eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Rezension: Hehmsoth, Carl (2021): Traumatisierte Kinder in Schule und Unterricht. Wenn Kinder nicht wollen können

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2022
Marion Baldus
„Dieses Buch wird nicht sonderlich bequem. Trauma ist nicht gemütlich, nicht gefällig, nicht schön“ (S. 11). Mit diesen einführenden Sätzen bereitet Hehmsoth seine Leser/innen auf die Lektüre seiner Schrift vor. Das erstaunt: Denn wer sollte zu einem so hochgradig komplexen Thema ein „bequemes“ Lehrbuch erwarten? Doch dazu später mehr.
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VHN1 | 2022 81 < RUBRIK > < RUBRIK > REZE NSION E N Unter forschungsmethodischer Perspektive birgt die Erhebung von Schüler/ innen mit einem sonderpädagogischen Schwerpunkt in dem hier erfassten Entwicklungsalter unterschiedliche Herausforderungen. Demzufolge ermöglicht die Datenbasis des NEPS den Einbezug der Daten einer sehr großen Stichprobe; auch der Vergleich zur Gruppe von Absolvent/ innen der Hauptschule wird dadurch eingeräumt. Erwähnenswert ist allerdings, dass die Erhebungen der zugrunde liegenden Kohorte vor circa 10 Jahren stattfanden. Die Bundesländer haben sich inzwischen mit der Berufsorientierung befasst und die Konzepte für die allgemeinbildenden Schulen und den Übergang in die berufliche Bildung, gemeinsam mit der Berufs- und Rehaberatung, für alle Schüler/ innen revidiert. Ein Aspekt, der in den Ergebnissen nicht abgebildet werden kann. Dem unbenommen dürften das Anliegen der Publikation und die Ergebnisse für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, für Personen aus dem Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie für schulpraktische Fachkräfte von Interesse sein. Die quantitativen und qualitativen Befunde liefern wichtige und hochinteressante Hinweise auf Bildungschancen und Gelingensbedingungen für den Einstieg in die berufliche Bildung von (ehemaligen) Schülerinnen und Schülern im sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen, was vor allem für die inklusive Beschulung von Bedeutung sein dürfte. Dr. phil. Carina Hübner D-57068 Siegen DOI 10.2378/ vhn2022.art08d Hehmsoth, Carl (2021): Traumatisierte Kinder in Schule und Unterricht. Wenn Kinder nicht wollen können Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. utb. 287 Seiten, € 19,90 „Dieses Buch wird nicht sonderlich bequem. Trauma ist nicht gemütlich, nicht gefällig, nicht schön“ (S. 11). Mit diesen einführenden Sätzen bereitet Hehmsoth seine Leser/ innen auf die Lektüre seiner Schrift vor. Das erstaunt: Denn wer sollte zu einem so hochgradig komplexen Thema ein „bequemes“ Lehrbuch erwarten? Doch dazu später mehr. Zunächst zum Autor: Carl-Conrad Hehmsoth ist promovierter Sonder- und Heilpädagoge mit Schwerpunkt in den Fachbereichen Lernen und Emotionale/ Soziale Entwicklung. Empirisch geforscht hat er zu „Vorstellungen von Grundschullehrer/ innen zu Grundlagen der Psychotraumatologie und dem Umgang mit traumatisierten Kindern in der Grundschule“ (2017). In seinem jetzt vorgelegten Werk stellen Vorarbeiten zu dieser Promotionsschrift eine zentrale Referenzquelle dar, die er um internationale Ansätze, wie den in den USA entwickelten Trauma-Informed- Approach (TIA), erweitert. Das Buch gliedert sich in folgende Kapitel: n Traumapädagogik n Welche Akteure sind beteiligt? n Welche Einflüsse wirken auf das Kind? n Traumasensible Hilfen und Unterstützung n Literaturempfehlungen n Abschluss Im ersten Kapitel werden zentrale Konzepte der Traumapädagogik geschildert, dies sehr knapp und bei Referenzquellen aus dem Jahr 2017 stehen bleibend. Hehmsoth schreibt in diesen Ausführungen der Traumapädagogik „Entwicklungsaufgaben“ zu und kritisiert den von der BAG Traumapädagogik verabschiedeten Terminus: „Die Traumapädagogik ist keine solche“ (S. 23f.). Einen besonderen Impetus legt Hehmsoth auf die Darstellung traumasensibler Ansätze aus den USA (s. o.). Er stelltdie aus Aktivitäten derMassachusetts Advocates for Children in Boston (Baldus, 2017 und 2019) hervorgegangene Trauma Learning Policy Initiative (TLPI) vor. Ausgewählte Textpassagen entnimmt er Publikationen der TLPI, übersetzt sie in Eigenleistung und integriert sie an unterschiedlichen Schnittstellen seines Buches. Ein durchgängiges Interesse von Hehmsoth ist es, auf die Notwendigkeit multiprofessioneller Zusammenarbeit hinzuweisen und mögliche Rollendiffusionen zwischen beteiligten Akteur/ innen wie Lehrkraft, Sozialpädagog/ in, Psycholog/ in VHN 1 | 2022 82 REZE NSION E N und Sonderpädagog/ in in den Blick zu nehmen. Dies ist ein wichtiger Aspekt. Den einzelnen beteiligten Akteurinnen widmet er dazu Kurzabrisse, in denen er die Entstehung der Fachdisziplin, ihre Ziele, Arbeitsweisen, Kompetenzen und Arbeitsfelder vorstellt. Anhand von Fallvignetten, die eine im Schulkontext auftretende Problemstellung skizzieren, zeigt Hehmsoth pädagogische Herausforderungen, fachspezifische Zugangsweisen und Verantwortlichkeiten sowie Formen der interdisziplinären Kooperation auf. Exemplarisch beklagt er Defizite, identifiziert Ressourcen und entwirft Lösungsansätze. Nicht deutlich wird hier, ob es sich um konstruierte, reelle, der Literatur oder seiner eigenen Forschung entnommene Fallvignetten handelt. Kritische Würdigung „Traumatisierte Kinder in Schule und Unterricht“ ist als Lehrbuch mit dem Anspruch angetreten, einen „Paradigmenwechsel“ (S. 10) im System Schule einzuleiten. Das vorliegende Buch löst diesen Anspruch nicht ein. Gründe hierfür liegen nicht nur in den vielen inhaltlichen und redaktionellen Fehlern, sondern auch im Duktus des Autors: Lässig attestiert er einer Fachrichtung „fehlende Reife“ (S. 21), den Mangel an einem „ausreichenden theoretischen Bezug“ (S. 16) oder eine „mäßige Kooperationsleistung“ (S. 77), ohne einschlägige Quellen zu rezipieren und einer systematischen Analyse zu unterziehen. Aussagen beruhen auf subjektiven Wertungen, die in einem Fachbuch deplatziert sind. Der Sozialpädagogik/ Sozialen Arbeit bescheinigt Hehmsoth zum Beispiel, dass sie „noch kein ausreichendes Sinnverstehen“ habe, „um mit traumatisierten Kindern arbeiten zu können“ (S. 65). Woher Hehmsoth dieses und viele weitere Urteile nimmt, bleibt unklar. Erschwerend kommen viele Auslassungen im Literaturverzeichnis hinzu. Das Anliegen, internationale trauma-sensitive Ansätze auf Schulen in Deutschland zu übertragen, ist unterstützenswert (s. a. Baldus, 2019 und 2017). Erfahrungen, die Hehmsoth bei seinen Auslandsaufenthalten gesammelt hat, hätten hier fruchtbar eingearbeitet werden können. Der Transfer gelingt jedoch nur bruchstückhaft. Unberücksichtigt bleiben zentrale Unterschiede in den Bildungssystemen und Inklusions-Politiken beider Länder. Eine Diskussion über die Anschlussfähigkeit wäre gerade wichtig und interessant gewesen. Ein echtes Ärgernis stellen die oft sehr klischeehaften Darstellungen in den Fallvignetten dar. Sie werden weder den porträtierten Schüler/ innen noch deren Eltern oder Lehrkräften gerecht. Gar nicht zu verschmerzen sind sprachliche Volten wie „Nationalsozialisten müssen jetzt tapfer sein: Der Islam gehört zu Deutschland“ (S. 146) oder Personenverunglimpfungen, die aus Silke Gahleitner „Gauleiter“ (S. 65) oder aus Christoph Butterwegge eine Frau (S. 101) machen. Durch ein Lektorat hätten diese und viele weitere Fehler vermieden werden können. Fazit Wer sich von dem Titel „Traumatisierte Kinder in Schule und Unterricht“ einen sorgfältig recherchierten und gut redigierten Überblick über den aktuellen Stand einer traumasensiblen Schulpädagogik mit fachlich begründeten Handlungsempfehlungen erwartet, wird gründlich enttäuscht. Das Buch ist nicht nur „nicht sonderlich bequem“ (s. o.), sondern auch nicht sonderlich gut. Für den Einsatz in der akademischen Aus- und Weiterbildung empfiehlt es sich nicht. Literatur Baldus, M. (2017). „A safe place is only as safe as it feels” - Schulen als sichere Orte für traumatisierte Kinder. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 12 (2), 209 -223. https: / / doi.org/ 10. 3224/ diskurs.v12i2.06 Baldus, M. (2019). Trauma-sensitive schools as inclusive communities. In T. Anme, Creating Empowerment in Communities: Theory and Practice from an International Perspective. New York: Nova Science Publishers, 37 -62. Hehmsoth, C.-C. (2017). Vorstellungen von Grundschullehrer/ innen zu Grundlagen der Psychotraumatologie und dem Umgang mit traumatisierten Kindern in der Grundschule. Dissertation, Universität Oldenburg. Prof. Dr. Marion Baldus D-68163 Mannheim DOI 10.2378/ vhn2022.art09d