Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art08d
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Rezension: Mathematik und geistige Behinderung
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Susanne Schnepel
Schäfer, Holger (2020): Mathematik und geistige Behinderung. Grundlagen für Schule und Unterricht Stuttgart: Kohlhammer.
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VHN 1 | 2021 77 REZE NSION E N Überaus gelungen ist die offene und diskursive Diskussion. Die vielen sehr schwer zu kontrollierenden Variablen im Zusammenhang mit dem Lernen von Kindern mit IB - ob in der Inklusion oder in Förderschulen - werden offen angesprochen, was den Wert dieser umfassenden Studie noch steigert. Besonders erfreulich ist, dass hier ein neuer Standard für Unterrichtsforschung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gesetzt wird. Das wird dem Fach und dem (Mathematik-)Unterricht in Förderschule und Inklusion guttun! Prof. Dr. Christoph Ratz D-97074 Würzburg DOI 10.2378/ vhn2021.art07d Schäfer, Holger (2020): Mathematik und geistige Behinderung. Grundlagen für Schule und Unterricht Stuttgart: Kohlhammer. 221 S., € 34,- Holger Schäfer verfolgt mit dem vorliegenden Buch das Ziel, für den Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung einen fachlich und fachdidaktisch bestimmten Zugang zu schaffen. Er möchte außerdem den Austausch zwischen den Disziplinen Mathematik und Sonderpädagogik anregen und aktuelle Erkenntnisse zusammenfügen. Im ersten Teil beschreibt Schäfer die Besonderheiten von Lernenden mit geistiger Behinderung beim Mathematiklernen. Auch wenn aufgrund der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen individuelle Lernwege und Zugänge von großer Bedeutung sind, sollen mathematikdidaktische Grundlagen aus dem Grundschulbereich der inhaltlichen und didaktischen Orientierung für den Unterricht von Lernenden mit geistiger Behinderung dienen. Unter Bezugnahme auf empirische Ergebnisse zeigt Schäfer auf, dass ein früher Umgang mit Zahlen und Mengen wichtig ist. Ein Festhalten an einer rein pränumerischen Förderung, wie es lange Zeit an Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Praxis war, würde nicht aktuellen Erkenntnissen entsprechen. Diesem Ansatz folgend werden Konzepte vorgestellt, die sich an Entwicklungsmodellen zur mathematischen Entwicklung orientieren und anschlussfähig an die Grundschulmathematik sind. Es folgen methodische Überlegungen für die Förderung und den Unterricht. Schäfer betont, dass sowohl der konkrete Lebensweltbezug als auch der abstrakte Umgang mit mathematischen Problemen wichtige Elemente des Mathematikunterrichts für Lernende mit geistiger Behinderung sind. Zudem werden verschiedene analoge und digitale Medien, die häufig in Förderschulen eingesetzt werden, vorgestellt. Hier wäre eine kritische Analyse der einzelnen Medien dienlich gewesen, um zu prüfen, ob diese die vorgängig dargestellten Anforderungen erfüllen, beispielsweise bezüglich der Rechenblumen und -räder oder der Lernsoftware Budenberg. Da für die mathematische Förderung auch Bildungspläne der Orientierung dienen, werden im Kapitel „Curriculare Orientierung“ die Lehrpläne einiger Bundesländer und die Bildungsstandards der KMK kurz umrissen. Die von der KMK vorgenommene Unterteilung in prozessbezogene und inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen dient als strukturelle Grundlage der nächsten Kapitel, die den Hauptteil des Buches einnehmen. Mit vielen Praxisbeispielen wird aufgezeigt, wie die inhaltsbezogenen Kompetenzen aus den Bereichen Muster und Strukturen, Zahlen und Operationen, Raum und Form, Größen und Messen sowie Daten, Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten bei Lernenden mit geistiger Behinderung gefördert werden können. Für Lernende mit geringem mathematischen Vorwissen wird gezeigt, wie ein sensorischer Zugang zur Mathematik geschaffen werden kann. Im Buch werden an vielen Stellen Hinweise gegeben, wie ein nach aktuellem Erkenntnisstand ausgerichteter Mathematikunterricht für Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung gestaltet werden kann. Holger Schäfer kennt die Praxis und liefert sowohl Beispiele als auch Hintergrundwissen zu den Bildungsplänen VHN 1 | 2021 78 REZE NSION E N und -standards. Diese Vielfalt führt dazu, dass der „rote Faden“ nicht an allen Stellen einfach zu finden ist. Das Buch ist insbesondere für Lehrkräfte geeignet, die sich erst wenig mit Mathematikdidaktik auseinandergesetzt haben und sich einen Überblick über die mathematische Förderung von Lernenden mit geistiger Behinderung verschaffen wollen. Leserinnen und Leser, die ihr Wissen zu einzelnen Bereichen vertiefen möchten oder sich für Forschungsergebnisse interessieren, finden zahlreiche Verweise auf weiterführende Literatur. Dr. phil. Susanne Schnepel CH-8032 Zürich DOI 10.2378/ vhn2021.art08d Pletschko, Thomas; Leiss, Ulrike; Pal-Handl, Katharina; Proksch, Karoline; Weiler- Wichtl, Liesa J. (Hrsg.) (2020): Neuropsychologische Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Praktische Behandlungskonzepte bei neurokognitiven Funktionsstörungen Berlin: Springer. 313 S., € 49,99 Neuropsychologische Therapie mit Kindern und Jugendlichen ist im Springer-Verlag erschienen. Das Herausgeberwerk hat den Untertitel Praktische Behandlungskonzepte bei neurokognitiven Funktionsstörungen. Somit löst es hohe Erwartungen der Leserinnen und Leser aus, da hierzu für diese Altersgruppe keine systematische Darstellung auf dem deutschsprachigen Markt erhältlich ist. Dem Buch wird eine Struktur in zwei Hauptteile gegeben. Der erste allgemeine Teil behandelt die Einsatzgebiete und Fragestellungen, Grundprinzipien sowie die Relevanz der Diagnostik. Natürlich fehlt ein Kapitel zur Teilhabe nicht und ICF-CY wird beleuchtet. Nachdem auf die Therapie bei Kindergartenkindern und Jugendlichen gesondert eingegangen wird, endet der erste Teil mit einem interessanten Exkurs zur Psychopharmakologie. Im zweiten Teil des Buches werden die Behandlungen der einzelnen neuropsychologischen Funktionen bearbeitet, wobei gleich mehrere Kapitel Themen der Logopädie aufgreifen: auditive Wahrnehmung, Sprache sowie schulische Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Im ersten Kapitel des Buches wird darauf hingewiesen, dass Kinder nicht einfach nur kleine Erwachsene sind und Konzepte aus der Erwachsenenneuropsychologie nicht ohne Weiteres zu übernehmen sind. Das wird an mehreren Stellen des Buches gerne wiederholt. Es wird richtig gefordert, dass die „Entwicklung und Etablierung von Forschungs- und Therapieansätzen“ wichtig ist, da es im Gegensatz zur Diagnostik kaum Studien zur Therapie gibt. In Zukunft sei Methodenentwicklung für diagnostische Verfahren wie auch für Therapieprogramme vonnöten. Das Kapitel über das Konzept der Teilhabe geht gelungen auf die verschiedenen Bildungssysteme der DACH-Region ein. Dabei werden auch die rechtlichen Grundlagen von Deutschland, Österreich und der Schweiz erwähnt, sodass der Aspekt der Teilhabe in Kindergarten und Schule angemessen besprochen wird. Der Bedeutung der digitalen Medien und Technologie ist ein eigenes Kapitel gewidmet, was sicher nicht nur in Zeiten von Corona seine Berechtigung hat. Den beiden Altersgruppen 3 -6-Jährige und Jugendliche wird mit jeweils einem extra Kapitel Aufmerksamkeit geschenkt. Für die Kleinkinder wird der multimodale Ansatz hervorgestrichen sowie die Sinnhaftigkeit der Kombination von Interventionen. Eine ausführliche Tabelle zeigt Entwicklungsförderprogramme, deren Wirksamkeit überprüft wurde, übersichtlich auf. Drei Autorinnen und ein Autor verfassen im zweiten Teil ein Kapitel zur Sprache, das ich aus dem Blickwinkel einer Logopädin lese. Die Autor/ innen bemühen sich, die aktuelle Terminologie- Diskussion zu besprechen. Ganz richtig fordern sie die Aufnahme von erworbenen Sprach- und Kommunikationsstörungen und gehen auf die Aphasie ein.
