eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 90/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art06d
11
2021
901

Aktuelle Forschungsprojekte: Grafomotorische Förderung – Wirkungen unterschiedlicher Settings (SNF-Projekt grafset)

11
2021
Judith Sägesser
Lidia Truxius
Michael Eckhart
Zeichnen und Schreiben gehören zweifelsohne zum Schulalltag in den ersten Schuljahren. Es wird davon ausgegangen, dass grafomotorische Tätigkeiten 30–60% der Schulzeit ausfüllen (McHale & Cermak, 1992). Nicht wenige Kinder bekunden damit jedoch Mühe (Hamsta-Bletz & Blöte, 1993; Santangelo & Graham, 2016), was zu vielen Anmeldungen in der Psychomotoriktherapie führt (Feder et al., 2000; Woodward & Swinth, 2002). Bei ungefähr 5–6% aller Kinder sind Schwierigkeiten im Ausmaß der Diagnose „Umschriebene Entwicklungsstörungen Motorischer Funktionen“ (UEMF) zu erwarten (Blank et al., 2019), die oft an massive grafomotorische Schwierigkeiten gekoppelt sind. Auch Kinder mit den Diagnosen ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder) oder ASS (Autismus Spektrum Störung) haben oft einen verstärkten Förderbedarf in diesem Bereich (ebd). Bekannt ist zudem, dass im Vergleich zu den Mädchen die Jungen häufiger von Schwierigkeiten betroffen sind. [...]
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64 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Grafomotorische Förderung - Wirkungen unterschiedlicher Settings (SNF-Projekt grafset) Judith Sägesser, Lidia Truxius, Prof. Dr. Michael Eckhart PHBern Ausgangslage und Problemstellung Zeichnen und Schreiben gehören zweifelsohne zum Schulalltag in den ersten Schuljahren. Es wird davon ausgegangen, dass grafomotorische Tätigkeiten 30 -60 % der Schulzeit ausfüllen (McHale & Cermak, 1992). Nicht wenige Kinder bekunden damit jedoch Mühe (Hamsta-Bletz & Blöte, 1993; Santangelo & Graham, 2016), was zu vielen Anmeldungen in der Psychomotoriktherapie führt (Feder et al., 2000; Woodward & Swinth, 2002). Bei ungefähr 5 -6 % aller Kinder sind Schwierigkeiten im Ausmaß der Diagnose „Umschriebene Entwicklungsstörungen Motorischer Funktionen“ (UEMF) zu erwarten (Blank et al., 2019), die oft an massive grafomotorische Schwierigkeiten gekoppelt sind. Auch Kinder mit den Diagnosen ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder) oder ASS (Autismus Spektrum Störung) haben oft einen verstärkten Förderbedarf in diesem Bereich (ebd). Bekannt ist zudem, dass im Vergleich zu den Mädchen die Jungen häufiger von Schwierigkeiten betroffen sind. Die Situation ist in vielen Schulklassen herausfordernd, denn die Heterogenität der grafomotorischen Kompetenzen der jungen Schülerinnen und Schüler ist groß (z. B. van Hartingsveldt et al., 2011; Volman et al., 2006). Aus den Schwierigkeiten mit der Grafomotorik resultieren oft Enttäuschungen, da im Vergleich mit den Mitschülerinnen und Mitschülern trotz großer Anstrengung schlechtere Resultate erzielt werden (Eckhart & Sägesser, 2016). Diese negativen Erfahrungen können schon früh zu Resignation oder Verweigerung führen (Stachelhaus, 2015). Grafomotorische Schwierigkeiten haben oft eine negative Auswirkung auf die Motivation, das Selbstvertrauen und die akademische Laufbahn (Christensen, 2005; Conelly, Dockrell & Barnett, 2005; Eckhart & Sägesser, 2016; Malloy-Miller, Polatajko & Anstett, 1995). Betroffene Kinder laufen Gefahr, ein negatives Fähigkeitskonzept zu entwickeln und das Schreiben möglichst zu vermeiden, wodurch sich der Rückstand auf andere Kinder vergrößert (Berninger, Mizokawa & Bragg, 1991; Feder & Majnemer, 2007). So erstaunt es wenig, dass der Nachteil, der durch eine schlecht automatisierte Handschrift entsteht, bis in die Mittelschulen nachgewiesen werden kann (Santangelo & Graham, 2015). Obwohl die grafomotorischen Leistungen in den ersten Schulklassen sehr heterogen sind und viele Kinder von Schwierigkeiten betroffen sind, wird Psychomotorik fast ausschließlich in Einzel- und Kleingruppensitzungen außerhalb des Klassenzimmers durchgeführt (vgl. Vetter et al., 2009). Diese therapeutische Ausrichtung klammert integrative bzw. inklusive Lösungen, wie sie auf nationaler und internationaler Ebene gefordert werden (UNO, 2006, Art. 24; EDK, 2007), weitgehend aus. Kann mit Einzelsettings eine adäquate Förderung der Kinder mit grafomotorischen Schwierigkeiten gewährleistet werden? Welche Wirkungen sind von verschiedenen Fördersettings zu erwarten, insbesondere wenn auf die betroffenen Kinder, ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sowie die Lehr- und Fachpersonen fokussiert wird? Zielsetzung und Fragestellungen Bei diesen Fragen setzt das vom schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt ‚grafset‘ (Grafomotorische Fördersettings; Nr. 100019_ 189187) an. Es hat zum Ziel, separative, integrative und inklusive Settings der grafomotorischen Förderung zu untersuchen. Ebenfalls soll der Zusammenhang zwischen Exekutiven Funktionen (EF) und der Grafomotorikleistung analysiert werden. Folgende übergeordneten Fragestellungen werden bearbeitet: 1) Inwiefern unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem grafomotorischem Förderbedarf in den verschiedenen Settings hinsichtlich ihrer grafomotorischen Leistung, ihres allgemeinen und schreibbezogenen Selbstkonzepts? 2) Welche Zusammenhänge bestehen zwischen den Grafomotorikleistungen und den Exekutiven Funktionen der untersuchten Kinder? 3) Wie wirkt sich die multiprofessionelle Zusammenarbeit in den verschiedenen Settings auf die Lehrpersonen und Psychomotoriktherapeutinnen und -therapeuten aus? VHN, 90. Jg., S. 64 -65 (2021) DOI 10.2378/ vhn2021.art06d © Ernst Reinhardt Verlag VHN 1 | 2021 65 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Methodik Für die Beantwortung der Fragestellungen wird ein Prä-Post-Test-Design gewählt, in dem die grafomotorische Förderung während 16 Wochen a) in herkömmlicher Form durch den/ die Psychomotoriktherapeut/ in allein, b) in einer integrativ ausgerichteten Zusammenarbeit zwischen Lehrperson und Psychomotoriktherapeut/ in oder c) mittels eines inklusiven Konzepts erteilt wird. In der Praxis haben sich inklusive Modelle der grafomotorischen Förderung bisher nur sehr eingeschränkt durchgesetzt. In Schweizer Schulen entspricht die Inklusion nach wie vor eher einer Vision. Um die Wirkungen von inklusiven Settings zu untersuchen, wurde deshalb eigens das inklusive Förderkonzept GRAFINK erarbeitet (vgl. Sägesser Wyss et al., im Druck). Es handelt sich hierbei um ein didaktisches Konzept, konkrete Fördermaterialien und Grundlagen für die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, die auf theoretischen und empirischen Erkenntnissen aus der Inklusionsbzw. Integrationsforschung basieren (vgl. Sägesser, Sahli Lozano & Simovic, 2018). Alle Lehr- und Fachpersonen aus den drei verschiedenen Settings erhalten im Rahmen einer Weiterbildung die gleichen Förderschwerpunkte und -materialien. Geplant ist die Teilnahme von 20 Klassen pro Setting, was einer Stichprobengröße von rund 1200 Schülerinnen und Schülern entspricht. Die Kinder arbeiten während der Interventionsphase in ihren Settings an den vorgegebenen Schwerpunkten. Die Kinder werden vor und nach dieser Phase sowie nach weiteren sechs Monaten getestet. Um Fragestellung 1 (Auswirkungen des Settings auf den grafomotorischen Leistungsfortschritt und auf das Selbstkonzept) zu analysieren, werden längsschnittliche hierarchisch-lineare Mehrebenen-Modelle eingesetzt. Fragestellung 2 (Zusammenhang zwischen grafomotorischer Leistung und exekutiven Funktionen) hat explorativen Charakter und wird mittels verschiedener längsschnittlicher Verfahren (autoregressive cross-lagged Panel-Modelle, Wachstumskurvenmodelle für zwei parallele Prozesse) untersucht. Um Fragestellung 3 (Bedeutung des Settings für den Bereich der Fach- und Lehrpersonen) zu bearbeiten, werden allgemeine lineare Modelle angewendet. Bedeutung Die schulische Integration ist ein aktuelles bildungspolitisches Thema. Bezogen auf pädagogisch-therapeutische Maßnahmen fehlen jedoch entsprechende Untersuchungen. Aus der Forschungsliteratur ist hingegen bekannt, dass der erfolgreiche Start in die Schule von der Bewältigung von komplexen, mit den grafomotorischen Fähigkeiten eng verbundenen Entwicklungsaufgaben abhängt. Es ist eine wichtige Forschungsfrage, wie Kinder im Rahmen der vorhandenen Ressourcen bestmöglich unterstützt werden können. Die verschiedenen Lern- und Leistungsvoraussetzungen schlagen sich u. a. in der großen Heterogenität bezogen auf grafomotorische Kompetenzen nieder. Eine Heterogenität, die im Schulalltag zu einer großen Belastung von Lehrpersonen und betroffenen Kindern führen kann. Das geplante Forschungsprojekt ermöglicht Aussagen bezogen auf separative, integrative und inklusive Settings. Es ist ein Novum, dass auch inklusive Förderformen untersucht werden können. Die Analyse von Outcomes auf Ebene der Kinder und der Fach- und Lehrpersonen ergibt einen differenzierten Einblick. Obwohl in der schulischen Praxis die Therapie in Grafomotorik zum Standard gehört, besteht wenig empirisch abgesichertes Wissen über die Wirkung der verschiedenen Settings. Die Ergebnisse können damit zukünftigen Formen therapeutischer grafomotorischer Förderung in der Schule wichtige Impulse geben. Zudem besteht eine eklatante Forschungslücke bezogen auf den Zusammenhang zwischen Grafomotorik und den Exekutiven Funktionen, der bis anhin noch kaum direkt und anhand einer großen Stichprobe untersucht wurde. Dieser Projektschwerpunkt wird in enger Kooperation mit der Universität Bern erforscht. Das Projekt kann die weiterführende Entwicklung von Interventionen in beiden Bereichen anregen und damit einen Beitrag für die Förderung von allen Kindern leisten. Weitere Informationen sowie Literaturangaben: www.grafset.ch judith.saegesser@phbern.ch