eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 90/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Das Provokative Essay: LRS/Legasthenie

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2021
Renate Valtin
Auf dem Hintergrund des jahrzehntealten Streits zwischen Fachleuten aus Medizin und Pädagogik/Psychologie um die Deutungshoheit bei der Therapie/Förderung von Kindern mit LRS werden Entstehungsgeschichte und Ausgestaltung der Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung“ in den Blick genommen. Dort werden Fördermethoden vorgeschlagen, die direkt an den Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben ansetzen, was eine Passung von Lernvoraussetzungen und Lernanforderungen verlangt. Für beide Bereiche sind Mediziner nicht ausgebildet. Ihre Deutungshoheit sichern sie sich, indem sie fast allen Kindern mit schwachen Leitungen im Lesen und in der Rechtschreibung eine Störung zuschreiben. Im Beitrag werden Nutzen und Schädlichkeit des Konzepts von Störungen beschrieben und bildungspolitische Forderungen erhoben.
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5 VHN, 90. Jg., S. 5 -10 (2021) DOI 10.2378/ vhn2021.art02d © Ernst Reinhardt Verlag LRS/ Legasthenie - Störung oder Schwierigkeit? Wer hat die Deutungshoheit? Renate Valtin Berlin Zusammenfassung: Auf dem Hintergrund des jahrzehntealten Streits zwischen Fachleuten aus Medizin und Pädagogik/ Psychologie um die Deutungshoheit bei der Therapie/ Förderung von Kindern mit LRS werden Entstehungsgeschichte und Ausgestaltung der Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung“ in den Blick genommen. Dort werden Fördermethoden vorgeschlagen, die direkt an den Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben ansetzen, was eine Passung von Lernvoraussetzungen und Lernanforderungen verlangt. Für beide Bereiche sind Mediziner nicht ausgebildet. Ihre Deutungshoheit sichern sie sich, indem sie fast allen Kindern mit schwachen Leitungen im Lesen und in der Rechtschreibung eine Störung zuschreiben. Im Beitrag werden Nutzen und Schädlichkeit des Konzepts von Störungen beschrieben und bildungspolitische Forderungen erhoben. Schlüsselbegriffe: LRS, Legasthenie, Lernstandsfeststellung, Diagnose, Förderung, Therapie Reading and Spelling Problems: Disorders or Difficulties? Who has the Power of Interpretation? Summary: Against the background of the decades-old dispute between specialists from medicine and education/ psychology about the sovereignty of interpretation in the therapy/ support of children with reading and spelling difficulties, the history and content of the medical guideline „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung“ (diagnosis and therapy of children with reading and/ or spelling disorders) are examined. The guideline suggests therapeutical methods that address directly the difficulties in reading and spelling, which requires a match between learning prerequisites and learning requirements. Doctors are not trained for either area. They secure their interpretive sovereignty by ascribing a disorder to almost all children with poor reading and spelling skills. The present article describes the usefulness and harmfulness of the concept of disorders and raises educational policy demands. Keywords: Reading and spelling disabilities, dyslexia, Assessment of learning progress, diagnosis, support, therapy DAS PROVOK ATIVE ESSAY Legasthenie - kontroverse Deutungen Seit mehr als 50 Jahren streiten sich Fachleute aus Medizin und Pädagogik/ Psychologie, ob Probleme beim Erlernen des Lesens und/ oder Rechtschreibens auf einer Störung oder Krankheit beruhen oder ob es sich um einen Rückstand der Lernentwicklung handelt, der mit pädagogischen Methoden zu beheben ist. Im medizinischen Ansatz wird Legasthenie als eine Eigenschaft oder Störung des Kindes, basierend auf vermeintlichen Funktionsdefiziten, aufgefasst. In den Therapien sollen basale Funktionen wie auditive und visuelle Wahrnehmung gefördert werden. Die zahlreichen empirischen Studien, welche das Vorliegen von Funktionsschwächen bei Kindern mit LRS nicht belegen konnten (erstmals Valtin, 1969), wurden nicht zur Kenntnis genommen. Zuständig für die Diagnose erklären sich Kinderärzte; als zuständig VHN 1 | 2021 6 RENATE VALTIN LRS/ Legasthenie - Störung oder Schwierigkeit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY für die Therapie betrachten sich Therapeuten verschiedenster Provenienz, denn die Bezeichnung „Lerntherapeut“ ist nicht geschützt. In pädagogisch-entwicklungspsychologischer Perspektive wird LRS/ Legasthenie als Ausdruck verlangsamter oder auch fehlgeleiteter Lernprozesse beim Schriftspracherwerb gedeutet. Zur Überwindung dieser Probleme werden primär pädagogische und am Lerngegenstand Schriftsprache ausgerichtete Methoden der Lernstandserhebung und darauf abgestimmte Fördermaßnahmen empfohlen, unter Berücksichtigung der Verbesserung des Lernumfelds. Was diesen Streit um die Zuständigkeit angeht, ist es von Interesse, Entstehungsgeschichte und Ausformulierung der Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung“ (im Folgenden abgekürzt mit LRS) in den Blick zu nehmen. Sie wurde 2014 von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. veröffentlicht mit dem Anspruch, „evidenz- und konsensbasiert“ zu sein. Für die Erstellung einer derartigen Leitlinie gibt es strenge Anforderungen, z. B. sollen „Vertreter der entsprechend zu beteiligenden Fachgesellschaft/ en und/ oder Organisation/ en in die Leitlinienentwicklung frühzeitig eingebunden werden“ (Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, 2016). In der Tat waren in der Leitliniengruppe neben Personen aus medizinischen Disziplinen (welche die überwiegende Mehrheit darstellten) Personen aus folgenden Fachgesellschaften vertreten: Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) 1 , Symposium Deutschdidaktik (SDD), Deutscher Philologenverband (DPhV), Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaften (DGfS) und Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). Aufgrund einer umfassenden, sorgfältigen und systematischen Analyse von Studien zur Wirksamkeit von Behandlungsmethoden wird in der Leitlinie festgestellt, dass nur solche Therapien wirksam sind, die direkt am Symptom (also an den Lese- und Rechtschreibprozessen) ansetzen. Die Leitlinie besagt: „Auf Grundlage der bestehenden Literatur kann nicht belegt werden“, dass folgende Interventionen „zu einer Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistungen bei Kindern und Jugendlichen“ mit LRS führen: Interventionen zur visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung sowie Blicksteuerung, zur audiovisuellen Wahrnehmung und Verarbeitung, der neuropsychologischen Hemisphärenstimulation, Aufmerksamkeitstrainings, medikamentöse Behandlung durch Piracetam, Irlen-Linsen oder vergleichbare Farbfolien, Prismenbrillen sowie weitere alternative Methoden (DGKJP, 2014, S. 43ff.). Es ist zu begrüßen, dass nun auch von medizinischer Seite die Wirkungslosigkeit dieser Therapien eingeräumt wird. Bedauerlich ist, dass ein solches Eingeständnis so spät erfolgt: Jahrzehntelang waren viele Kinder mit LRS über Jahre hinweg derartigen Behandlungen ausgesetzt, die spätestens seit Scheerer-Neumanns Buch „Intervention bei Lese-Rechtschreibschwäche“ (1979) als ineffektiv bekannt waren. Ferner wird in der Leitlinie die Notwendigkeit der Passung zwischen spezifischen Problemen beim Lesen und Rechtschreiben und den Förderangeboten betont. Eine solche Förderung setzt zwingend eine Lernstandsfeststellung voraus. Jedoch erfüllt die Leitlinie an dieser Stelle die Erwartungen nicht. Es heißt: „Wünschenswert (! ) sind außerdem Verfahren der Lernstandsdiagnose, welche die spezifischen Stärken und Schwächen in der Lernentwicklung im Lesen und/ oder Rechtschreiben identifizieren“ (DGKJP, 2014, S. 5). Würde hier eine Soll-Empfehlung gemacht, könnten Ärzte mangels entsprechender Ausbildung keine Diagnosen mehr vornehmen. Die Leitlinie besagt also explizit, dass nur pädagogische „Therapien“ wirksam sind und diese an den spezifischen Stärken und Schwächen in der Lernentwicklung ansetzen sollten. Man fragt sich deshalb, warum überhaupt Mediziner in diesem Bereich tätig werden sollen, da sie dazu nicht ausgebildet sind. VHN 1 | 2021 7 RENATE VALTIN LRS/ Legasthenie - Störung oder Schwierigkeit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die Deutungshoheit sichern sich die Mediziner dadurch, dass sie einerseits konsequent von Störungen sprechen und andererseits LRS so unklar und uneindeutig definieren, dass offenbar nur medizinische Expert/ innen in der Lage sind, eine derartige Diagnose vorzunehmen. Vor Erstellung der Leitlinie galt für die Diagnose der Legasthenie die sog. Diskrepanz- Definition (eine mindestens durchschnittliche Intelligenz steht in Diskrepanz zu schlechten Leseund/ oder Rechtschreibleistungen). In der Leitlinie kommt der Ausdruck Legasthenie nicht vor, nur Leseund/ oder Rechtschreibstörungen. Nun wird allen Kindern mit Lese- und Rechtschreibleistungen, die einem Prozentrang von ≤ 8 oder auch ≤ 16 entsprechen, eine Störung unterstellt, sofern ihre „Symptome“ nicht „Folge von intellektuellen Einschränkungen, einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung, unkorrigierten Seh- oder Hörstörungen, unzureichender Beschulung sowie psychischen, neurologischen oder motorischen Störungen sind“ (ebd.). Es erübrigt sich der Hinweis, dass es für die meisten der genannten Ausschlussmerkmale keine verbindlichen und eindeutigen Kriterien gibt, sodass ein großer Ermessensspielraum bei der Diagnose gegeben ist. Zudem ist es für mich als medizinische Laiin merkwürdig, dass Kinder, deren schwache schriftsprachliche Leistungen Folge von diversen Störungen sind, gerade nicht die Diagnose Leseund/ oder Rechtschreibstörung erhalten sollen. Aus der Leitlinie erfährt man nicht, ob und wie diese Kinder „behandelt“ werden sollen. Zusätzlich zu diesem großen Kreis von Kindern werden aber auch jene mit einer IQ-Diskrepanz, die üblicherweise als Legastheniker bezeichnet werden, unter den Begriff der Leseund/ oder Rechtschreibstörungen gefasst. Die in der Leitlinie beschlossene Empfehlung lautet: „Zur Diagnostik der Leseund/ oder Rechtschreibstörung soll auf das Kriterium der Alters- oder Klassennormdiskrepanz oder auf das Kriterium der IQ-Diskrepanz zurückgegriffen werden“ (ebd. S. 24). Dass die Leitlinie an der Diskrepanz-Definition festhält, ist durchaus überraschend, denn es wird in der Leitlinie selbst auf eine wichtige evidenzbasierte Erkenntnis verwiesen: Zwischen Kindern und Jugendlichen, deren Lese- und oder Rechtschreibleistungen weit unter der Altersbzw. Klassenstufennorm liegen, und jenen, bei denen eine signifikante Diskrepanz zwischen Lese-Rechtschreibleistung und Intelligenz vorliegt, gibt es keine Unterschiede in ihren Fehlerprofilen, den neuropsychologischen Verhaltensdaten, genetischen Aspekten sowie Behandlungserfolgen (ebd., S. 27). In der pädagogisch-psychologischen Diskussion wird aus diesem schon lange bekannten Sachverhalt die Forderung abgeleitet, die Diskrepanz-Definition aufzugeben (Marx, 2004; Valtin, Hornberg, Voss, Kowoll & Potthoff, 2010). Auch in der internationalen Diskussion wird die Diskrepanz-Definition abgelehnt (zu einem Überblick s. Büttner & Hasselhorn, 2011). Das neue DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) verzichtet ebenfalls auf die IQ-Diskrepanz als Diagnosekriterium (Scheerer-Neumann, 2018). An der Erstellung der Leitlinie hatten, wie oben erwähnt, auch Delegierte verschiedener pädagogischer, psychologischer, fachdidaktischer und sprachwissenschaftlicher Vereinigungen teilgenommen; allerdings werden sie nicht unter den beteiligten Organisationen, die auf S. 1 der Leitlinie aufgeführt werden, genannt. Erst auf S. 75 wird ihre Teilnahme erwähnt und es heißt: „Bedauerlicherweise hat“ (es soll wohl heißen: haben) „nach Abschluss der Konsentierung die DGfE, die DGfS, der DPhV, das SDD und die bke die abschließende Zustimmung zu der Leitlinie abgelehnt“ (DGKJP, 2014, S. 75). Die Ablehnungsgründe werden in der Leitlinie nicht genannt: die Schwammigkeit der Handlungsanweisungen zur Diagnose, die fehlende sprachwissenschaftliche Fundierung der Therapievorschläge und auch der Sachverhalt, dass einem erweiterten großen Kreis von Betroffenen eine Störung zugeschrieben wird (s. dazu die Stellungnahme von Valtin, 2015). Ob die VHN 1 | 2021 8 RENATE VALTIN LRS/ Legasthenie - Störung oder Schwierigkeit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Annahme einer Störung überhaupt sinnvoll oder brauchbar ist, wird gar nicht diskutiert - denn sonst wäre die Leitlinie ja überflüssig. Die Frage drängt sich auf: Welche Legitimation kann die Leitlinie beanspruchen, wenn gerade jene Fachgesellschaften, die sich mit dem Schriftspracherwerb befassen (Erziehungswissenschaft, Didaktik, Linguistik), der Leitlinie nicht zugestimmt haben? Wem nützt die Störung? Schon vor 30 Jahren hat Bühler-Niederberger (1991) kritisiert, dass das Konstrukt Legasthenie als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme standespolitischen Interessen dient, indem es bestimmten Berufsgruppen eine zahlungswillige Klientel beschert. Für Nicht-Mediziner drängt sich der Eindruck auf, dass sich interessierte Berufsverbände ein noch breiteres Arbeitsfeld als bisher sichern. Denn der Kreis der Kinder und Jugendlichen, denen von medizinischer Seite eine Störung zugeschrieben werden kann, ist durch die Leitlinie erheblich ausgeweitet worden. Nicht nur die früher als Legastheniker bezeichnete Gruppe, die der Diskrepanz-Definition entsprach, auch alle Kinder mit schwachen Leistungen im Lesen und/ oder der Rechtschreibung können von einer Störung betroffen sein. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass diese Kinder eine Förderung erhalten - aber muss man ihnen deswegen eine Störung zuschreiben und sie pathologisieren? Inzwischen ist auch eine S3-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung“ erstellt worden, in der es heißt, dass es sich bei den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, zu denen Leseund/ oder Rechtschreibstörungen sowie Rechenstörungen zählen, „um persistierende Störungen mit Krankheitswert [handelt], bei denen fachkundige, individualisierte Diagnostik, Förderung und Therapie sowie Maßnahmen der Eingliederungshilfe in der Regel notwendig werden“ (DGKJP, 2018, S. 5). Für die Diagnose einer Rechenstörung soll eine Alters- oder Klassennormdiskrepanz von mindestens 1,5 Standardabweichungen (Prozentrang ≤ 8) oder von mindestens 1 Standardabweichung (Prozentrang ≤ 16) verwendet werden. Interessanterweise fehlt hier die IQ-Diskrepanz, die häufig als Anzeichen für „Dyskalkulie“ verwendet wird. Es ist erhellend, sich einmal Zahlen und Häufigkeiten dieser potenziellen Patienten vor Augen zu führen: In der Studie von Fischbach et al. (2013) wiesen 32,8 Prozent (! ) aller untersuchten Kinder im 2. und 3. Schuljahr in mindestens einem der drei Bereiche Lesen, Rechtschreiben oder Mathematik eine Leistung unter 1 SD von der Norm auf. Sie alle kämen - so sie denn zum Arzt gingen - für Diagnosen wie „Lesestörung“, „Rechtschreibstörung“, „Lese-Rechtschreibstörung“ sowie „Rechenstörung“ (isoliert sowie als Verbindung mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung) in Betracht. Gleichzeitig empfiehlt die Leitlinie LRS die Ausweitung der Diagnostik: „Zusätzlich zu den in dieser Leitlinie genannten Verfahren sollen Methoden zur Diagnosestellung eingesetzt werden, die es erlauben, die psychische, soziale und körperliche Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen mit einer Lese-Rechtschreibstörung, isolierten Lesestörung oder isolierten Rechtschreibstörung festzustellen“ (DGKJP, 2014, S. 5). Leider gibt es keine Zahlen zur Honorierung derartiger kinderärztlicher und kinderpsychiatrischer Leistungen durch die Krankenkassen. Auch für Lerntherapeuten und Eltern hat eine ärztlich gestellte Legasthenie-Diagnose finanzielle Vorteile. Eltern können beim Jugendamt eine Kostenerstattung für eine Lerntherapie nach dem KJHG § 35 a beantragen, sofern ein ärztliches Gutachten das Vorliegen einer Legasthenie diagnostiziert, allerdings in Verbindung mit einer Bescheinigung, dass eine seelische Behinderung eingetreten ist oder droht. Im Internet kann man nachlesen, wie Institute für Lerntherapie Eltern Ratschläge geben, um eine Kostenübernahme für Lerntherapie durch das Jugendamt zu erreichen. VHN 1 | 2021 9 RENATE VALTIN LRS/ Legasthenie - Störung oder Schwierigkeit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die Schädlichkeit des Konzepts von Lernstörungen Im pädagogisch-psychologischen Verständnis gilt ein derartiges Störungskonstrukt weder als theoretisch gerechtfertigt noch praktisch brauchbar, zumal die Zuschreibung einer Störung mit Risiken und Nebenwirkungen einhergehen kann: n Viele betroffene Schülerinnen und Schüler erleben Ängste und Verunsicherung („Ich glaube, ich habe Pilze im Gehirn“), sie reagieren mit Motivationsverlust und negativen Attribuierungen („Legasthenie kommt von Gott“, „Man kann nichts dagegen tun“), wie eine Studie von Naegele & Valtin (2001) belegt. n Lehrkräfte fühlen sich für den Lernerfolg ihrer Schüler und Schülerinnen nicht zuständig und nicht verantwortlich. n Externale Risikofaktoren, wie sie durch die Internationale Grundschul-Leseuntersuchung IGLU (Hußmann et al., 2017) wiederholt belegt sind, geraten nicht in den Blick: Bildungsferne des Elternhauses, Migrationshintergrund, nichtdeutsche Familiensprache und unzureichende Lesesozialisation in der Familie. Defizite in der Bildungspolitik Die Diskussion um Legasthenie und Leseund/ oder Rechtschreib-Störungen verweist auf ein Skandalon im deutschen Schulsystem: Nach wie vor erhält die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Deutschland (66 %), bei denen laut IGLU-Lesetest ein Förderbedarf besteht, da sie unterhalb der Kompetenzstufe III liegen, keinerlei spezielle schulische Förderung. Das belegen Ergebnisse von IGLU 2006 und auch 2016 (Hußmann et al., 2017, S. 26). Eine derartige Förderung ist auch deshalb geboten, weil Kinder mit schulischen Leistungsproblemen als Folge der ständigen Frustrationen eine hohe Leistungsängstlichkeit und ungünstige motivationale Überzeugungen, wie geringe Erfolgszuversicht und starke Misserfolgsorientierung, entwickeln, wie es unter anderem IGLU belegt (Valtin et al., 2010). Derartigen Missständen und Defiziten in der Förderung ist unbedingt entgegenzuwirken. Notwendig ist eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, wie sie von der KMK bereits 1978 eingefordert, aber bis heute vielfach nicht eingelöst wurde: ein sorgfältig durchgeführter Erstlese- und Schreibunterricht, die Verbesserung der förderdiagnostischen Fähigkeiten der Lehrkräfte, die Einrichtung von Förderkursen sowie die Verbesserung der Lehreraus- und -fortbildung. Zu fordern ist auch das Vorhandensein und der Einsatz von Experten, die - wie beispielsweise in Finnland - bei Leistungsproblemen der Schülerinnen und Schüler sofort eingreifen (Leselehrer, Beratungslehrer, Sozialpädagogen, Psychologen). Zwar wird in den LRS-Richtlinien der Bundesländer auf die Notwendigkeit der Förderung von Kindern mit Lese- und Rechtschreibproblemen verwiesen, aber es gibt kein verbrieftes Recht des Kindes auf schulische Förderung. Solange ein derartiger Rechtsanspruch nicht besteht, ist es verständlich, dass sich die Eltern betroffener Kinder hilfesuchend an Ärzte wenden und für ihre Kinder die Diagnose Legasthenie anstreben, damit diese von besonderen schulischen Privilegien profitieren können (Nachteilsausgleich, Notenschutz und Empfehlung für das Gymnasium trotz schlechter Rechtschreibung). Am 26. März 2009 trat in Deutschland die UN- Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft, in welcher sich die Teilnehmerstaaten dazu verpflichten, ein inklusives Bildungssystem zu gewährleisten. In einer inklusiven Schule werden alle Kinder je nach ihren Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen gefördert. Eine derartige individuelle Förderung braucht keine Etikettierung und Pathologisierung von Kindern. Bislang ist Deutschland dieser Verpflichtung nicht nachgekommen. VHN 1 | 2021 10 RENATE VALTIN LRS/ Legasthenie - Störung oder Schwierigkeit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY P.S.: Die Leitlinie wird zurzeit revidiert. Ob und welche pädagogische Fachgesellschaften mitwirken, war bislang nicht zu erfahren. Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft wurde jedenfalls nicht eingeladen. Anmerkung 1 Die DGfE hatte mich als Fachvertreterin beauftragt. Zu dieser Zeit war ich Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS), die sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit dem Thema Legasthenie auseinandergesetzt hatte. Allerdings war die DGLS nicht eingeladen. Literatur Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (2016). Leitliniengrundlagen. Abgerufen am 30. 8. 2020 von https: / / www.leitlinien.de/ leitliniengrundlagen Bühler-Niederberger, D. (1991). Legasthenie. Geschichte und Folgen einer Pathologisierung. Opladen: Leske und Budrich. Büttner, G. & Hasselhorn, M. (2011). Learning disabilities: Debates on definition, causes, subtypes, and responses. International Journal of Disability, Development and Education, 58 (1), 75 -87. https: / / doi.org/ 10.1080/ 1034912x.2011. 548476 DGKJP/ Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (2014). Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung. Abgerufen am 30. 8. 2020 von https: / / www.kjp.med.uni-muenchen.de/ download/ leitlinie_lrs_kjp_langfassung.pdf DGKJP/ Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (2018). S3-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. Langfassung. Abgerufen am 30. 8. 2020 von https: / / www.aw mf.org/ leitlinien/ detail/ ll/ 028-046.html Fischbach, A., Schuchardt, F., Brandenburg, J., Klesczewski, J., Balke-Melcher, C., Schmidt, C., Büttner, G., Grube, D., Mähler, C. & Hasselhorn, M. (2013). Prävalenz von Lernschwächen und Lernstörungen: Zur Bedeutung der Diagnosekriterien. Lernen und Lernstörungen, 2 (2), 65 -76. https: / / doi.org/ 10.1024/ 2235-0977/ a000035 Hußmann, A., Wendt, H., Bos, W., Bremerich-Vos, A., Kasper, D., Lankes, E.-M., McElvany, N., Stubbe, T. C. & Valtin, R. (Hrsg.) (2017). IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. Marx, P. (2004). Intelligenz und Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Hamburg: Dr. Kovac. Naegele, I. M. & Valtin, R. (2001). „Legasthenie kommt von Gott“ - Wie SchülerInnen mit LRS ihr Versagen erklären. In I. M. Naegele & R. Valtin (Hrsg.). LRS in den Klassen 1 - 10. Handbuch der Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Bd. 2, 41 -47. Weinheim: Beltz. Scheerer-Neumann, G. (1979). Intervention bei Lese-Rechtschreibschwäche. Bochum: Kamp. Scheerer-Neumann, G. (2018). Lese-Rechtschreib- Schwäche und Legasthenie. Grundlagen, Diagnostik und Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. Valtin, R. (1969). Legasthenie: Therapie ohne Grundlagen. Bericht über eine empirische Untersuchung. Betrifft: Erziehung, 2 (10), 24 -27. Abgerufen am 30. 8. 2020 von https: / / www.pedocs. de/ volltexte/ 2020/ 19308/ pdf/ Valtin_1969_Le gasthenie_Therapie_ohne_Grundlagen.pdf Valtin, R. (2015). Stellungnahme zu: Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung. Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie. Abgerufen am 30. 8. 2020 von https: / / www.pedocs.de/ voll texte/ 2016/ 12411/ pdf/ Valtin_2015_Stellung nahme_zur_Leitlinie_LRS.pdf Valtin, R., Hornberg, S., Voss, A., Kowoll, M. E. & Potthoff, B. (2010). Schülerinnen und Schüler mit Leseproblemen - eine ökosystemische Betrachtungsweise. In W. Bos, K. H. Arnold, S. Hornberg, G. Faust, L. Fried, E.-M. Lankes, K. Schwippert, I. Tarelli & R. Valtin (Hrsg.), IGLU 2006 - die Grundschule auf dem Prüfstand, 43 -90. Münster: Waxmann. Anschrift der Autorin Prof. Dr. Renate Valtin (i. R.) Winkler Straße 22 D-14193 Berlin E-Mail: renate.valtin@gmail.com