Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art24d
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Das Provokative Essay: „Unerziehbare“, „Systemsprenger“, „Austherapierte“ – und dann als „Kriminelle“ in die Jugendstrafanstalt?
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Birgit Herz
Zusammenfassung: Je nach individuellem Gewinn pervertiert der Ökonomisierungsstress den ehemaligen sozialen Konsens über ethisch akzeptierte Werte und Normen. Im Wettbewerb globaler Kapitalinteressen werden Exklusion und Ausschluss der „Überflüssigen“ (Baumann, 2005) mittels abwertender Sprachsymbolik legitimiert. Unsicherheit als politisches Steuerungsinstrument führt zu Selbstoptimierungsstrategien, an denen ja nicht nur Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen, sondern auch die Professionellen scheitern. Schule und Kinder- und Jugendhilfe sind die zentralen Institutionen, in denen die hegemonialen Normalitätsimperative durchgesetzt werden und wo vor dem Hintergrund reduzierter Ressourcen Segregationsprozesse stattfinden, die sich als individuelle Defizite legitimieren lassen. Die Institution Jugendstrafvollzug schließlich repräsentiert die symbolische Ordnung sozialstruktureller Exklusionsprozesse.
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169 169 VHN, 90. Jg., S. 169 -174 (2021) DOI 10.2378/ vhn2021.art24d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > „Unerziehbare“, „Systemsprenger“, „Austherapierte“ - und dann als „Kriminelle“ in die Jugendstrafanstalt? Birgit Herz Leibniz-Universität Hannover Zusammenfassung: Je nach individuellem Gewinn pervertiert der Ökonomisierungsstress den ehemaligen sozialen Konsens über ethisch akzeptierte Werte und Normen. Im Wettbewerb globaler Kapitalinteressen werden Exklusion und Ausschluss der „Überflüssigen“ (Baumann, 2005) mittels abwertender Sprachsymbolik legitimiert. Unsicherheit als politisches Steuerungsinstrument führt zu Selbstoptimierungsstrategien, an denen ja nicht nur Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen, sondern auch die Professionellen scheitern. Schule und Kinder- und Jugendhilfe sind die zentralen Institutionen, in denen die hegemonialen Normalitätsimperative durchgesetzt werden und wo vor dem Hintergrund reduzierter Ressourcen Segregationsprozesse stattfinden, die sich als individuelle Defizite legitimieren lassen. Die Institution Jugendstrafvollzug schließlich repräsentiert die symbolische Ordnung sozialstruktureller Exklusionsprozesse. Schlüsselbegriffe: Normabweichendes Verhalten, Ökonomisierungsstress, Exklusion, Jugendstrafvollzug “Uneducable”, “Systemic Offenders”, “Out of Treatment” - And then as “Criminals” Into the Juvenile Detention Centre? Summary: The pressure of economization perverts the former social consensus on ethically accepted values and norms. In a climate of overall competition due to global capital interests, exclusion and marginalization of the so called “superfluous” (Baumann, 2005) are disseminate for example by a negative public language. Self-optimization becomes a prominent role to manage individually the political instruments of control and conformity. The failure of many children and young people within precarious life circumstances is individualized and used for sanctuary interventions within different social services. Schools and the child and youth welfare system are the central institutions in which the hegemonic imperatives of normality are enforced and segregation processes take place, which can be legitimized as individual deficits. Finally, the incarceration of young people represents the symbolic order of socio-structural processes of exclusion. Keywords: Behavior deviating from norms, stress of economization, exclusion, juvenile penal system DAS PROVOK ATIVE ESSAY TH EME NSTR ANG Erziehungshilfe in Zwangskontexten „Kriminalität, Betrug sind normal geworden, nicht zuletzt an den Spitzen der Gesellschaft.“ (Winkler, 2016, S. 86) Soziales und Moral werden zunehmend - je nach individueller Gewinnmaximierungsabschätzung - „quasi natürlich“ im Jargon wertfreier Sachrationalität neu justiert. Die Pervertierung ehemals konsensuell von der Dominanzkultur ethisch akzeptierter Werte und Normen wird nicht nur routinemäßig in den Trash-Medien vorgeführt; sie zeigt sich ebenso in der skandalösen Ignoranz namhafter Kirchenrepräsentanten gegenüber der in ihren Einrichtungen jahrzehntelang praktizierten (nicht nur) sexuellen Gewalt oder in der politischen Verleugnungsallianz hinsichtlich des europäischen Flüchtlingselends. Die sichtbare Erosion der wohlfahrtsstaatlichen Verantwortungsgemeinschaft kommt nicht zuletzt in vielen, oftmals VHN 3 | 2021 170 BIRGIT HERZ „Unerziehbare“, „Systemsprenger“,„Austherapierte“ - „Kriminelle“? DAS PROVOK ATIVE ESSAY dramatischen Kürzungen der öffentlichen bzw. kommunalen Dienstleistungen zum Ausdruck. Hiervon betroffen sind insbesondere auch die sozialen Infrastrukturen ehemals wohlfahrtsstaatlicher Förder- und Unterstützungssysteme für Kinder, Jugendliche und erwachsene Familienangehörige. Die Individualisierung und Privatisierung von riskanten Transitionsprozessen im Lebenslauf zeigt sich bspw. in aller Deutlichkeit im Sektor des Übergangsmanagements von der Schule in den Beruf oder im restriktiven Hilfeangebot an Frauenhäusern oder Notobdach. Die Kollateralschäden dieses Ökonomisierungsstresses führen geradewegs in Exklusionsprozesse, die allerdings mittels abwertender Sprachsymbolik die derart „Ausgeschlossenen“ pejorativ stigmatisieren: „Die Verweigerung von Anerkennung bzw. die Legitimierung gradueller Ausschließung reicht… von Defizitkategorien (unterentwickeltes Humankapital, Qualifikations- und Bindungsdefizit, Krankheit, Benachteiligung oder gar Unterprivilegierung) über Kategorien der Devianz (Psychische Krankheit, Hilfebedürftigkeit, Auffälligkeit, Problemgruppen, Risikogruppen und immer noch: Verwahrlosung oder dissozial) zu Kategorien der Asozialität (Unwürdigkeit, Minderwertigkeit, Wahnsinn, Degeneration, Bildungsunfähigkeit, Unerziehbarkeit, Verbrechen, Sozialschwächlichkeit)“ (Cremer-Schäfer & Lutz, 2019, S. 39). Schule: Zur Bildung und Erziehung von „Humankapital“ Kinder und Jugendliche werden in einer zudem zunehmend digitalisierten „Wertegemeinschaft“ sozialisiert und sie habituieren sich in deren kultur- und epochalspezifischen Lebensgestaltungsnormen (vgl. Herz, 2020). Unter den Bedingungen multikausaler und hochkomplexer Risikobiografien, die bspw. durch schwierige Lebensverhältnisse (familiäre Gewalt, Suchtmittelabhängigkeit, Hafterfahrungen) sowie hoch belastete Peers, psychisch kranke oder alleinerziehende Eltern sowie u. U. durch den sozioökonomischen Status der primären Bezugspersonen zugeschrieben werden, zeigen sich die daraus entstehenden konfliktreichen Diskontinuitäten zunächst insbesondere in der Schule. Mit der allgemeinen Schulpflicht und dem damit einhergehenden Recht auf Bildung fungiert die Institution Schule gleichsam als eine Art Metaberechtigungssystem für Bildung und Erziehung und stellt für alle im schulpflichtigen Alter den zentralen Sozial- und Lebensraum dar. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, also auch die der Bildungs- und Erziehungssysteme, betrifft Heranwachsende insofern fundamental, als Schule - ein prägender Teil ihres Lebens - auf einen Lehrbetrieb mit standardisierter Massenproduktion reduziert wird (vgl. Peter, 2018). Dieser Ökonomisierungsstress wird unübersehbar mit einer Wettbewerbsdiktatur befeuert: „The public accordability of school leaders is intensified through inspection reports, examination results and league tables, bringing pressure on schools to maximise results! “ (Coleman, 2020, S. 69). Maximierung und Optimierung von Leistung in einer universellen Marktdynamik um „Exzellenz“ führt zu generationsübergreifenden Transformationsprozessen, die ihrerseits die Pole zwischen Normalität und Abweichung vitalisieren. Selbstführungstechniken als Technologien der Zeitökonomisierung in Lehrer/ innenkollegien sind en vogue - und haben mit der Covid-19- Pandemie eine neue Dimension erreicht. Kinder und Jugendliche allerdings, die psychische und physische Grenzverletzungen erdulden mussten oder müssen, haben und fordern einen hohen Unterstützungs- und Hilfebedarf. In ihrem normverletzenden Verhalten (aufgrund des oftmals grenzüberschreitenden Machtmissbrauchs von Erwachsenen) bringen diese Kinder und Jugendlichen durch teilweise hoch dramatische Inszenierungen alle emotionalen Dynamiken der Angst, Hilflosigkeit, VHN 3 | 2021 171 BIRGIT HERZ „Unerziehbare“, „Systemsprenger“,„Austherapierte“ - „Kriminelle“? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Verzweiflung, Wut und Einsamkeit meist nonverbal - d. h. auf der Verhaltensebene - zum Ausdruck. Im euphemistisch bezeichneten „Home-Schooling“ führen derartige Selbstinszenierungen bspw. zu Avataridentitäten, deren nonverbale Kommunikation Lehrkräfte überfordert. Zugleich kann Schule solche Verhaltensweisen nicht ignorieren; die toxischen Lebensumstände, die u. U. bereits zu einer emotionalen Analphabetisierung betroffener Schülerinnen und Schüler geführt haben, sind allerdings mit dem managerialen (vgl. Gewirtz, 2002) und ingenieuralen (vgl. Illien, 2005) Habitus heutiger Lehrkräfte nicht mehr vereinbar. Es stellt sich hier unweigerlich die Frage, ob der deutliche Anstieg der Kinder und Jugendlichen mit der Zuschreibung eines förderpädagogischen Unterstützungsbedarfes in der emotionalen und sozialen Entwicklung sowohl in den Förderschulen als auch in den inklusiven Beschulungsformaten - trotz demografischen Rückgangs aller Schüler/ innen! - auch mit dieser Veränderung des Lehrer/ innenhabitus u. U. in Verbindung steht? Der Bologna-Prozess zeitigt zwar beachtliche Erfolge im Hinblick auf eine deutlich gesunkene Studienzeitverlängerung und ebenso deutlich höhere Abschlussquoten der Lehramtsstudiengänge, was allerdings einherging mit einem radikalen Konformismus- und Anpassungsdruck durch die veränderten Universitätsstrukturen. Insofern ist die „Übersetzung“ der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler/ innen in Ziel- und Leistungsvereinbarungen als Vertragsbeziehungen logische Konsequenz. Ein glorifizierender Diskurs über Selbstregulation und Ressourcen geht obendrein einher mit der Instrumentalisierung von Diagnostik zur Kontrolle und zur möglichst präzisen Etikettierung normabweichenden Verhaltens. Eine so geartete Rekategorisierungsvolte in der (Sonder-)Pädagogik und Pädagogischen Psychologie wird u. a. auch geschürt durch die Drittmittelopiate des BMBF bspw. über die 2019 erfolgte Forschungsförderausschreibung über „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“. Diagnostische Konzepte und Verfahren sollen innovative Fördermaßnamen erforschen. Die Erkenntnisgewinne legitimieren trotz aller Ressourcen- und Empowermenteuphorie und -rhetorik konsequenterweise die Legitimation eines Defizits: „Over the past three decades, there has been a discernible expansion in the diagnostic categories available for the description of students’ individual deficits“ (Slee, 2019, S. 11). Mit - auch innovativen - terminologischen Codierungen normabweichenden Verhaltens wiederum verbunden sind tiefgreifende Veränderungen, die gleichermaßen individualisieren wie responsabilisieren, worauf ja die oben zitierte Aussage von Crämer-Schäfer und Lutz bereits verweist. Dass „die Menschen“ selbst für ihr Leben, Los und Schicksal verantwortlich seien, ist freilich weder neu noch überhaupt eine Erkenntnis. Dass die Rede von Selbstverantwortung sich nun auch an die Jüngsten richtet, ist allerdings eine „neue“ Zumutung! Zunächst bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass stigmatisierende fachwie alltagssprachliche Kategoriensysteme im Sinne von Krisenbeschreibungen marktradikaler Wohlfahrtspolitiken allenthalben die Dilemmata und Konfliktdimensionen pädagogischer Professionen zum Ausdruck bringen können, ohne selbst bereits zu kritischen Distanzierungsreflexionen beizutragen. Kinder- und Jugendhilfe: Macht-, Ohnmacht- und Wettbewerbsdynamiken So beherbergen bspw. die teil- und vollstationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe durchgehend Heranwachsende aus gewaltaffinen Herkunftsmilieus mit kumulativen Effekten sozialer und emotionaler Abstump- VHN 3 | 2021 172 BIRGIT HERZ „Unerziehbare“, „Systemsprenger“,„Austherapierte“ - „Kriminelle“? DAS PROVOK ATIVE ESSAY fungstendenzen. „Auf der manifesten Ebene zeigen die Betroffenen Härte, Unberührbarkeit, Destruktivität, um die Angst nicht spüren zu müssen, bzw. um nicht noch mehr von ihr überschwemmt zu werden“ (Pav, 2016, S. 90). Auf dieses Selbstinszenierungsverhalten reagieren außerschulische Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß ihrer professionsspezifischen Nomenklatur mit verschieden abgestuften Zuschreibungsprozessen. Meist folgen hierauf spezifische Delegationshandlungen, die - jeweils fachlich begründet - vorgeben, zu einer zielgruppenspezifischen Verbesserung bei ihrer Klientel beizutragen. Zugleich regiert in der Kinder- und Jugendhilfe eine massive Kostendeckelung; damit geht eine deutliche Reduzierung pädagogischer Qualitätsstandards und Leistungsoptionen einher. Im System der sozialen Unterstützungs- und Hilfesysteme dominiert der Zwang zum organisierten Wettbewerb, der bspw. Betroffenenbeteiligung und die immerhin rhetorisch hochgepriesene Partizipation von Kindern und Jugendlichen verunmöglicht (vgl. Beckmann, Ehlting & Klaes, 2018). Der aktuell gescheiterte Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer/ innen bei der Caritas und der Diakonie darf hier nicht unerwähnt bleiben. Über euphemistische Semantiken, Narrative, simplifizierende Kausalitätskonstruktionen u. a. m. etablieren sich affirmative Sozialtechnologien und überwiegend behavioral-kognitive Verhaltenstrainings als disziplinierendes Korrekturarsenal. So erstreckt sich hinter der Fassade scheinbarer Demokratisierung und Liberalisierung „ein komplexes, im schlechtesten Sinn des Wortes abstraktes - da gesichtsloses - Regime neuer Autoritarismen“ (Boger & Wawerek, 2020, S. 79). In den formalisierten Gutachten, Testverfahren, Beobachtungsbögen, Checklisten, Stellungnahmen, aktenkundlichen Gesprächsnotizen sind die damit für alle Beteiligten verbundenen emotionalen Dynamiken verleugnet, gleichsam ‚unsichtbar‘ gemacht und exkommuniziert. Oft setzt die Inhaftierung einen vorläufigen Schlusspunkt unter die vielfachen Verkettungen unterschiedlicher normsetzender und -regulierender Maßnahmen auch an ganz unpädagogisch motivierten Disziplinararrangements. Unzweifelhaft spielen Schule und Kinder- und Jugendhilfe eine prominente Rolle bei der Produktion der „Schwierigen“; sie setzen machtvoll die hegemonialen Normalitätsimperative durch. „Kurskorrektur“ im Jugendstrafvollzug? Strafbewehrte Kontrollarrangements des Jugendstrafvollzugs maskieren die strukturelle Verantwortungslosigkeit der staatlicherseits dem Bildungs- und Erziehungsauftrag vorgeschalteten Institutionen. Die kritische Analyse zeigt, dass Schule und Kinder- und Jugendhilfe - ungeachtet jeglicher Inklusionspropaganda - Ausschließungsprozesse praktizieren und zugleich Diversitätsimperative propagieren, die wiederum die Systemlogik der beteiligten Funktionssysteme bestätigen und reproduzieren. Die hier pointiert benannten Exklusionsrealitäten von Kindern und Jugendlichen mit seelischen Verletzungen dienen zugleich der subtilen Disziplinierung der Mehrheitsgesellschaft. Zwischen Abschreckung und Verheißung enthält das Janusgesicht des Jugendstrafvollzugs in einem hochkomplexen Verweisungszusammenhang in Bezug auf die im Jugendstrafvollzug Inhaftierten ein trügerisches Versprechen: Die implizite Behauptung, nach dem Scheitern familiärer, schulischer und außerschulischer Hilfe- und Unterstützungssysteme „Normalität“ qua „Resozialisierung“ zu gewährleisten, löst der Jugendstrafvollzug nämlich auch nicht ein, worauf Neubacher und Schmidt 2018 deutlich aufmerksam machten: „In Anbetracht des VHN 3 | 2021 173 BIRGIT HERZ „Unerziehbare“, „Systemsprenger“,„Austherapierte“ - „Kriminelle“? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Umstandes, dass das Ziel des Strafvollzugs die Legalbewährung ist, d. h. die Rückfallvermeidung, können die Befunde der Rückfallforschung nicht zufriedenstellen. Mit rund 70 % Rückfälligen im Zeitraum von drei Jahren nach Entlassung (bzw. 80 % nach sechs Jahren) hat der Strafvollzug - verglichen mit anderen Sanktionen - die höchste Rückfallquote“ (Neubacher & Schmidt, 2018 b, S. 770). Diese Daten führen unzweifelhaft vor Augen, mit welcher Dramatik hier Notlagen offensichtlich noch gesteigert werden. Es handelt sich nämlich um die Viktimisierungsbelastungen, die die bedeutsamste Gemeinsamkeit unter den Inhaftierten bilden: delinquentes Verhalten ist oftmals das (meist ungeplante) Resultat einer individuellen Konfliktlösung. Diese Heranwachsenden betreten die ‚Bühnen‘ des Jugendstrafvollzugs ja bereits mit einem hohen Potenzial destruktiver Dynamiken, die aus schwerem Ohnmachts-, Hilflosigkeits- und Angsterleben resultieren. Ihre auch in der Haft ausgeübte Gewalt ist unzweifelhaft mit ihrer Biografie verknüpft, d. h. die im familiären Kontext erlittenen Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen besetzen eine neue Eskalationsbühne. Dabei beinhaltet die hierarchische Gefangenensubkultur für jene Inhaftierte eine hohe Attraktivität, die massive innerfamiliäre Viktimisierungen erdulden mussten (Neubacher & Schmidt, 2018 a, 2018 b). Ihre Moral- und Gesetzesregeln ignorierenden destruktiven ‚Übersetzungen‘ in normverletzendes Verhalten mit gruppenspezifischen Deliktinszenierungen der überwiegend männlichen Inhaftierten werden im Gefängnis freilich nicht pädagogisch, sondern mit dem juridisch legitimierten Arsenal von disziplinierenden, rigiden Routinen der Normdurchsetzung sanktioniert. Gehorsamkeitsdrill auf der Grundlage des Status als ‚Unfreier‘ während der Zeit ihres Aufenthaltes im Jugendstrafvollzug soll ihre Legalbewährung nach der Haftentlassung stärken und vorbereiten. Ein Diskurs über Zeitsignaturen … Die Institution Jugendstrafvollzug repräsentiert die symbolische Ordnung sozialstruktureller Exklusionsprozesse als ein dominantes Element einer „industry of risk management“ (Armstrong, 2006, S. 272). Unsicherheit als politisches Steuerungsinstrument führt zu einer Verdichtung von Selbstoptimierungsstrategien, an denen ja nicht nur Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen, sondern die Professionellen ebenso scheitern. Unzweifelhaft kommt es bei der ja als professionell zu legitimierenden pädagogischen Praxis zu spezifischen Herausforderungen. Diese betreffen ja nicht nur Personen, Institutionen, Dynamiken und die damit verbundene Dialektik von Freiheit und Zwang, sondern ebenso Kernfragen des Ein- und Ausschließens in globalen Ökonomisierungsprozessen. Die VHN will mit einem mehrperspektivischen Themenstrang zu einem kritisch-konstruktiven Fachdiskurs einladen, sodass ein Dialogfeld über diese heterogenen wie hoch ambivalenten und teilweise tabuisierten Praxiskonfigurationen ebenso erhellt wird wie die manifesten und latenten Zeitsignaturen, unter denen Kinder und Jugendliche sozialisiert werden. Literatur Armstrong, D. (2006). Becoming criminal: The cultural politics of risk. Journal of Inclusive Education, 10 (2 -3), 265 -278. Baumann, Z. (2005). Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition. Beckmann, K., Ehlting, T. & Klaes, S. (2018). Berufliche Realität im Jugendamt: der ASD in strukturellen Zwängen. Berlin: Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. Boger, M.-A. & Wawerek, F. (2020). Strafen im postödipalen Zeitalter - Lehrer*innenbildung zwischen normalisiertem Sadismus und Authentizitätswünschen. In B. Rauh, N. Welter, M. VHN 3 | 2021 174 BIRGIT HERZ „Unerziehbare“, „Systemsprenger“,„Austherapierte“ - „Kriminelle“? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Franzmann, K. Magiera, J. Schramm & N. Wilder (Hrsg.), Emotion - Disziplinierung - Professionalisierung: Pädagogik im Spannungsfeld von Integration der Emotionen und ‚neuen‘ Disziplinierungstechniken, 67 -82. Opladen: Barbara Budrich. https: / / doi.org/ 10.2307/ j.ctv15r56t4.7 Coleman, M. (2020). Leading the change to establish a whole-school nurturing culture. Journal of Emotional and Behavioral Difficulties, 25 (1), 60 -79. https: / / doi.org/ 10.1080/ 1363275 2.2019.1682244 Cremer-Schäfer, H. & Lutz, T. (2019). Über die Relevanz der Etikettierungsperspektive heute - ein Gespräch. Widersprüche, 39 (153), 29 -42. Gewirtz, S. (2002). The Managerial School. Post- Welfarism and Social Justice in Education. London and New York: Routledge. Herz, B. (2020). GAFA im Kinderzimmer - Annäherungen aus der Perspektive der Pädagogik bei Verhaltensstörungen. In B. Herz, J. Hoyer & J. Liesebach (Hrsg.), Brennpunkt Erziehungshilfe: Dialogpartner Technik? , 59 -70. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Illien, A. (2005). Lehrerprofession. Grundprobleme pädagogischen Handelns. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Neubacher, F. & Schmidt, H. (2018 a). Sexuelle und sexualisierte Gewalt im Jugendstrafvollzug. In A. Retkowski, A. Treibel & E. Tuider (Hrsg.), Handbuch sexualisierter Gewalt und pädagogischer Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis, 497 -505. Weinheim: Beltz Juventa. Neubacher, F. & Schmidt, H. (2018 b). Von punitiven Tendenzen, knappen Behandlungsressourcen und der Schwierigkeit, dem Einzelnen gerecht zu werden. In B. Dollinger & H. Schmidt- Semisch (Hrsg.), Handbuch der Jugendkriminalität. Interdisziplinäre Perspektiven, 767 -786. Wiesbaden: Springer. Pav, U. (2016). „… und wenn der Faden reißt, will ich nur noch zuschlagen! “ Pädagogischer Umgang mit Gewalt in der stationären psychotherapeutischen Behandlung Jugendlicher. Gießen: Psychosozial. https: / / doi.org/ 10.30820/ 978383 7967920-9 Peter, T. (2018). Jeder verbessert sich, keiner wird zurückgelassen. Ökonomisierung und Chancengleichheit im Schulreformdiskurs der Gegenwart. In S. Hartong, B. Hermstein & T. Höhne (Hrsg.), Ökonomisierung von Schule? Bildungsreformen in nationaler und internationaler Perspektive, 62 -78. Weinheim: Beltz Juventa. Slee, R. (2019). Belonging in an age of exclusion. International Journal of Inclusive Education, 23 (9), 1 -34. Winkler, M. (2016). Die vergessene Freiheit des pädagogischen Denkens. Widersprüche, 36 (1 -2), 81 -94. Anschrift der Autorin Prof. Dr. Birgit Herz Leibniz-Universität Hannover Institut für Sonderpädagogik Pädagogik bei Verhaltensstörungen Schloßwender Straße 1 D-30159 Hannover E-Mail: birgit.herz@ifs.uni-hannover.de
