Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2021.art31d
5_090_2021_3/5_090_2021_3.pdf71
2021
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Rezension: Lin, Margrith (2020): Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister.
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Barbara Jeltsch-Schudel
„… Bruder und Schwester für immer – ein Leben lang!“ (S. 235). Dies ist die Erfahrung von Margrith Lin, die sie in einem Buch in vielfältiger Weise eindrücklich beschreibt. Sie ist vielleicht durch diese Erfahrung dazu gekommen, sich als Fachfrau und Wissenschaftlerin mit Heilpädagogik zu beschäftigen. Ihre Rolle jedoch als Schwester eines behinderten Bruders wurde ihr zugeteilt, so schreibt sie im Epilog, es hätte auch anders sein können (S. 238). Das Buch lässt sich nicht einfach einer Gattung zuordnen, denn es handelt „vom Leben mit einem behinderten Geschwister“, beschreibt also nicht das Leben mit einem behinderten Geschwister. Es ist daher nicht nur eine Autobiografie, die sich ausschließlich auf das Leben der Autorin und ihres behinderten Bruders bezieht, sondern greift darüber hinaus mehr und allgemeinere Inhalte auf und gleicht in diesem Sinne auch einem Fachbuch.
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VHN 3 | 2021 245 REZE NSION E N Lin, Margrith (2020): Ein Bruder lebenslänglich Vom Leben mit einem behinderten Geschwister Zürich: Limmat Verlag. 256 S., CHF 36,-, € 36,- „… Bruder und Schwester für immer - ein Leben lang! “ (S. 235). Dies ist die Erfahrung von Margrith Lin, die sie in einem Buch in vielfältiger Weise eindrücklich beschreibt. Sie ist vielleicht durch diese Erfahrung dazu gekommen, sich als Fachfrau und Wissenschaftlerin mit Heilpädagogik zu beschäftigen. Ihre Rolle jedoch als Schwester eines behinderten Bruders wurde ihr zugeteilt, so schreibt sie im Epilog, es hätte auch anders sein können (S. 238). Das Buch lässt sich nicht einfach einer Gattung zuordnen, denn es handelt „vom Leben mit einem behinderten Geschwister“, beschreibt also nicht das Leben mit einem behinderten Geschwister. Es ist daher nicht nur eine Autobiografie, die sich ausschließlich auf das Leben der Autorin und ihres behinderten Bruders bezieht, sondern greift darüber hinaus mehr und allgemeinere Inhalte auf und gleicht in diesem Sinne auch einem Fachbuch. Immer wieder nimmt die Autorin Kontextualisierungen vor: sie schreibt über das Leben (von Familien) in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts, über die damaligen medizinischen und pädagogischen Angebote an ein Kind, das an einer tuberkulösen Meningitis erkrankt, Jahre hospitalisiert wird und schließlich schwer behindert in seine Familie zurückkehrt. Oder sie zeigt die mangelnden Bildungsangebote auf und die Schwierigkeiten, im Erwachsenenalter einen passenden Lebensort für Menschen mit Behinderungen zu finden. Es ist aber auch von dem kleinen Mädchen die Rede, das das Verschwinden des Bruders miterlebt, die Sorgen der Eltern wahrnimmt und sich mit einem völlig veränderten Bruder auseinandersetzen muss, als dieser nach langer Zeit wieder zurückkommt. Von einem Mädchen auch, dem von Außenstehenden gesagt wird: „Du darfst nicht heiraten, denn du musst später einmal zu deinem Bruder schauen, wenn eure Mutter nicht mehr da ist“ (S. 46). Dieser Verantwortung will und kann sie, die Schwester, sich nicht entziehen; immer wieder setzt sie sich (gemeinsam mit ihren anderen Schwestern) für den Bruder ein, bemüht sich darum, dass er ein qualitativ gutes Leben führen kann. Das Buch ist in sieben Abschnitte gegliedert, dem Lebenslauf des Bruders folgend, von der frühen Kindheit bis zum letzten Lebensabschnitt. In allen sieben Teilen sind Elemente der analytischen Betrachterin zu finden, die Hintergründe und Zusammenhänge aufzeigt, und Elemente aus der Innensicht, die das persönliche Erleben festhalten. Diese Wechsel zwischen abstrahierender, analytischer Beschreibung und der konkreten und persönlichen Darstellung des einzigartigen Lebens als Schwester eben dieses Bruders über eine lange Zeit ermöglichen es den Lesenden, die dargebotenen Mosaiksteine in einer Art und Weise zusammenzufügen, wie sie dies selten tun können. Denn Margrith Lin wirft grundsätzliche Fragen und Themen der Sonderpädagogik auf, verankert sie in historischen Kontexten und bringt sie zum Leben in der Konkretisierung von Bruder und Schwester lebenslang. Ergänzend zu diesem sehr lesenswerten und berührenden Buch ist der Film „Unsere besonderen Brüder“ zu empfehlen, in dem ein Portrait von Margrith Lin und ihrem Bruder (neben zwei anderen) zu sehen ist. Er wurde am 17. Dezember 2020 vom Schweizer Fernsehen SRF ausgestrahlt (https: / / medien.srf.ch/ -/ -dok-unsere-besonderenbruder). Prof. Dr. Barbara Jeltsch-Schudel CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2021.art31d
