Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Dialog: Art brut/Outsider Art
11
2021
Christian Mürner
Martin Baumgartner
Lieber Christian, vor Kurzem ist ein neues Buch von dir erschienen, das den Titel trägt „Der Beteiligungscharakter der Kunst. Art brut/Outsider Art und Inklusion“. Es enthält neun Aufsätze, von denen einige schon anderswo veröffentlicht und für diese Publikation überarbeitet worden sind, einige andere hast du speziell für das neue Buch geschrieben. Wer dich etwas kennt, der weiß, dass du dich schon immer mit Kunst auseinandergesetzt hast, gerade auch (du bist ja von Haus aus Sonderpädagoge) mit Kunst von behinderten oder psychisch kranken Menschen bzw. von Künstlerinnen und Künstlern mit Assistenzbedarf. [...]
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57 VHN, 90. Jg., S. 57 -63 (2021) DOI 10.2378/ vhn2021.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Art brut/ Outsider Art Christian Mürner Martin Baumgartner Hamburg Freiburg (Schweiz) DIALOG Martin Baumgartner an Christian Mürner Freiburg, den 6. August 2020 Lieber Christian, vor Kurzem ist ein neues Buch von dir erschienen, das den Titel trägt „Der Beteiligungscharakter der Kunst. Art brut/ Outsider Art und Inklusion“. Es enthält neun Aufsätze, von denen einige schon anderswo veröffentlicht und für diese Publikation überarbeitet worden sind, einige andere hast du speziell für das neue Buch geschrieben. Wer dich etwas kennt, der weiß, dass du dich schon immer mit Kunst auseinandergesetzt hast, gerade auch (du bist ja von Haus aus Sonderpädagoge) mit Kunst von behinderten oder psychisch kranken Menschen bzw. von Künstlerinnen und Künstlern mit Assistenzbedarf. Als einigermaßen kunstinteressierter Mann und ebenfalls Sonderpädagoge habe ich daher dein neues Buch mit großem Interesse zur Hand genommen. Natürlich habe ich eine (vielleicht etwas unbedarfte) Idee davon gehabt, was Art brut oder Outsider Art ist, ohne mich intensiv damit auseinandergesetzt zu haben. Und natürlich kenne ich auch einige Vertreter davon wie etwa Adolf Wölfli (wer kennt ihn nicht! ), der ein Gesamtkunstwerk geschaffen hat, das seinesgleichen sucht. Schon bald nachdem ich dein Buch zu lesen begonnen habe, ist mir bewusst geworden, dass da einige Stolpersteine im Weg liegen, welche mir die Lektüre nicht gerade erleichtern würden. Oder dass, anders gesagt, am Schluss mehr Fragen als Antworten übrig bleiben werden. Was ja durchaus als Qualitätsmerkmal gewertet werden darf. Zum ersten Mal gestolpert bin ich schon beim Titel bzw. beim Untertitel: „Art brut/ Outsider Art und Inklusion“. Irgendwie konnte ich die beiden Begriffe nicht zusammenbringen und habe mich gefragt, was denn das eine (Art brut/ Outsider Art) mit dem anderen (Inklusion) zu tun habe. Ein „Outsider“ ist ja, wie es der Begriff wörtlich ausdrückt, gerade nicht „inkludiert“, und wenn er es ist, ist er kein „Outsider“ mehr. Beißt sich da die Katze also selber in den Schwanz? Oder geht es um die Inklusion der Künstlerinnen und Künstler, welche „Art brut“ schaffen, und die durch ihre Kunst Barrieren überwinden können, die ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft bis anhin erschwert oder verunmöglicht haben? Kunst als Vehikel zur sozialen Anerkennung und Partizipation? Der (Unter)Titel macht mich etwas ratlos und ich frage mich, ob ich da etwa schon auf der Frontseite in eine Sackgasse geraten bin. Deshalb meine ganz simple Frage: Was meinst du mit „Art brut/ Outsider Art und Inklusion“? Herzliche Grüße nach Hamburg Martin Baumgartner VHN 1 | 2021 58 CHRISTIAN MÜRNER, MARTIN BAUMGARTNER Art brut/ Outsider Art DIALOG Christian Mürner an Martin Baumgartner Hamburg, den 10. August 2020 Meiner Meinung nach, lieber Martin, ist es kulturgeschichtlich betrachtet erstaunlich, dass Künstlerinnen und Künstler generell als Außenstehende wahrgenommen werden. Dennoch wird oft mit Nachdruck auf sie im Sinn eines inklusiven Anspruchs Bezug genommen. Als Beispiel könnte der Konflikt um Denkmäler oder Skulpturen gelten, die bei ihnen in Auftrag gegeben und dann in Zweifel gezogen werden, weil die Darstellung nicht dem gefälligen Geschmack entspreche. Die Art brut - Outsider Art war ursprünglich verlegerisch lediglich als äquivalente englische Übersetzung gedacht - erreicht bisher vor allem vorübergehend, dass sie sozusagen als selbstverständliche Kunstform im Rahmen des regulären Kunstbetriebs begriffen wird und dabei eher geringe öffentliche und mediale Aufmerksamkeit erlangt. Ihre Ausdrucksweisen provozieren, was meines Erachtens bedeutet, dass neben der möglichen Abweichung oder Zurückweisung eine gewisse Faszination oder Überraschung durchschimmert. Ich denke, Art brut und Inklusion - nicht ganz unabhängig von ihrer zurzeit etwas modischen oder plakativen Zusammenstellung - sind eine Perspektive für die Veränderung der Betrachtungsweisen. Es bietet sich die Chance einer illusionslosen Auseinandersetzung. Es scheint klar, dass Kunst keine Ästhetisierung der gesellschaftlichen Angelegenheiten darstellen kann. Zugleich ist plausibel, dass Kunstschaffende in Grenzbereichen Beachtung erfahren, was nicht mit eindimensionaler Bevorzugung zu verwechseln wäre. Im übrigen sind die Grenzen flexibel. Der von dir erwähnte Adolf Wölfli in der Psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern weiche mehr von den Konventionen ab als der erst später bekannt gewordene Louis Soutter im Altersheim in Ballaigues im Jura, bemerkte Jean Dubuffet, der Erfinder des Begriffs „Art brut“ (1947). Was zählt, ist meiner Ansicht nach das Werk, die Zeichnung, das Bild, die Plastik, für die eine Sprache zur stimmigen Präsentation gefunden werden sollte, eventuell ergänzt durch Hinweise auf biografische oder soziale Hintergründe des Lebens der Künstlerinnen und Künstler. Doch vielleicht verkürzt diese projektierte Problemlösung die gegenwärtige Situation. Jean Dubuffet stellte fest, dass zu den von ihm gesammelten Werken von den Künstlerinnen und Künstlern „das vollkommene Fehlen von Bemühungen um Kommunikation mit dem Publikum und von Beifallsbestrebungen“ auffalle. Deine Fragen, lieber Martin, legen den Finger genau auf solche Widerhaken. Wer wäre befugt, über sie, wer könnte für sie, wer kann mit ihnen sprechen? Ihre Werke sind präsent, manchmal unerkannt oder am falschen Ort. Sie werden mehr und mehr ausgestellt und damit „inkludiert“ in unterschiedliche Kontexte. Sie behalten ihre Eigenständigkeit, für die ich „Art brut“ die geeignetste Bezeichnung halte - trotz der gelegentlich geäußerten Vorbehalte. Sie ist, um nochmals Dubuffet zu zitieren, „eine bescheidene Art von Kunst, die sich oft nicht einmal bewusst ist, Kunst zu sein“. Wenn ich recht sehe, wird „Inklusion“ manchmal als Idealvorstellung so verstanden, dass sie stattfinde, ohne dass jemand von ihr zu reden braucht. Wäre das neben der pragmatischrealisierbaren ihre „bescheidene“ Version? Ich weiß, lieber Martin, du bist mit Nachfragen am Zug. Viele Grüße nach Fribourg Christian Mürner VHN 1 | 2021 59 CHRISTIAN MÜRNER, MARTIN BAUMGARTNER Art brut/ Outsider Art DIALOG Martin Baumgartner an Christian Mürner Freiburg, den 8. September 2020 Lieber Christian, hab’ vielen Dank für deine interessante Replik auf meine Mail! Es stimmt ja schon, was du gleich am Anfang deines Schreibens feststellst, dass nämlich Künstlerinnen und Künstler generell als Außenstehende wahrgenommen werden. Wie viel mehr also muss das auf Vertreterinnen und Vertreter der Art brut zutreffen, die ja ohnehin schon wegen ihrer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung häufig ausgegrenzt werden und am Rand des gesellschaftlichen Geschehens stehen. Sie nehmen sowohl im Kunstbetrieb als auch im täglichen Leben eine Sonderstellung ein. Aber ich möchte diesen Gedanken hier nicht weiterspinnen, sondern auf etwas anderes zu sprechen kommen. Ein Satz in deiner Mail ist mir besonders ins Auge gestochen, und zwar schreibst du: „Was zählt, ist meiner Ansicht nach das Werk, die Zeichnung, das Bild, die Plastik (…)“. Da stimme ich voll und ganz mit dir überein. Aber wenn ich den Satz weiterdenke, dann komme ich bald einmal zur vielleicht etwas ketzerischen Frage, warum es denn die Bezeichnung „Art brut“ überhaupt noch braucht. Art brut ist ja nicht ein Stil wie der Kubismus oder der Impressionismus, sondern bezieht sich auf gewisse Eigenschaften des Künstlers bzw. der Künstlerin. Die sich in der Art brut manifestierenden Stile sind ja fast so vielfältig wie die Künstlerinnen und Künstler selbst und können nicht unter einen Hut gebracht werden. Oder noch etwas provokativer ausgedrückt: Entweder ist etwas Kunst oder es ist keine Kunst, ganz unabhängig davon, ob der Künstler behindert oder die Künstlerin psychisch krank ist! Ist daher der Begriff der Art brut nicht obsolet? Du sprichst das Dilemma in deinem Buch an mehreren Stellen an: Soll man z. B. bei einer Ausstellung das Handicap des Künstlers bzw. der Künstlerin überhaupt erwähnen oder nicht einfach die Bilder, Skulpturen und anderen Objekte für sich sprechen lassen? Andererseits gibt es aber auch keinen Grund, die Biografie zu verschweigen, die gehört schließlich untrennbar zum Individuum dazu. Und gerade in der heutigen Zeit besteht ein überaus großes (mediales) Bedürfnis nach Personifizierung, nämlich den Menschen anstatt das Werk in den Vordergrund zu stellen. Homestories über Kunstschaffende in Zeitschriften und Illustrierten erscheinen da oftmals wichtiger als das Werk selbst. In Bezug auf Vertreterinnen und Vertreter der Art brut frage ich mich dann aber doch, ob ein Bild (als Beispiel) mit anderen Augen betrachtet wird, wenn man weiß, dass der Künstler oder die Künstlerin behindert resp. psychisch krank ist. Das kann von bemitleidendem Goodwill („Der kann aber schön malen, obwohl er doch behindert ist! “) bis zur vorurteilsbehafteten Abwertung („Das ist doch keine Kunst! “) reichen, wird dem Werk aber so oder so nicht gerecht. In deinem Buch zitierst du den Kunstsammler Günther Gercken, der die Ansicht vertritt, dass es mangelnder Respekt vor den Bildern sei, wenn man sie auf die Biografie und die Behinderung ihrer Urheber reduziere. Dem kann ich vorbehaltlos zustimmen, aber manchmal ist es nicht ganz einfach, ein Kunstwerk und seinen Schöpfer oder seine Schöpferin klar voneinander zu trennen. Da interessiert es mich natürlich schon, wie du die Sache siehst. Herzliche Grüße nach Hamburg Martin Baumgartner VHN 1 | 2021 60 CHRISTIAN MÜRNER, MARTIN BAUMGARTNER Art brut/ Outsider Art DIALOG Christian Mürner an Martin Baumgartner Hamburg, den 11. September 2020 Lieber Martin, vielen Dank für deine Fortsetzung des Dialogs. Doch deine Vorbehalte und Fragen haben ganz schön Überzeugungskraft. Es ist nicht einfach, darauf zu antworten. Dennoch möchte ich die Gelegenheit nutzen und versuchen, vielleicht ein paar Ansatzpunkte zu präzisieren. Art brut, da bin ich mit dir einer Meinung, wird in der Regel nicht als Stilrichtung im Sinn eines -Ismus begriffen. Art brut war ursprünglich für die bis dahin unbeachteten Künstlerinnen und Künstler ein anerkennend gedachter Begriff und wird erst seit Kurzem infrage gestellt, während Kubismus anfänglich abschätzig im Sinn von kubischen Kuriositäten in Bildern verwendet wurde und seit Langem als die bahnbrechende Epoche der modernen Kunst zu Beginn im 20. Jahrhundert gilt. Insofern würde ich Art brut nicht als obsolet betrachten, weil ihre Kontinuität sie auszeichnet. Ihre zwar sporadische, aber zunehmende Präsenz im Kunstbetrieb ist ein weiterer Beleg. Außerdem ist die Collection de l’Art Brut in Lausanne eine etablierte, engagierte Institution. Es gibt zugegeben pointierte Äußerungen Dubuffets im Zusammenhang seiner Begriffsprägung, die überholt sind. Beispielsweise die absolute antikulturelle Funktion der Art brut. Er hat sie später selbst zum Teil korrigiert. Auch beim Kubismus greift man nicht auf die lächerlichen Vorbehalte gegenüber den aus Kuben gestalteten Gitarren oder anderen Motiven zurück. Ich kann nicht recht nachvollziehen, lieber Martin, warum Art brut als „Kunst in Rohform“ sich vor allem mit „gewissen Eigenschaften des Künstlers bzw. der Künstlerin“ verbinde, wie du fast nebenbei notierst. Meines Erachtens wurde und wird sie wie jede Kunst wegen individuellen Ausdrucks- und Mitteilungsformen gesammelt, aber auch gekoppelt mit dem sozialen Tatbestand („fait social“). Diesen beziehe ich auf eine zugleich verfremdende wie verblüffende beharrliche Arbeitsweise, einen Habitus oder eine Haltung - vielleicht eine „Lebenskunst“ - gegenüber der Welt, den Dingen und den Menschen. Diese soziale wie künstlerische Art der „Rohform“ veranlasst Stellungnahmen. Und hier kommt der „Beteiligungscharakter der Kunst“ (Joseph Beuys) ins Spiel. Betrachtungen, Betrachterinnen und Betrachter sind genauso vielfältig wie die Werke, es ist nicht zu bedauern, dass sie sich auch nicht „unter einen Hut bringen“ lassen. Zudem sind in der Zwischenzeit, nach den Betrachtungen, wahrscheinlich schon wieder neue, unerwartete Bilder oder Objekte entstanden. Die veränderten oder erweiterten Blickpunkte benötigten zur Verständigung Begriffe. Ich plädiere in diesem Zusammenhang weniger für Proklamationen als für die Abwägung, inwieweit die bisherigen ausreichen, modifiziert werden können oder neue eventuell zutreffender wären. Dass durch die „Homestories“, wie du schreibst, hauptsächlich die Personen und ihre Biografie oder ihre Charakterzüge in den Vordergrund gerückt werden, ist ein mediengeschichtliches Phänomen. Ich vermag nicht sicher zu beurteilen, ob es ein größeres Problem darstellt als früher. Ich denke dabei an Giorgio Vasari (1511 - 1574), den „Vater der Kunstgeschichte“, der noch heute gut lesbare „Lebensläufe der berühmtesten Maler“ (erstmals 1550) geschrieben hat. Auch wenn manches darin als ungenau oder falsch widerlegt wurde, sind sie informativ und unterhaltsam, verknüpfen Werk und Entwicklung im Persönlichen. Schließlich möchte ich noch eine Anmerkung zum „mangelnden Respekt“ gegenüber den Bildern machen. Ich vermute, dass dieser aus der Vorstellung hervorgeht, die sich Betrach- VHN 1 | 2021 61 CHRISTIAN MÜRNER, MARTIN BAUMGARTNER Art brut/ Outsider Art DIALOG terinnen und Betrachter von der Person der Künstlerin oder des Künstlers oder ihrer Darstellung machen. Insofern spielt nicht allein die Bezeichnung der Kunstform eine Rolle, sondern eben auch ein perspektivisches (nicht statisches) Verständnis hinsichtlich Beeinträchtigungen, psychischen Krankheiten oder anderes, was Erwartungen widerspricht. Die Fähigkeiten einer Person werden selten unmittelbar ihr gegenüber bezweifelt, sondern über das Bild. Man sagt dann, das sei nur abgemalt, also keine eigene kreative Leistung. Abgesehen davon, dass nicht klar ist, was „nur“ heißt, ergeben manchmal weitere Recherchen gewichtige Details, was ich vielleicht an folgendem Beispiel verdeutlichen kann. Ein Tondo von Horst Wäßle (geb. 1954) mit dem Titel „Das türkische Bad“ (2004) nimmt äußerlich direkt Bezug auf das 1863 entstandene gleichnamige Gemälde von Jean-Auguste- Dominique Ingres (1780 - 1867). Das Bild von Ingres hängt heute im Louvre in Paris, ist aber als Postkarte weitverbreitet. Auch Horst Wäßle, der seit 1984 in der Hamburger Ateliergemeinschaft „Die Schlumper“ künstlerisch tätig ist, fiel es auf (siehe www.schlumper.de/ atelier/ kuenst ler/ horst-waessle.html). Ingres verstand sich als Historienmaler, sodass sein Bild als unumwundene Darstellung eines orientalischen Bades und Harems gedacht werden kann. Es zeigt gut zwanzig Frauen, liegend, sitzend, stehend an einem Wasserbecken, musizierend und tanzend, sich umarmend. Die meisten Frauen sind unbekleidet oder mit feinen Tüchern geschmückt sowie von Dienerinnen umsorgt. Ihre Gesichter und Körper haben einen besinnlichen und ungezwungenen Ausdruck. Die Figuren haben keinen Blickkontakt zu den Betrachtern. Ganz anders bei Wäßles Darstellung: Alle Figuren, die er in seinem Bild auf die acht Hauptfiguren begrenzte, sind mit ihren Gesichtern und Augen frontal auf die Betrachter gerichtet. Ihre Nacktheit ist zeichenhaft reduziert. Die Besinnlichkeit verwandelt sich bei Wäßle in eine extravagante Dynamik, die Umarmungen in Verwicklungen. Nun ließe sich trotz dieser ästhetisch eigenwilligen Umsetzung Wäßles sagen, er habe dennoch nichts Neues geschaffen, da er auf ein Motiv als Vorlage zurückgriff. Dies hieße allerdings, die Entstehung und Realisierung des Tondos von Ingres grundlegend zu verkennen. Denn Ingres’ Bild, hat man festgestellt, ist komponiert aus verschiedenen alten Kupferstichen, aus denen er einzelne Figuren abzeichnete und dann in seinem Tondo zusammensetzte. Zu Wäßles überdehnter Figurendarstellung findet sich auch in Ingres’ Bild eine Entsprechung, sodass sich bei ihm aufgrund der vorausgesetzten harmonischen Komposition plötzlich ein anatomisch unmöglich angesetzter Arm einer Frau entdecken lässt. Aus den „Dialogen“ mit den Bildern, ihrer Beschreibung und ihren Anschauungsmöglichkeiten können sich ebenso überraschende Begegnungen wie mit den Personen ergeben. Ich hoffe, dass auch unser E-Mail-Dialog etwas davon vermittelt oder nachzeichnet… Viele Grüße nach Fribourg Christian Mürner Martin Baumgartner an Christian Mürner Freiburg, den 17. September 2020 Lieber Christian, ich danke dir ganz herzlich dafür, dass du in deiner letzten Mail so detailliert auf meine Bedenken eingegangen bist. Deine Erläuterungen waren sehr aufschlussreich und haben meine Sicht auf die Art brut erweitert. VHN 1 | 2021 62 CHRISTIAN MÜRNER, MARTIN BAUMGARTNER Art brut/ Outsider Art DIALOG Ich bin ganz deiner Meinung, dass „[d]ie veränderten oder erweiterten Blickpunkte (…) zur Verständigung Begriffe“ benötigen, Anhaltspunkte, die das Sprechen über einen Gegenstand erst ermöglichen. Eine „Dekategorisierung“, um diesen in der Sonderpädagogik so heiß diskutierten Ausdruck zu gebrauchen, hätte in letzter Konsequenz wohl Sprachlosigkeit zur Folge, welche Verwirrung stiften und Missverständnissen Vorschub leisten würde. Und dies natürlich auch in Bezug auf Art brut. Gegen Ende unseres Dialogs möchte ich aber doch noch einmal eine Frage aufgreifen, die du in deinem Buch an mehreren Stellen ansprichst und auch im Titel als Motto hervorhebst. Wie schon in meiner ersten Mail beschäftigt mich - immer noch - der Begriff der Inklusion, diesmal aber aus einer etwas anderen Perspektive. Und zwar geht es mir um die Frage, ob die Bezeichnung Art brut/ Outsider Art nicht per se stigmatisierend bzw. exkludierend ist, da sie die unter ihrem Dach zusammengefassten Künstlerinnen und Künstler etikettiert und sie in eine Ecke stellt, aus der sie nur schwer wieder herausfinden. Du zitierst in deinem Buch (und dort v. a. im Aufsatz „Der innere Konflikt der Art brut/ Outsider Art“) mehrere Fachleute, welche diese Bedenken teilen. So meint etwa Frederik Poppe, dass „[d]er ursprünglich befreiende Begriff ‚Art Brut‘ (…) bisweilen im Widerspruch zu einer inklusionsorientierten Haltung und Betrachtensweise“ stehe. Und Karin Luchsinger, die Autorin des hochinteressanten Buches „Die Vergessenskurve. Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900“, bezeichnet Art brut/ Outsider Art als „eine einengende, ausschließliche Begrifflichkeit“. Andere Autoren gebrauchen gar das Wort ‚Getto‘. Ich denke nicht, dass man dieses Dilemma je ganz auflösen kann. Du sagst es ja auch im erwähnten Aufsatz, dass dieser Zwiespalt - „Art brut/ Outsider Art als antiquierte Begriffe zu betrachten, sie aber dennoch zu benutzen, weil sie den Habitus noch immer verkörpern“ - zum „inneren Konflikt“ passe, der dieser Kunstform innewohnt. Inklusion, denke ich, ist so gesehen auch Teil dieses inneren Konfliktes. Aber wie dem auch sei, letztlich geht es ja doch immer um die Kunst, um die Auseinandersetzung des Künstlers/ der Künstlerin mit der Welt. So verstanden ist jede Kunst „inklusiv“ (auch jenseits der sonderpädagogischen Bedeutungsschwere des Wortes), weil sie Teil des Menschseins ist. Ich sende dir viele Grüße ins kühle Hamburg Martin Baumgartner Christian Mürner an Martin Baumgartner Hamburg, den 20. September 2020 Lieber Martin, was soll ich dir hier erwidern, wie du mir freundlicherweise in der Begleitnotiz zum Abschluss anbietest? Deine zusammenfassenden Formulierungen und Folgerungen zu meiner These des „inneren Konflikts der Art brut/ Outsider Art“ erscheinen mir buchstäblich Einwand-frei, wenn ich das mit einem Wortspiel so sagen darf. Eine Reduzierung der Werke von Künstlerinnen und Künstlern auf das persönliche Befinden über Gattungsbegriffe gilt sicher als überholt. In kulturkritischer und differenzierter Perspektive, denke ich, sind gewisse exklusive Konstellationen dennoch manchmal informativ. Interessant finde ich, dass bei den biografischen Angaben zu den Künstlerinnen und Künstlern, so mein Eindruck, weniger Begriffsvorbehalte bestehen. Beispielsweise wird da eine Beeinträchtigung direkt benannt, obwohl bekannt ist, dass diese jeweils unterschiedliche Erscheinungsformen haben kann. VHN 1 | 2021 63 CHRISTIAN MÜRNER, MARTIN BAUMGARTNER Art brut/ Outsider Art DIALOG In der Kunst ist ein Handicap selten relevant. Die Kunst ist offen und bereit, neue ästhetische Erfahrungen anzuerkennen. Die damit verbundene Intention der Inklusion ist nicht mit Unterschiedslosigkeit zu verwechseln. Vielmehr wird meiner Ansicht nach verdeutlicht, dass es im Dialog mit Betrachterinnen und Betrachtern, Künstlerinnen und Künstlern sowie den Bildern und Kunstobjekten um die Originalität und Eigenständigkeit von Ausdrucksformen und die Aufgabe der Erweiterung des Verständnisses geht. Ich bedanke mich bei dir ganz herzlich für die Möglichkeit, im Rahmen dieses Gesprächs per virtueller Luftlinie zu den neun Texten meines kleinen Buches „Der Beteiligungscharakter der Kunst. Art brut/ Outsider Art und Inklusion“ einige Überlegungen aufgrund deiner präzisen Nachfragen erläutern zu können. Viele Grüße nach Fribourg, in der Hoffnung, dass wir weiter - auch über andere Themen - in Kontakt bleiben. Christian Mürner Literatur Mürner, C. (2020). Der Beteiligungscharakter der Kunst. Art brut/ Outsider Art und Inklusion. Weinheim: Beltz Juventa. Anschrift der Autoren Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg E-Mail: c.muerner@t-online.de lic. phil. Martin Baumgartner CH-1700 Freiburg E-Mail: martin.baumgartner@unifr.ch 2019. 146 Seiten. (978-3-497-02891-7) kt Otto Speck zieht eine realistische Zwischenbilanz nach über 10 Jahren schulischer Inklusion. Er analysiert Erfolge, kritisiert Fehlentwicklungen und zeigt, was in der Praxis machbar ist. Inklusion kann nach Speck auch in Förderschulen stattfinden, wenngleich die inklusive Regelschule das anzustrebende Ziel bleibt. Sein differenziertes Inklusionsmodell setzt auf ein dual-inklusives Schulsystem, das Bildung für alle gewährleisten soll. Eine Schule für alle? a www.reinhardt-verlag.de
