Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art21d
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Rezension: Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste
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Yvonne Wechuli
Westphal, Manuela; Wansing, Gudrun (Hrsg.) (2019): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste Wiesbaden: VS. 326 S., € 29,99
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VHN 2 | 2021 160 REZE NSION E N Westphal, Manuela; Wansing, Gudrun (Hrsg.) (2019): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste Wiesbaden: VS. 326 S., € 29,99 Manuela Westphal und Gudrun Wansing legen hier einen Folgeband zu „Behinderung und Migration“ (2014) vor, mit der eigenen Einschätzung, dass es sich um eine praxisnahe Fortsetzung handelt. Von einem gestiegenen fachlichen Interesse ist im Lichte der Fluchtzuwanderungen in den deutschsprachigen Raum seit 2015 auszugehen. Forschung und Praxisreflexionen an der Schnittstelle Behinderung/ Flucht bleiben weiter hochaktuell und rar, weshalb der vorliegende Sammelband Anschlussfähigkeit an die Praxis verspricht. Er ist in folgende Teile gegliedert, ergänzt durch eine Einführung der Herausgeberinnen sowie ein Autor/ innenverzeichnis: Teil I: Lebenswelt und Biografie Teil II: Flucht und Behinderung Teil III: Sozial- und Gesundheitsleistungen und Recht Teil IV: Inter- und transkulturelle Öffnungen Teil V: Inklusive Pädagogik und Bildung Eher rechtlich orientierte Beiträge wechseln sich mit Beiträgen aus einer vielfältigen Praxis ab, die sich teilweise mit sehr spezifischen Gruppen (z. B. Familien mit iranischer Migrationsbiografie) beschäftigen und dabei ebenfalls wechselnd einen Zugang über Migration oder über Flucht herstellen. Dabei bleibt der Fokus national, wobei dies im sozialrechtlichen Bereich auch sinnvoll ist. In ihrer Einführung tragen die Herausgeberinnen sozialrechtliche Aspekte zusammen, wie die relevante (aber weiterhin lückenhafte) Berichterstattung, gesetzliche Verpflichtungen, gesellschaftliche wie fachliche Trends und Potenziale für positive Entwicklungen (in Recht und Praxis). Aus Teil I („Lebenswelten und Biografien“) lassen sich in der Auseinandersetzung mit Fallbeispielen einige Praxis-Anforderungen ableiten: Eine differenzierte Betrachtung von Behinderung und Migration verbietet vorschnelle Deutungen und denkt subjektive Lebenswelten mit. So kann bei jüdischen Kontingentflüchtlingen nicht unbedingt von einer „doppelten Belastung“ durch Behinderung und Migration ausgegangen werden. Teil II („Flucht und Behinderung“) fokussiert Versorgungs- und Unterbringungsstrukturen und insbesondere Barrieren im Zugang zu Leistungen (vornehmlich des Gesundheitswesens) wie auch in Wohnunterkünften. Aus einer strukturellen Unterversorgung und weitgehenden Unsichtbarkeit der Gruppe lässt sich schließen, dass Deutschland seinen Verpflichtungen des besonderen Schutzes geflüchteter Menschen (u. a. Art. 25 UN-BRK) noch nicht nachkommt. Die Beiträge in Teil III zu „Sozial- und Gesundheitsleistungen und Recht“ vertiefen diese rechtlichen Verpflichtungen sowie die regional sehr unterschiedliche tatsächliche Leistungsgewährung. Sie liefern Argumentationsgrundlagen aus Aufenthalts-, Ausländer- und Sozialrecht, die Fachkräfte nutzen können, um geflüchtete Menschen mit Behinderungen dabei zu unterstützen, ihre Anspruchsberechtigungen durchzusetzen. So ist eine regelhafte Feststellung von Menschen mit Behinderungen als besonders schutzbedürftige Personen nach dem höherrangigen EU-Recht eigentlich genauso vorgeschrieben wie die Erbringung äquivalenter Leistungen zur gesetzlichen Krankenversicherung - auch bei chronischen Erkrankungen. Teil IV thematisiert „Inter- und transkulturelle Öffnungen“ der Behindertenhilfe. Dabei verdeutlichen die reflektierenden Praxiseinblicke der Autorinnen, wie Familien mit (Flucht-)Migrationshintergrund und einem behinderten Kind (trans-)kultursensibel und ressourcenorientiert unterstützt werden können. Teil V stellt die besondere Bedeutung „Inklusiver Pädagogik und Bildung“ an der Schnittstelle (Flucht-)Migration und Behinderung heraus. Die Autor/ innen fordern eine machtkritische, intersektionale Analyse rassistischer wie ableistischer Diskriminierung, individuelle Förderung sowie interprofessionelle Vernetzung innerhalb und außerhalb von Schulen (z. B. in KiTas oder der Kinder- und Jugendhilfe). VHN 2 | 2021 161 REZE NSION E N Das Ziel einer praxisnahen Vertiefung wurde mit dem vorliegenden Band weitestgehend erreicht. Für uns bleibt nach der Lektüre die Frage offen, ob Fluchterfahrungen von nicht durch Flucht bedingten Migrationsprozessen unterschieden werden können oder gar sollten. Eine differenzierende Verortung der Herausgeberinnen, bspw. bezüglich kritischer Debatten über die Dichotomisierung von Flucht und ökonomisch motivierter Migration (siehe z. B. Pisani & Grech, 2015), wäre gerade als Orientierung in einem sehr komplexen Forschungs-, Politik- und Praxisfeld für eine aus der Heilpädagogik und ihren Nachbargebieten stammende Leserschaft interessant und hilfreich. Quellen Pisani, M. & Grech, S. (2015). Disability and Forced Migration: Critical Intersectionalities. Disability and the Global South, 2 (1), 421 -441. Wansing, G. & Westphal, M. (Hrsg.) (2014). Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität, Intersektionalität. Wiesbaden: VS. Yvonne Wechuli, Dominic Dinh D-50931 Köln DOI 10.2378/ vhn2021.art21d Keller, Christoph (2020): Jeder Krüppel ein Superheld Splitter aus dem Leben in der Exklusion Zürich: Limmat Verlag. 216 S., € 24,- Wer schreibt über wen? Und vor allem wie, mit welchen Worten und aus welcher Perspektive? Ist allein über sich schreiben relevant? In den Literaturdebatten spielt diese Art von Fragen eine aktuelle Rolle. Christoph Keller verpackt dies in ein Gedicht: „ist geld / verdienen / / mit dem schreiben über / eine behinderung / die man nicht hat / / eine form von / kolonialismus? “ (S. 47) Christoph Keller, geboren 1963 im schweizerischen St. Gallen, hat sich entschieden: „Warum Krüppel ‚Krüppel‘ sagen dürfen, alle anderen aber unter keinen Umständen. Und warum Behinderung ein Grund zum Stolz ist“ (hinterer Umschlag). Das klingt wie eine Renaissance der „Krüppelbewegung“, sozusagen neue „Krüppelschläge“ (Christoph Franz, 1983). Mit Berichten „aus dem Leben in der Exklusion“ legt Keller eine überzeugende, autobiografisch orientierte, literarische Collage und Beziehungsgeschichte vor. Sie zeigt, dass die Komplexität der poetischen Fragestellungen doch größer ist als erwartet - in diskreter Erinnerung an Max Frischs „Fragebogen“. Keller lehnt eine Einladung zu einer Vernissage ab mit dem Satz. „Danke, doch aus meiner sitzenden Perspektive würde ich doch nur Ärsche sehen.“ Und fügt dann hinzu: „War dies a) unangemessen? / b) ein Akt der Redefreiheit? / c) diskriminierend? / d) witzig? / e) undankbar? / f) kunstfeindlich? “ (S. 28). Keller wurde bekannt durch seinen Erinnerungsroman „Der beste Tänzer“ (S. Fischer Verlag, 2003). Er handelt vor allem von seinem Vater, Unternehmer, Kunstsammler, Bankrotteur, Alkoholiker. Er verstieß seinen Sohn als „Krüppel“. Keller lebte mehr als 20 Jahre in New York. Wegen Donald Trump verließ er die USA und kehrte zusammen mit seiner Frau, der Lyrikerin Jan Heller Levi, zurück in die Schweiz. Mit vierzehn Jahren erhielt er die Diagnose „Spinale Muskeldystrophie“ (SMA III) - eine progressive Erkrankung, „Muskelschwund“. Immer weniger Meter kann er zu Fuß zurücklegen und ist schließlich auf einen Rollstuhl angewiesen. In der Folge unterscheidet Keller zwischen dem gehenden und dem rollenden Ich, genauso wie zwischen seinem amerikanisches Englisch und Deutsch schreibenden Ich. Er sagt: „Mein Schreiben hat nichts mit SMA zu tun.“ Die prägnanten Beschreibungen seiner alltäglichen Angelegenheiten zwischen zusätzlichem Aufwand und komischen Situationen beeindrucken durch das fragmentarische „Versöhnen von Widersprüchen“ (S. 31). Der schwarze Platzanweiser im Kino sagt dem Rollstuhlmann, wo er zu sitzen habe. Dieser fragt sich, ob jener noch nie etwas von der Bürgerrechtlerin Rosa Parks gehört
