Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art07d
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Rezension: Mathematische Förderung von Kindern mit einer intellektuellen Beeinträchtigung
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Christoph Ratz
Schnepel, Susanne (2019): Mathematische Förderung von Kindern mit einer intellektuellen Beeinträchtigung. Eine Längsschnittstudie in inklusiven Klassen Münster: Waxmann. 234 Seiten, € 29,90
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VHN 1 | 2021 76 REZE NSION E N Schnepel, Susanne (2019): Mathematische Förderung von Kindern mit einer intellektuellen Beeinträchtigung. Eine Längsschnittstudie in inklusiven Klassen Münster: Waxmann. 234 Seiten, € 29,90 Die Dissertation von Susanne Schnepel stellt ein umfassendes Projekt dar. Sie ist als klassische empirische Studie aufgebaut, thematisiert dabei aber eine ganze Reihe sehr wichtiger und hochaktueller Themen des Mathematikunterrichts für Kinder mit geistiger Behinderung grundlegend und umfassend (die Autorin wählt den in der Psychologie gebräuchlichen Terminus „intellektuelle Beeinträchtigung“ [IB] und verwendet ihn weitgehend synonym mit dem im deutschen Kultusbereich üblichen Begriff „Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“). Der Theorieteil setzt ein mit einem Überblick über den Forschungsstand zu inklusiver Beschulung, dies zunächst für alle Formen von sonderpädagogischem Förderbedarf und anschließend für Lernende mit intellektueller Beeinträchtigung. Dieser Überblick argumentiert - wie alle Kapitel des Buches - ausschließlich auf der Basis empirischer, internationaler und explizit wissenschaftlicher und aktueller Literatur. Dies ist hervorhebenswert, denn noch immer gibt es zu diesem Thema viel zu wenig Literatur, die so konsequent diesen Anspruch aufrechterhält. Insbesondere zu didaktischen Themen und Lernmaterialien basieren viele Veröffentlichungen nach wie vor auf persönlicher Erfahrung oder beziehen sich auf veraltete oder nur teilweise rezipierte theoretische oder empirische Grundlagen. Dies wird in den folgenden Kapiteln noch deutlicher, die sich mit Lernen, Unterrichten und Mathematiklernen bei Kindern und Jugendlichen mit IB auseinandersetzen. Sehr präzise und differenziert wird die bestehende Theorie - v. a. Piaget - aufgearbeitet und vor dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse diskutiert. Diese Auseinandersetzung ist auch für sich genommen ausgesprochen gelungen und wertvoll. Sie bildet zudem eine Grundlage bzw. den Rahmen für die Konzeption des zu evaluierenden Unterrichts. Eine zweite Grundlage bildet die Auseinandersetzung mit Ansätzen zu inklusivem Unterricht, die zunächst allgemein, dann aber immer spezifischer für die Schülerschaft mit IB geführt wird. Von diesem theoretischen und empirischen Fundament ausgehend entwickelt Schnepel eine Konzeption, die sie in Schweizer inklusiven Klassen evaluieren möchte. Die Beschreibung der Konzeption ist eher knapp, aber sie stellt die wichtigen Eckpunkte klar, beschreibt Materialien und Spiele und achtet auf die durchgängige fachdidaktische Einbindung. Es wird sich allerdings bestätigen, dass eine Konzeption für eine derart heterogene Gruppe von Schülerinnen und Schülern sich kaum so beschreiben und umsetzen lässt, dass sie eng empirisch überprüft werden kann. Zunächst aber wird das Design der Längsschnittstudie beschrieben. Vorbildlich wird die Auswahl der Stichprobe und Kontrollgruppen (samt den damit verbundenen Schwierigkeiten) dargestellt, ebenso werden alle Messinstrumente (samt den damit verbundenen Schwierigkeiten), die Intervention (auch hier werden die Schwierigkeiten offen diskutiert) und die statistischen Verfahren erläutert. Die Ergebnisse spiegeln die ganze Palette der Themen dieser Schülerschaft wider, insbesondere die Rolle des IQ und des Vorwissens, die in sehr gut ausgewählten Regressions- und Clusteranalysen herausgearbeitet wird. Ergebnisse werden auch für die übrigen Kinder ohne Beeinträchtigungen in den 2. und 3. inklusiven Klassen dargestellt. Ein zunächst im Vordergrund stehendes Ergebnis ist, dass sich im Vergleich zur Kontrollgruppe kein direkter Erfolg der Konzeption zeigt. Dies ist wenig verwunderlich, zu umfangreich ist die Zahl der Störvariablen und die Heterogenität der untersuchten Schülerschaft. Wesentlich interessanter als dieses übergreifende Ergebnis sind die Aussagen infolge der durchgeführten Clusteranalyse; hier unterteilt Schnepel die Stichprobe in homogenere Gruppen. Dies stellt eine besondere Stärke dar im Umgang mit dieser so schwer zu beschreibenden Schülerschaft. Es zeigt sich dabei, wie gut das Entwicklungsmodell von Krajewski die Lernerfolge und -wege der Kinder mit IB abbildet und sich für die weitere Förderung eignet. VHN 1 | 2021 77 REZE NSION E N Überaus gelungen ist die offene und diskursive Diskussion. Die vielen sehr schwer zu kontrollierenden Variablen im Zusammenhang mit dem Lernen von Kindern mit IB - ob in der Inklusion oder in Förderschulen - werden offen angesprochen, was den Wert dieser umfassenden Studie noch steigert. Besonders erfreulich ist, dass hier ein neuer Standard für Unterrichtsforschung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gesetzt wird. Das wird dem Fach und dem (Mathematik-)Unterricht in Förderschule und Inklusion guttun! Prof. Dr. Christoph Ratz D-97074 Würzburg DOI 10.2378/ vhn2021.art07d Schäfer, Holger (2020): Mathematik und geistige Behinderung. Grundlagen für Schule und Unterricht Stuttgart: Kohlhammer. 221 S., € 34,- Holger Schäfer verfolgt mit dem vorliegenden Buch das Ziel, für den Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung einen fachlich und fachdidaktisch bestimmten Zugang zu schaffen. Er möchte außerdem den Austausch zwischen den Disziplinen Mathematik und Sonderpädagogik anregen und aktuelle Erkenntnisse zusammenfügen. Im ersten Teil beschreibt Schäfer die Besonderheiten von Lernenden mit geistiger Behinderung beim Mathematiklernen. Auch wenn aufgrund der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen individuelle Lernwege und Zugänge von großer Bedeutung sind, sollen mathematikdidaktische Grundlagen aus dem Grundschulbereich der inhaltlichen und didaktischen Orientierung für den Unterricht von Lernenden mit geistiger Behinderung dienen. Unter Bezugnahme auf empirische Ergebnisse zeigt Schäfer auf, dass ein früher Umgang mit Zahlen und Mengen wichtig ist. Ein Festhalten an einer rein pränumerischen Förderung, wie es lange Zeit an Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Praxis war, würde nicht aktuellen Erkenntnissen entsprechen. Diesem Ansatz folgend werden Konzepte vorgestellt, die sich an Entwicklungsmodellen zur mathematischen Entwicklung orientieren und anschlussfähig an die Grundschulmathematik sind. Es folgen methodische Überlegungen für die Förderung und den Unterricht. Schäfer betont, dass sowohl der konkrete Lebensweltbezug als auch der abstrakte Umgang mit mathematischen Problemen wichtige Elemente des Mathematikunterrichts für Lernende mit geistiger Behinderung sind. Zudem werden verschiedene analoge und digitale Medien, die häufig in Förderschulen eingesetzt werden, vorgestellt. Hier wäre eine kritische Analyse der einzelnen Medien dienlich gewesen, um zu prüfen, ob diese die vorgängig dargestellten Anforderungen erfüllen, beispielsweise bezüglich der Rechenblumen und -räder oder der Lernsoftware Budenberg. Da für die mathematische Förderung auch Bildungspläne der Orientierung dienen, werden im Kapitel „Curriculare Orientierung“ die Lehrpläne einiger Bundesländer und die Bildungsstandards der KMK kurz umrissen. Die von der KMK vorgenommene Unterteilung in prozessbezogene und inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen dient als strukturelle Grundlage der nächsten Kapitel, die den Hauptteil des Buches einnehmen. Mit vielen Praxisbeispielen wird aufgezeigt, wie die inhaltsbezogenen Kompetenzen aus den Bereichen Muster und Strukturen, Zahlen und Operationen, Raum und Form, Größen und Messen sowie Daten, Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten bei Lernenden mit geistiger Behinderung gefördert werden können. Für Lernende mit geringem mathematischen Vorwissen wird gezeigt, wie ein sensorischer Zugang zur Mathematik geschaffen werden kann. Im Buch werden an vielen Stellen Hinweise gegeben, wie ein nach aktuellem Erkenntnisstand ausgerichteter Mathematikunterricht für Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung gestaltet werden kann. Holger Schäfer kennt die Praxis und liefert sowohl Beispiele als auch Hintergrundwissen zu den Bildungsplänen
