haben können, werden sie nur durch eine reflexive selbstbezügliche Auseinandersetzung bearbeitbar. Die bisher vorliegenden Habitusstudien fokussieren Lehrkräfte im Primar- und Sekundarbereich und seine Schulleiter/ innen. Im Hinblick auf inklusiven Unterricht geraten andere Gruppen wie Sonderpädagog/ innen in den Blick. Auch sind domänenspezifische Habitusformen zu untersuchen. Die obige Analyse bietet erste Anhaltspunkte, Hypothesen zu Habitusmustern verschiedener Gruppen von Lehrkräften weiter zu verfolgen und deren Ergebnisse für eine milieusensible Pädagogik nutzbar zu machen. VHN plus 19 RAINER BENKMANN Differenz von Lehrerhabitus und Schülerhabitus FACH B E ITR AG VHN plus Anmerkungen 1 Dieser Habitus wird im Folgenden als normative Orientierung aufgefasst. Er entspricht nur nominell dem weiter unten dargestellten Habitus des Bildungsstrebens (Kap. 2.3). Unsere Auffassung von diesem Habitus beinhaltet Bourdieus Vorstellungen zur „rationalen Pädagogik“ mit der Forderung nach kritischer Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Bildungssystem (vgl. Bourdieu & Passeron, 1971) sowie Frosts Ideen zu einer widerständigen Bildung (Frost, 2010). 2 Die Typologie wurde durch Analysen der Interviews von Schüler/ innen am Ende der Grundschulzeit und zu Beginn der Sekundarstufe I herausgearbeitet und weist weitgehende Überschneidungen mit der Typologie des Bildungshabitus von Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer und Bauer (2003) auf. Wir halten sie auch für ältere Schüler/ innen für relevant. Literatur Bourdieu, P. (1992). Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA-Verlag. Bourdieu, P. (1993). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, P. (1997). Verstehen. In P. 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