eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 90/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art29d
71
2021
903

Aktuelle Forschungsprojekte: Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten in stationären Wohneinrichtungen

71
2021
Wolfgang Dworschak
Andrea Kapfer
Christoph Ratz
Thomas Reiter
Im Dezember 2020 endete das dreijährige Forschungsvorhaben WiBIg (Wissenschaftliche Begleitung von intensivbetreuten Wohngruppen), ein Verbundprojekt der Lehrstühle für Pädagogik bei geistiger Behinderung an der Universität Regensburg und an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Das Projekt wurde aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales gefördert. Hintergrund: Schon seit Jahren stellt der Personenkreis der Kinder und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten die Sonder- und Heilpädagogik vor massive pädagogische Handlungsprobleme. So stellt herausforderndes Verhalten einen enormen Risikofaktor in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit aller Beteiligten, die Entwicklung, Bildung, Inklusion, Teilhabe und Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen dar. Dabei ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit herausforderndem Verhalten in stationären Einrichtungen signifikant erhöht (Dworschak & Reiter, 2017).
5_090_2021_3_0007
233 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten in stationären Wohneinrichtungen - Charakteristika, pädagogisches Handeln, freiheitsentziehende Maßnahmen Wolfgang Dworschak 1 , Andrea Kapfer 1 , Christoph Ratz 2 , Thomas Reiter 1 1 Universität Regensburg 2 Universität Würzburg Im Dezember 2020 endete das dreijährige Forschungsvorhaben WiBIg (Wissenschaftliche Begleitung von intensivbetreuten Wohngruppen), ein Verbundprojekt der Lehrstühle für Pädagogik bei geistiger Behinderung an der Universität Regensburg und an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Das Projekt wurde aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales gefördert. Hintergrund Schon seit Jahren stellt der Personenkreis der Kinder und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten die Sonder- und Heilpädagogik vor massive pädagogische Handlungsprobleme. So stellt herausforderndes Verhalten einen enormen Risikofaktor in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit aller Beteiligten, die Entwicklung, Bildung, Inklusion, Teilhabe und Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen dar. Dabei ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit herausforderndem Verhalten in stationären Einrichtungen signifikant erhöht (Dworschak & Reiter, 2017). In der Arbeit mit diesem Personenkreis kommen zur Abwendung von Selbst- oder Fremdgefährdungen zum Teil auch restriktive Maßnahmen zur Anwendung (zum Beispiel Fixierungen, Zimmereinschlüsse, sedierende Medikamente); im juristischen Kontext spricht man hier von ‚freiheitsentziehenden Maßnahmen‘ (§ 1631 b BGB). Im Zuge der medialen Berichterstattung über freiheitsentziehende Maßnahmen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe in Bayern im Jahr 2016 zeigte sich, dass in der Öffentlichkeit oftmals kein differenziertes Bild von dem Personenkreis und der pädagogischen Arbeit mit ihm besteht. Ziel- und Fragestellungen Ziel dieses Forschungsvorhabens war es daher, einen Beitrag zu einem differenzierten Verständnis und einer differenzierten Diskussionsgrundlage im Hinblick auf die folgenden Aspekte zu leisten: n Charakteristika des Personenkreises: Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung und massivem herausforderndem Verhalten in stationären Wohneinrichtungen n Pädagogische Arbeits- und Reflexionsprozesse im Kontext herausfordernden Verhaltens n Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen, Bestrebungen der Reduktion, Entwicklung von Alternativen Auf der Grundlage eines interaktionalen Verständnisses von herausforderndem Verhalten wurden die Kinder und Jugendlichen in ihren jeweiligen Lebenskontexten betrachtet und die verschiedenen beteiligten professionellen Systeme und Akteur/ innen berücksichtigt. Ausgehend von den Ergebnissen sollten zudem empirisch fundierte Praxisimplikationen formuliert werden mit dem Ziel, einen Beitrag zur Verbesserung der pädagogischen Praxis und somit auch der Lebenssituation und -qualität der Kinder und Jugendlichen zu leisten. Forschungsmethodisches Vorgehen Das entwickelte Studiendesign kann als partizipativ ausgerichtete Form der Praxisforschung bezeichnet werden. Frage- und Problemstellungen aus der beruflichen Praxis wurden gemeinsam mit professionellen Akteur/ innen mit dem Ziel beforscht, praxisrelevante Ergebnisse zu generieren (von Unger, 2014). Für die Teilnahme an dem Forschungsvorhaben konnten vier stationäre Einrichtungen gewonnen werden, die einen Großteil der Intensivbetreuungsplätze in Bayern vorhalten. VHN, 90. Jg., S. 233 -235 (2021) DOI 10.2378/ vhn2021.art29d © Ernst Reinhardt Verlag VHN 3 | 2021 234 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Um der Komplexität des Forschungsgegenstandes und -feldes mit seinen vielfältigen Bedingungszusammenhängen gerecht zu werden, wurde ein überwiegend qualitativer Zugang gewählt. Zur Beantwortung der Fragestellungen kamen verschiedene Erhebungsmethoden zur Anwendung (Methodentriangulation): Feldaufenthalte, Dokumentenanalysen, (halb-)standardisierte Instrumente, Gruppendiskussionen auf Gruppen- und Leitungsebene und Einzelinterviews mit Gruppenmitarbeitenden. Die Fragestellungen wurden größtenteils anhand von acht sogenannten Einzelfällen bearbeitet (Einzelfallstudien), die nach dem Prinzip der maximalen Kontrastierung gezielt ausgewählt wurden. Die Auswertung der qualitativen Daten erfolgte in Anlehnung an die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018) und an die komparative Kasuistik (Jüttemann, 1990). Der qualitative Teil der Studie wurde ergänzt durch eine standardisierte Fragebogenvollerhebung in den kooperierenden Einrichtungen zur Charakterisierung der Bewohnerschaft im Kinder- und Jugendwohnbereich (N = 129) und des Personenkreises mit zugeschriebenem intensivpädagogischem Betreuungsbedarf (n = 80). Ausgewählte Untersuchungsergebnisse Im Folgenden wird knapp auf ausgewählte Untersuchungsergebnisse eingegangen. Eine differenzierte Darstellung findet sich im Forschungsband ‚Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten in stationären Wohneinrichtungen - Charakteristika, pädagogisches Handeln, freiheitsentziehende Maßnahmen‘, der in der edition bentheim erschienen ist (Reiter, Kapfer, Dworschak & Ratz, 2021). Von den befragten Gruppenmitarbeitenden wurden in den Interviews besonders physische Fremdaggressionen und selbstverletzende Verhaltensweisen problematisiert. Diese scheinen besondere Handlungsprobleme darzustellen. Dabei wird herausforderndes Verhalten von den Mitarbeitenden besonders häufig als Reaktion auf Anforderungen, Überforderung und Frustration, als Mittel zur Durchsetzung eigener Vorstellungen und als Ausdruck von Unsicherheit interpretiert. Auch einige Faktoren, welche als typische Merkmale stationärer Settings bezeichnet werden können (zum Beispiel Personalfluktuation, Vielzahl an Bezugspersonen, hohes Reizniveau), wurden häufig als Risikofaktoren in Bezug auf die Genese herausfordernden Verhaltens genannt. Hinsichtlich des pädagogischen Umgangs im Kontext herausfordernden Verhaltens konnten sowohl kontextals auch individuumzentrierte Vorgehensweisen mit präventiver, interventiver und postventiver Zielrichtung identifiziert werden. Dabei kommt der präventiven Gestaltung des Kontextes eine besondere Bedeutung zu (zum Beispiel Entzerren des Gruppenalltags, Reduzierung von Anforderungen, Ermöglichen von Orientierung). Insgesamt scheint das pädagogische Handeln durch ein hohes Maß an Ambivalenzen und widersprüchlichen Handlungsanforderungen geprägt zu sein. So konnten zahlreiche Spannungsverhältnisse, mit denen Mitarbeitende konfrontiert sind, rekonstruiert werden. Beispielhaft kann hier ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der Überforderung der Kinder und Jugendlichen durch Entwicklungsimpulse auf der einen Seite und der Vorenthaltung derselben zur Prävention herausfordernden Verhaltens auf der anderen Seite genannt werden. Fragen nach dem Umgang mit Ambivalenzen und Dilemmata scheinen sich im Zusammenhang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in besonderer Weise zu stellen. So sehen sich Mitarbeitende häufig mit mehreren nicht zufriedenstellenden Handlungsoptionen konfrontiert. Häufig genannt wird in diesem Kontext ein Dilemma zwischen der Einschränkung der Handlungsfreiheit durch freiheitsentziehende Maßnahmen (zum Beispiel Zimmereinschlüsse) und den potenziell massiven Folgen für alle Beteiligten bei einer zu spät angewendeten freiheitsentziehenden Maßnahme. Im Hinblick auf die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen hat sich gezeigt, dass diese zumindest teilweise vermieden oder reduziert werden können, zum Beispiel durch einen hohen Personalaufwand oder durch entsprechende räumliche Ressourcen. In einigen Fällen scheint eine gewisse Gewöhnung der Kinder und Jugendlichen an die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen stattgefunden zu haben. Hier scheinen Entwöhnungsprozesse zum Teil mög- VHN 3 | 2021 235 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE lich zu sein. Allerdings stoßen Mitarbeitende bei ihren Reduktionsbemühungen häufig auch an Grenzen. Dies scheint zum Beispiel dann der Fall zu sein, wenn sich Mitarbeitende unschlüssig im Hinblick auf die Bedingungszusammenhänge von herausforderndem Verhalten sind und die Intensität der Verhaltensweisen aufgrund der körperlichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen hoch ist. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei: Prof. Dr. Wolfgang Dworschak, Andrea Kapfer, Prof. Dr. Christoph Ratz, Thomas Reiter E-Mail: wolfgang.dworschak@ur.de andrea.kapfer@ur.de christoph.ratz@uni-wuerzburg.de thomas-peter.reiter@ur.de 4., akt. u. erw. Auflage 2018. 171 Seiten. Materialbox mit DIN A4 Manual, DIN A2 Postern und Bildkarten in 2 Formaten. (978-3-497-02828-3) kt „Lubo aus dem All! “ ist ein etabliertes Trainingsprogramm zur frühzeitigen Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen, um Verhaltensstörungen vorzubeugen und zugleich die Lernmöglichkeiten zu verbessern. Eine klar strukturierte, ritualisierte und methodisch-didaktisch abwechslungsreiche Stundengestaltung bietet allen SchülerInnen, insbesondere auch Kindern mit Verhaltens-, Lern- oder Aufmerksamkeitsproblemen, die Möglichkeit, erfolgreich am Training teilzunehmen. Lubo für die inklusive Grundschule! a www.reinhardt-verlag.de