eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 90/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art11d
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2021
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Rezension: Was ist Behinderung?

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2021
Christian Mürner
Egen, Christoph (2020): Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne Bielefeld: trancript Verlag.
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VHN 1 | 2021 80 REZE NSION E N vention auseinander. Die Qualität der einzelnen Kapitel und Abschnitte ist sehr unterschiedlich. Wo sich der Autor auf in der Aggressionsforschung verankerte Autoren wie Franz Petermann oder Herbert Scheithauer bezieht, ist das Buch solide. Einige Passagen des Werks beziehen sich jedoch auf nicht wissenschaftliche und teils nicht empirisch belegte Alltagsaussagen. Als besonders problematisch erachtet der Rezensent die beiden Theoriekapitel. In einem ersten Theorieteil werden der seit den 1960-er Jahren vielfach widerlegten Trieb- und Katharsistheorie der Aggression Freuds und dem Dampfkesselmodell von Konrad Lorenz viel Raum gewidmet, ohne dass genug deutlich gemacht wird, dass die Grundannahme dieser Modelle, nämlich dass das Ausleben von Aggression weniger aggressiv mache, falsch ist. Die Fachwelt verdankt sowohl Sigmund Freud wie auch Konrad Lorenz enorm viel. Doch auf dem Gebiet aggressiven Verhaltens lagen sie, wie wir seit den 1960-er Jahren wissen, völlig daneben. Ihre Annahmen (Stichwort: der Mensch als Opfer seiner Triebe, Katharsis, Todestrieb) gehören deshalb in den pädagogischen Giftschrank. Danach folgen kurze Einführungen in die Frustrations-Aggressions- Hypothese und in lerntheoretische Ansätze. In einem weiteren Theoriekapitel entwickelt der Autor auf der Grundlage von Maslows menschlichen Bedürfnissen (1954) und Grawes psychischen Grundbedürfnissen (2004) ein neues Modell, das sogenannte „Auctoritas-Modell“, welches auf den Grundbedürfnissen Bindung, Selbstwert, Kontrolle und Lustgewinn aufbaut. Eine Orientierung an Grundbedürfnissen ist sicher nicht verkehrt, jedoch sehr einseitig. Das Werk hätte an Qualität gewonnen, wenn auch anderen theoretischen Ansätzen mehr Raum gewidmet worden wäre (Exitation Transfer, reaktive und proaktive Aggression, interaktionale Modelle usw.). Stellenweise wird aggressives Verhalten auch idealisiert. Dabei weist der Autor zu wenig deutlich darauf hin, dass Aggression nicht nur soziale Systeme unterminiert, sondern auch den Täterinnen und Tätern schadet. Ich bin überzeugt, dass Alexander Prölß mit seinem Werk nur die besten Absichten verfolgt und dass es ihm ein echtes Anliegen ist, Erkenntnisse der psychologisch-pädagogischen Aggressionsforschung mit handlungsorientiertem Praxiswissen zu verknüpfen und an die pädagogische Praxis weiterzugeben. Ich hoffe aber, dass es ihm in künftigen Arbeiten auf dem Gebiet aggressiven Verhaltens gelingen wird, den Lesenden eine breitere Theoriebasis zu vermitteln. Denn ohne eine fundierte Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstandes und eine deutliche Distanzierung von veralteten Theoriemodellen und Alltagstheorien könnte das Werk in der pädagogischen Praxis mehr Schaden als Nutzen anrichten. Prof. Dr. habil. Alexander Wettstein CH-3012 Bern DOI 10.2378/ vhn2021.art10d Egen, Christoph (2020): Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne Bielefeld: trancript Verlag. 266 S., € 49,- Der Buchtitel fragt: „Was ist Behinderung? “, doch mit dem Behindertsein oder einer neuen Ontologisierung hat die Frage wenig zu tun. Denn Christoph Egen, Klinikmanager an der Medizinischen Hochschule Hannover, hat das Ziel, „Behinderungsprozesse vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ zu beschreiben. Behinderungsprozesse bestimmt er nachdrücklich „als diejenigen sozialen Prozesse […], die dazu führen, Menschen aufgrund ihrer Gebrechlichkeit, Einschränkung oder Schädigung abzuwerten und auszugrenzen […]“ (S. 19). Im ersten Abschnitt werden das medizinische, das soziale und das kulturelle „Modell von Behinderung“ sowie dasjenige der WHO rekapituliert, im zweiten das juristische Verständnis von Behinderung. Ein Mensch gelte als „behindert“, wenn er „durch eine dauerhafte Funktionseinschränkung“ von der vorherrschenden „Normalität“ abweiche, „darauf eine negative Bewertung“ erfolge, die seine „gesellschaftliche Teilhabe“ verhindere (S. 57). Aufgrund „gesellschaftlicher Vorstellungen“ und der „jeweiligen Definitionsmächte“ werde ein Mensch mit einer spezifischen Funktionseinschränkung, z. B. ein blinder Mensch, bewertet (S. 63). Eine „prozesssoziologische Vorgehensweise“ könne „eine sachgerechte und weniger affektbeladene Erklärung“ (S. 74) sowie Orientierung bieten. VHN 1 | 2021 81 REZE NSION E N Es fällt auf, dass die Verwendung von ‚Behinderung‘ mit oder ohne Anführungszeichen irritiert. Im Leitbegriff ‚Behinderungsprozess‘ ist sie wie erwähnt durch Abwertung und Ausgrenzung definiert, ansonsten soll man nach Vorschlag Egens den Begriff Behinderung durch Benachteiligung ersetzen und individuell von Funktionseinschränkung reden. Behinderung mit Anführungszeichen wird als Hervorhebung entweder distanzierend, ironisch, wortspielerisch oder metaphorisch gebraucht. Egen: „Der Begriff der ‚Behinderung‘ stellt aus Sicht des Autors die größte ‚Behinderung‘ beim Nachdenken über ‚Behinderung‘ dar […]“ (S. 234). In den drei detaillierten Kapiteln über Behinderungsprozesse im Mittelalter, der Moderne und Postmoderne bringt Egen anhand einiger Quellen und vor allem der einschlägigen Sekundärliteratur vielfältige plausible Belege und Interpretationen. Für das Mittelalter kommt er zum Schluss, dass es keine „systematischen Behinderungsprozesse“ gegeben habe, da die „Variationen auffälliger Gestalt und Verhaltensweisen“ umfassender und „unmittelbar erfahrbar“ (S. 106f.) gewesen seien. In der Moderne jedoch habe sich durch die Verlagerung der „Definitionsmacht“ von der Religion zur Medizin der Bereich der Normalität verengt und „die Ränder der ‚Abweichung‘ hingegen“ ausgedehnt (S. 164). Für die Postmoderne dagegen postuliert Egen, „dass sich die Grenzen dessen, was als ‚normal‘ angesehen wird - aufgrund der Vielzahl von Idealen und des Selbstbestimmungsanspruchs - gegenüber der Moderne weit geöffnet haben“ (S. 178). Der postmoderne „Pluralisierungsprozess“ erzeuge allerdings eine „permanente Entscheidungsüberlastung“ (S. 202), beispielsweise bei der Pränataldiagnostik im Zusammenhang mit Funktionseinschränkungen. Fürs Fazit zieht Christoph Egen zu den soziologischen die „persönlichen Reflexionen“ (S. 209) hinzu. „An keiner Stelle“ (S. 228) sei er darauf gestoßen, dass die bisherige Forschung den „eigenen Involvierungsgrad“ berücksichtigt habe. Abgesehen davon, dass vielleicht ein Blick in ausgewählte heil-, sonder- oder behindertenpädagogische Literatur hier etwas beigetragen hätte, ist nach Egen der „Betroffenheitsgrad des Einzelnen von Behinderungsprozessen […] entscheidend von der sozialen Situation des funktionseingeschränkten Menschen geprägt“ (S. 209f.). Zum bekannten, erfolgreichen, mit den Zehen schreibenden Kalligrafen Thomas Schweicker (1541 -1602) bemerkt Egen in einer Fußnote, dass dies „vermutlich vor allem durch den relativen Wohlstand der Familie“ (S. 107) möglich geworden sei. Bei dieser die individuelle Leistung relativierenden Erklärung verflüchtigt sich leider in der Darstellung die von Egen oft genannte Ambivalenz (vgl. S. 39, 62, 105, 123, 137, 144 usw.). Könnte sie als die erweiterte, produktive Perspektive der „Probleme der Aufwertung und Abwertung […] des gesellschaftlichen Daseins von Menschen“ (S. 209) verstanden werden? Letzteres ist ein Zitat von Egens markantem theoretischen Referenzautor, dem Soziologen Norbert Elias, in dessen unveröffentlichtem Nachlass er für sein Buch recherchiert hat. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2021.art11d