Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das Provokative Essay: „Herausforderndes Verhalten“: Wer oder was fordert wen heraus - und wie?
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Reinhard Fatke
„Herausforderndes Verhalten“ als Begriff zur Bezeichnung von Verhaltensauffälligkeiten setzt sich zunehmend in der Heilpädagogik, aber auch in den Nachbarbereichen durch (Schule, Fürsorge, Pflege, Altenbetreuung). Dieser Beitrag unternimmt zunächst einen begriffsgeschichtlichen Rückblick auf frühere Bezeichnungen für problematisches Verhalten in verschiedenen Formen und lotet deren Vorteile und Nachteile aus. Sodann werden die Begründungen für die Begriffsverwendung von „herausforderndem Verhalten“ in den fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen genauer unter die Lupe genommen. Schließlich wird die Mehrdeutigkeit von „Herausforderung“ herausgearbeitet und die Leerstelle markiert, die in den meisten Publikationen zu diesem Thema enthalten ist und die nur mit einer psychoanalytisch-pädagogischen Analyse des psychodynamischen Geschehens zwischen den am Erziehungs- oder Betreuungsprozess Beteiligten gefüllt werden kann.
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87 VHN, 91. Jg., S. 87 -94 (2022) DOI 10.2378/ vhn2022.art11d © Ernst Reinhardt Verlag „Herausforderndes Verhalten“: Wer oder was fordert wen heraus - und wie? Kritische Diskussion eines mehrdeutigen Begriffs Reinhard Fatke Universität Zürich Zusammenfassung: „Herausforderndes Verhalten“ als Begriff zur Bezeichnung von Verhaltensauffälligkeiten setzt sich zunehmend in der Heilpädagogik, aber auch in den Nachbarbereichen durch (Schule, Fürsorge, Pflege, Altenbetreuung). Dieser Beitrag unternimmt zunächst einen begriffsgeschichtlichen Rückblick auf frühere Bezeichnungen für problematisches Verhalten in verschiedenen Formen und lotet deren Vorteile und Nachteile aus. Sodann werden die Begründungen für die Begriffsverwendung von „herausforderndem Verhalten“ in den fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen genauer unter die Lupe genommen. Schließlich wird die Mehrdeutigkeit von „Herausforderung“ herausgearbeitet und die Leerstelle markiert, die in den meisten Publikationen zu diesem Thema enthalten ist und die nur mit einer psychoanalytisch-pädagogischen Analyse des psychodynamischen Geschehens zwischen den am Erziehungs- oder Betreuungsprozess Beteiligten gefüllt werden kann. Schlüsselbegriffe: Herausforderung, Verhaltensauffälligkeit, Heilpädagogik, Psychodynamik, Psychoanalytische Pädagogik Challenging Behavior: Who and What Challenges Whom - and How? Debating a Concept with Multiple Meanings Summary: “Challenging behavior” as a relatively new term for designating behavioral disorders gains more and more acceptance in the field of special education, but also in the neighboring fields (school, welfare, care). In a first step, this contribution undertakes a short historical-conceptual review of earlier designations of problematic behavior in various forms and discusses their advantages and disadvantages. In a second step, the reasoning behind the usage of the terms in scientific publications is critically analyzed. Finally, in a third step, the equivocal meaning of “challenging” is explored in detail, and the empty space that in most publications on the topic can be found is highlighted. This empty space can be filled by ways of referring to psychoanalytical concepts that explain the psychodynamics inherent in the interaction between the persons involved on both sides of the education or care processes in question. Keywords: Challenge, behavior problems, special education, psychodynamics, psychoanalytic education DAS PROVOK ATIVE ESSAY Der Begriff „herausforderndes Verhalten“ hat seit einiger Zeit Konjunktur in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit. Vor allem in der Heilpädagogik, aber auch in der Pflegewissenschaft und der Altenbetreuung hat sich die Verwendung des Begriffs mittlerweile eingebürgert. Seien es geistig oder mehrfach behinderte Menschen (Heijkoop, 2014), insbesondere Menschen mit Autismus (Theunissen, 2019), seien es psychisch Erkrankte (Hejlskov Elvén & VHN 2 | 2022 88 REINHARD FATKE „Herausforderndes Verhalten“ - eine Begriffsdiskussion DAS PROVOK ATIVE ESSAY Abild McFarlane, 2020), seien es ältere Menschen (Weber Long, 2020) oder Demenzkranke (James & Jackman, 2019) - überall stößt man auf diesen Begriff zur Bezeichnung eines breiten inhaltlichen Spektrums, in dessen Zentrum fremd- oder selbstschädigende Handlungen als externalisierte Formen stehen. Auch Sexualisierung, Sachbeschädigungen, Bedrohungen und Verweigerung werden dazugezählt, genauso wie Passivität, Rückzug und Misstrauen als internalisierende Formen (Färber, 2012). In diesen professionellen Kontexten tritt der neue Begriff immer häufiger an die Stelle älterer Bezeichnungen, wie z. B. Problemverhalten, Verhaltensstörung, soziale Auffälligkeit. Da der Begriff neuerdings auch zunehmend in andere Disziplinen eindringt, u. a. in die Schulpädagogik (z. B. Popp & Methner, 2014), die Jugendhilfe und Soziale Arbeit (Büschi & Calabrese, 2019 a; dort auch weitere Beiträge zur Schule, Straffälligenhilfe, Drogenhilfe und Asylantenbetreuung), und in diesen Arbeitsfeldern hauptsächlich der Kennzeichnung von widerständigem, störendem, aggressivem Verhalten dient, erscheint es angebracht, den Begriff etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, um zu erfahren, welcher Erkenntnisfortschritt durch ihn gewonnen wird und ob die bisherige Verwendung tatsächlich seinen vollständigen Bedeutungshorizont ausschöpft. Zu beidem möchte der folgende Beitrag Zweifel anmelden. 1 Kurzer begriffsgeschichtlicher Rückblick Im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde ein Verhalten von Kindern und Jugendlichen, das als ungehorsam, unartig, unfolgsam galt, weil es die Normen des Zusammenlebens in der Familie, in der Schule und in der Öffentlichkeit verletzte, überwiegend als „schlimm“ bezeichnet, auch in der Pädagogik als Disziplin. In der Umgangssprache hat sich dieser Begriff bis heute gehalten. Beim Forschen nach den Ursachen stieß man recht bald auf Erziehungsversäumnisse, die zu dem führten, was dann „Verwahrlosung“ genannt wurde. Damit war aber nicht das gemeint, was wir heute darunter verstehen: heruntergekommen und ungepflegt. Vielmehr lag der Bezeichnung das Verb „verwahrlosen“ im transitiven Gebrauch zugrunde, das heißt, dass Eltern ihr Kind „verwahrlosen“, indem es sie nicht im Wertesystem der Familie und vor allem nicht in der religiösen Bindung gehalten, d. h. „gewahrt“ haben. Das war die dominante Auffassung der Inneren Mission, die zur Lösung der „sozialen Frage“ im 19. Jahrhundert - in Konkurrenz zur Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung und der sozialpolitischen Bewegung - Rettungshäuser für diese „verwahrlosten“ Kinder schuf, um sie in den Schoß der Kirche und zum Halt gebenden Glauben zurückzuführen. Der Begriff „verwahrlost“ hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten, freilich in der säkularisierten Bedeutung von: verlottert und moralisch verderbt. Da „verwahrlost“ mit der Zeit als extrem stigmatisierend empfunden wurde, was auch kaum Hoffnung auf bessernde Einwirkung mit pädagogischen Maßnahmen ließ, wurden andere Begriffe gesucht, die an die Stelle treten konnten, aber alle waren auch wiederum mit dem einen oder anderen Makel behaftet. „Verhaltensgestört“ galt lange Zeit als der Begriff der Wahl, aber ihm haftete die Implikation an, dass es sich um eine „Störung“ im medizinischen oder psychologischen Sinne handelt und deshalb das Verhalten - und damit auch die Person als Verhaltensträger - als krank angesehen wurde. Der Vorteil bestand immerhin darin, dass man gestörtem Verhalten nicht (mehr) mit Strafmaßnahmen oder anderen Sanktionen beizukommen versuchte, sondern mit psychologischer oder medizinischer Hilfe (bis hin zu medikamentöser Therapie); aber ein gehöriges Maß an Stigmatisierung haftete auch diesem Begriff an. VHN 2 | 2022 89 REINHARD FATKE „Herausforderndes Verhalten“ - eine Begriffsdiskussion DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die Suche nach alternativen Bezeichnungen für „Verhaltensstörungen“, die einen weniger negativen Beiklang hatten, führte unter anderem zu „abweichend“ (siehe dazu das zum Klassiker gewordene Lehrbuch von Lamnek: 2017 a; 2017 b). Dieser Begriff vermeidet die Implikation des Krankhaften und fokussiert nicht primär die Person als Verhaltensträgerin, sondern das soziale System, von dem „abgewichen“ wird, d. h. von den formellen und informellen Normen; aber letztlich bleibt es doch ein Etikett, das der Person zugeschrieben wird, und zwar nicht von irgendwem, sondern von den „Instanzen sozialer Kontrolle“ (Justizsystem, Jugendhilfe, Soziale Arbeit, auch Schule), und ein solcher Zuschreibungsprozess führt in der Regel dazu, dass sich das Verhalten verfestigt. Mit „deviant“ versuchte man dem zu entgehen, weil ein in der Umgangssprache wenig gebräuchliches Fremdwort für „abweichend“ als weniger negativ empfunden wurde und es außerdem mehr nach Wissenschaft klang. Das Gleiche galt für die Bezeichnung „dissozial“, die zusätzlich den Vorteil hatte, dass wieder der soziale Kontext sprachlich in den Begriff aufgenommen wurde. Jedoch auch mit diesen beiden Bezeichnungen entging man der Falle einer negativen Etikettierung letztlich nicht. Also wurde, im Sinne eines Gegenvorstoßes, eine Bezeichnung mit positiver Konnotation gesucht - und gefunden: „verhaltensinnovativ“ oder „verhaltensoriginell“. Aber auch, wenn dies ernsthaft gemeint sein sollte und nicht ironisch, muss man feststellen, dass sich keiner der beiden Begriffe durchgesetzt hat. Stattdessen stieß ein anderer Begriff, nämlich „verhaltensauffällig“ bzw. „sozial auffällig“, in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit weitgehend auf Akzeptanz. Auch werden in neueren Publikationen „Verhaltensauffälligkeit“ und „herausforderndes Verhalten“ häufig entweder synonym gebraucht oder im selben Atemzug zur Bezeichnung des gleichen Verhaltens genannt. „Auffällig“ ist auch deshalb ein stimmiger Begriff, weil er zurückweist auf die Umwelt, der ein bestimmtes Verhalten „auffällt“ und die Rechenschaft darüber geben muss, in welchem Kriterienrahmen das Verhalten als auffällig wahrgenommen und so bezeichnet wird. Ein solcher Kriterienrahmen ist flexibel, je nach situativem Kontext (z. B. muss ein Verhalten, das in einer Einrichtung auffällig ist, im Familienkreis nicht unbedingt ebenfalls auffällig sein), je nach subkultureller Zugehörigkeit, je nach eigener Lebensgeschichte derjenigen Personen, die das Verhalten wahrnehmen und darauf reagieren, was z. B. recht unterschiedlich zwischen Lehrpersonen oder Heilpädagog/ innen oder Betreuer/ innen sein kann. 2 Begründung des Konzepts „herausforderndes Verhalten“ in der Fachliteratur Möglicherweise klang „auffällig“ zu wenig dramatisch und beunruhigend angesichts des Potenzials an Bedrohungen, Aggressionen, Verletzungen, das in dem Verhalten steckt. „Herausfordernd“ dagegen als ein neu in die Diskussion eingebrachter Begriff schien das Verstörende, Beunruhigende, Gefährliche solchen Verhaltens bzw. der daraus erwachsenden Situation angemessener zum Ausdruck zu bringen, zumal er unmittelbar einen Interventionsimpuls auslöst, damit die Situation nicht außer Kontrolle gerät. In der englischsprachigen Diskussion hatte sich dieser Begriff („challenging behaviour“) schon seit Längerem etabliert, freilich ebenfalls hauptsächlich im Zusammenhang mit geistig oder psychisch (schwer) beeinträchtigten Menschen (Emerson, 1995). Jedoch traf der Begriff auf ein bereits längst etabliertes Verständnis von alltagsweltlichen Herausforderungen, wie sie im Bereich der Erziehung gang und gäbe sind. Gesorgt dafür hatte u. a. das ungewöhnlich erfolgreiche Buch von Rudolf Dreikurs und Vicki Soltz: Children: The Challenge (1964), das übrigens auch auf Deutsch (Kinder fordern uns heraus, 1972) unzählige Auflagen erlebte. VHN 2 | 2022 90 REINHARD FATKE „Herausforderndes Verhalten“ - eine Begriffsdiskussion DAS PROVOK ATIVE ESSAY Diejenigen, die sich mit Nachdruck für die Verwendung dieses Begriffs einsetzen, machen vor allem geltend, dass er die Wechselbeziehung zwischen der Person und ihrem Umfeld in den Mittelpunkt der Betrachtung rücke. Verhalten sei nicht „an einer Person festzumachen, sondern immer Ausdruck einer Störung des Verhältnisses zwischen Individuum und Umwelt“ (Theunissen, 2011, S. 61; vgl auch Calabrese, 2017). Diese aus dem systemökologischen Denken abgeleitete Sichtweise ist genauso richtig wie trivial und spätestens seit der Feldtheorie von Kurt Lewin (1938) in der Sozial- und Verhaltenswissenschaft bekannt. Lewin fasste diese Erkenntnis in die berühmt gewordene Formel B = F (P, E): Behavior (Verhalten generell, nicht nur unterschiedliche Verhaltensausprägungen oder -muster) ist stets eine Funktion von Person und Environment (Umwelt), wobei die mathematische Formel „Funktion von …“ genau das Zusammenspiel, die Wechselwirkung beider Komponenten meint. Richtig bleibt an der Heranziehung dieser verhaltenswissenschaftlichen Grunderkenntnis zur Interaktion von Person- und Umweltfaktoren, dass im Begriff „herausforderndes Verhalten“ eine einengende Perspektive auf die Person als ausschließliche oder hauptsächliche Quelle des problematischen Verhaltens vermieden wird und auch die Umweltfaktoren in den Blick genommen werden. Allerdings ist auch mehrfach betont worden, dass der Begriff des herausfordernden Verhaltens ebenfalls zu einer Abstempelung, einer Stereotypisierung mit stigmatisierendem Charakter führe, weil das Verhalten letztlich doch als ein der Person innewohnendes Merkmal aufgefasst werde. Deshalb ist vorgeschlagen worden, diesen Begriff zu ersetzen durch die Alternative „behaviour of concern“, etwa: „besorgniserregendes Verhalten“ (Chan, 2012) - allerdings bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Ebenfalls richtig ist der Hinweis darauf, dass gemäß der Lewinschen Formel die „Umwelt“ hinsichtlich jeweils konkreter Situationen zu differenzieren ist, um die „Relationalität“ und die „Funktionalität“ des Verhaltens zu erfassen, wie Calabrese (2017, S. 24, mit Bezug auf Feuser, 2008) betont. Aber hierzu wäre zum einen zu fragen, wie genau denn die „Relationalität“ bestimmt werden kann, d. h. welche Anteile von beiden Seiten (Person und Umwelt) in welchem Ausmaß und in welcher Dynamik miteinander interagieren, um das konkrete Produkt „herausforderndes Verhalten“ hervorzubringen. Zum anderen ließe sich monieren, dass die Idee der „Funktionalität“ nicht über den allgemeinen Hinweis hinaus vertieft wird, dass das Verhalten für die betroffene Person „sinnvoll und bezogen auf den Kontext bedeutungsvoll“ sei und „eine dialogisch-kooperative sowie pädagogisch-therapeutische Orientierung“ ermögliche (Calabrese, 2017, S. 23). Der Gedanke, dass einem Verhalten ein „subjektiver Sinn“ zugrunde liegen kann und eine bestimmte Funktion in einem je spezifischen Kontext erfüllen soll, verdiente eine detailliertere Ausführung, selbst wenn es sich um Personen mit schweren Beeinträchtigungen handelt - bis hin zu Autismus und Demenz. Calabrese (2017, S. 23) erwähnt zwar beiläufig das Konzept des „subjektiven Sinns“, wie es von Max Weber bereits früh im 20. Jahrhundert (Weber, 1922) entwickelt worden ist und womit er „soziales Handeln“ von „rein habituellem“ Verhalten unterschieden hat: „‚Handeln‘ soll […] ein menschliches Verhalten […] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden“ (Weber, 1922, S. 1). Aber Calabrese verzichtet darauf, aus dieser Differenz die Konsequenzen zu ziehen, und zwar mit der Begründung, dass „in der praktischen Arbeit [herausfordernde Verhaltensweisen] oft als personinhärente Eigenart resp. […] im Sinne eines Habitus betrachtet“ würden (Calabrese, 2017, S. 24). VHN 2 | 2022 91 REINHARD FATKE „Herausforderndes Verhalten“ - eine Begriffsdiskussion DAS PROVOK ATIVE ESSAY Unabhängig von dieser Entscheidung der Autorin sei aber hier dafür plädiert, die Dimension des subjektiven Sinns im sozialen Handeln ernster zu nehmen. Es stehen verschiedene hermeneutische Methoden zur Sinnerschließung, zum Freilegen von Bedeutungsschichten in Interaktionen bereit: Verfahren der Tiefenhermeneutik, der objektiven Hermeneutik, der Konfigurationsanalyse und andere werden bereits vielfach in qualitativen und rekonstruktiven Forschungen verwendet. Es sei zugegeben, dass es einfacher ist bei Personen, mit denen man in alltagsweltlichem Sinn kommunizieren kann. Aber auch Laute, sprachlose Bewegungen, Handlungen, deren Sinn sich nicht gleich erschließt, aber dennoch als „herausfordernd“ wahrgenommen werden, haben verborgene Bedeutungsdimensionen, die als Reaktion auf spezifische äußere Einflüsse oder eine situative und personelle Konstellation verstanden werden können. Und es ist gut möglich, dass sie eine Funktion haben, die einer unbewussten Intention entspringt. Letzteres ist in Handlungen von dialogfähigen Personen einfacher zu eruieren. Auch aufsässigen, aggressiven, verletzenden Handlungen unterliegt in aller Regel eine Absicht, mit der ein bestimmter Zweck erfüllt werden soll. Da diese Absicht im Unbewussten verborgen ist, muss sie im Dialog erschlossen werden. Voraussetzung dafür ist allerdings ein gewisses psychoanalytisches Grundwissen. Die Psychoanalytische Pädagogik hat seit den 1920er-Jahren eine lange Tradition geschaffen, in der in verschiedenen Arbeitsfeldern (Sozial-, Heil-, Familien-, Kindergarten-, Schulpädagogik u. a.) unzählige Beispiele vorgelegt wurden, in denen unbewusste Prozesse von Widerstand, Abwehr, Verdrängung, Übertragung, Gegenübertragung usw. nachgewiesen wurden, die in Interaktionen wirksam sind und von den Erziehungspersonen als „herausfordernd“ wahrgenommen werden. Auch dafür, wie damit pädagogisch umgegangen werden kann, gibt es Beispiele. Exemplarisch seien hier das „Life Space Interview“ von Fritz Redl (1959) und das „szenische Verstehen“ von Aloys Leber (1988) genannt. 3 Die Mehrdeutigkeit von „Herausforderung“ Was ist also gewonnen mit dem Begriff „herausforderndes Verhalten“? Dazu wäre die (mehrfache) Bedeutung von „Herausforderung“ genauer zu ermitteln, also eine semantische Analyse vorzunehmen. Dabei ergibt sich als erstes, dass das Herausfordernde zwei Quellen haben kann, die recht unterschiedlich sind und deshalb auch unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: 3.1 Die Herausforderung liegt in einer Aufgabe Die Bearbeitung oder Lösung der als Herausforderung empfundenen Aufgabe verlangt der- oder demjenigen, die oder der vor dieser Aufgabe steht, mehr als üblich ab, also mehr Anstrengung oder mehr Wissen oder mehr Kompetenzen, als für andere Aufgaben nötig waren, die bisher zu bewältigen waren. Das kann für technische Probleme gelten, für die eine innovative Lösung erforderlich ist (vom Öffnen einer Konservendose ohne Dosenöffner bis hin zur Entwicklung eines Roboters, der auf dem Mars operieren kann). Das kann auch für das Erreichen eines selbstgesetzten Ziels gelten, das höher oder voraussetzungsvoller ist als die bisher gesetzten Ziele (z. B. die Einübung eines bislang unbekannten Sprungs beim Eiskunstlauf oder die Erklimmung eines Berggipfels jenseits der Sauerstoffgrenze). Das kann auch für die Lösung eines bislang ungelösten mathematischen Problems gelten. Und es gilt ebenfalls für fast alle Arten von Mutproben bzw. hochriskanten Unternehmungen. - Herausforderungen dieser Art bestehen also in Aufgaben, die von außen oder von der Person selbst gesetzt werden und Innovativität und Kreativität oder zusätzliches Lernen bzw. Erwerb zusätzlicher Kompetenzen oder besonderen Mut erfordern. Wichtig ist aber auch, dass man, zumindest in den meisten Fällen, selbst VHN 2 | 2022 92 REINHARD FATKE „Herausforderndes Verhalten“ - eine Begriffsdiskussion DAS PROVOK ATIVE ESSAY entscheiden kann, ob man sich dieser Herausforderung stellen will oder nicht. Diese Entscheidung hängt wiederum davon ab, welche Emotionen diese Herausforderung auslöst, z. B. nervöse Anspannung, Angst vor dem Versagen, günstigenfalls auch Vorfreude auf das mögliche Gelingen und antizipierter Stolz auf die Selbstüberwindung. 3.2 Die Herausforderung liegt im Verhalten von Personen Wenn die Herausforderung im Verhalten von Personen liegt, mit denen man professionell zu tun hat, bzw. in Situationen, die von diesen Personen mit ihrem Verhalten herbeigeführt werden, dann ist zumeist unverzüglich klar, dass dieses Verhalten oder die Situation nicht mit der üblichen Routine oder mit den gewohnten Reaktionen zu bewältigen ist und entscheidend ist, dass man dieser Situation oder diesem Verhalten nicht einfach ausweichen kann. Herausforderungen dieser Art sind sofort spürbar in Form ganz anderer Affekte als beim zuvor genannten Typus: Man fühlt sich auf die Probe gestellt, hinsichtlich der Selbstsicherheit infrage gestellt, ja geradezu „provoziert“ (das lateinische provocare meint hervorrufen, wecken), was auch Angst, der Situation eventuell nicht gewachsen zu sein, erzeugen kann. Entscheidend aber ist, dass Affekte, die aus früheren Lebenszusammenhängen stammen und ins Unbewusste verdrängt wurden, durch das Verhalten des Gegenübers jetzt wieder aufgerührt werden und die Reaktion entscheidend mitbestimmen (können): Ärger, Wut, Ekel, Hilflosigkeit usw. Die Psychoanalytische Pädagogik hat diese Dimension, die in so gut wie allen erzieherischen Interaktionen vorhanden ist und das Geschehen mit beeinflusst, bereits von Anbeginn gekannt. Siegfried Bernfeld (1925, S. 141) hat für diese Tatsache die bekannte Formulierung gefunden: „So steht der Erzieher vor zwei Kindern: dem zu erziehenden vor ihm und dem verdrängten in ihm. Er kann gar nicht anders, als jenes zu behandeln, wie er dieses erlebte. Denn was jenem recht, wäre diesem billig. Und er wiederholt den Untergang des eigenen Ödipuskomplexes am fremden Kind, an sich selbst. Er wiederholt es auch dann, wenn er scheinbar das Gegenteil all dessen tut, was ihm seine Eltern antaten.“ August Aichhorn, ein anderer psychoanalytischer Pädagoge, hat detailliert und einfühlsam seine Arbeit mit „verwahrlosten“ Jugendlichen beschrieben, die ebenfalls eine große Herausforderung darstellten (1925). Er betonte, dass die Arbeit einem Duell glich und dass er diese „Herausforderung zum Kampf “ aufnehmen musste, um den Jugendlichen wirksam helfen zu können. Dabei ging es darum, dass er als Erzieher den „Kampf “ nicht mit dem Jugendlichen, sondern mit dessen „Verwahrlosung“ aufnehmen müsse, um ihn der Verwahrlosung, an die er gebunden ist, zu entreißen: „Ich bekämpfe nicht ihn, sondern er ist der Preis, der mir zufällt, wenn ich siege. Meine einzige Waffe ist die List. Ich verlocke ihn und schaffe dasselbe Abhängigkeitsverhältnis, das in der normalen Erziehung von Haus aus besteht.“ Das besteht in dem „Bedürfnis nach Befriedigung der Zärtlichkeitswünsche“. Um dies zu schaffen, „muß ich […] mich mit dem Verwahrlosten identifizieren. Je besser dies gelingt, desto mehr werde ich er, desto mehr verstehe ich seine Bedürfnisse und was er braucht […]“ (Aichhorn, 1976, S. 119). - Lässt sich noch anschaulicher formulieren, worin die Herausforderung besteht, die von einem Verhalten ausgeht? In diesem Lichte betrachtet, wäre es auch nicht nur nicht hinreichend, sondern käme einer unreflektierten Abwehr gleich, wenn sofort zu Maßnahmen gegriffen würde, wie sie durchaus in der Literatur empfohlen werden: Die Professionellen „sind gefordert, Lern- und Bildungsprozesse der begleiteten Personen zu unterstützen, indem sie Bedingungen modifi- VHN 2 | 2022 93 REINHARD FATKE „Herausforderndes Verhalten“ - eine Begriffsdiskussion DAS PROVOK ATIVE ESSAY zieren, Strukturen verändern, Angebote anpassen etc.“ (Büschi & Calabrese, 2019 b, S. 7). - Ja, das auch, weil das alles richtig und sinnvoll ist, aber nicht unter Ausblendung der Psychodynamik zwischen den Professionellen und den begleiteten Personen. Denn damit die Professionellen sich in ihrer Wahrnehmung und ihrer Reaktion nicht von den eigenen aufgerührten Affekten bestimmen lassen und somit in eine Beziehungsfalle tappen, müssen sie ihrer Affekte gewahr werden, indem sie in sich hineinspüren (das ist mehr als „reflektieren“). 4 Fazit Es wäre viel gewonnen, wenn das Verständnis und der Gebrauch des Konzepts „herausforderndes Verhalten“, wie es sich in der heilpädagogischen Diskussion zunehmend durchsetzt, durch die Dimension ergänzt würde, die dem Begriff erst den eigentlichen umfassenden Sinn verleiht: nämlich dass das infrage stehende Verhalten nicht nur die übliche, auf Unterstützung von Lernprozessen oder Veränderung von Strukturen zielende professionelle Kompetenz der Erziehungs- oder Betreuungsperson herausfordert, sondern deren ganze Person, weil das herausfordernde Verhalten bzw. die damit verbundene interaktive Situation an tiefer sitzende Affekte rührt und die Gefahr unbewusster Reaktionen provoziert. Das gilt auch für die extremen Formen sprachloser Handlungen, wie sie aus der Betreuung und Behandlung von Demenzkranken, Autisten und geistig oder psychisch schwer beeinträchtigten Menschen bekannt sind. In die Ausbildung gälte es Elemente zu integrieren, welche die angehenden Professionellen dabei unterstützen, das Verhalten ihres Gegenübers als nach außen gewendetes Agieren von inneren (unbewussten) Prozessen zu verstehen, sodann die eigenen verdrängten Affekte, also das Kind in sich selbst, zu spüren und schließlich die psychodynamischen Verwicklungen in der Interaktion zu erkennen und die Beziehungsfallen zu vermeiden. Nachbemerkung Dieser Beitrag hat verschiedentlich in kritischer Weise auf die Arbeit von Calabrese (2017) Bezug genommen. Die Kritik bezieht sich jedoch lediglich auf die Weise, wie in der Arbeit theoretischkonzeptuell mit dem Begriff „herausforderndes Verhalten“ umgegangen wird, ausdrücklich aber nicht auf die sauber und ertragreich durchgeführte „qualitativ-videoanalytische Studie über die Gestaltung von Arbeitssituationen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen“ (so der Untertitel der Dissertation). Literatur Aichhorn, A. (1925). Verwahrloste Jugend. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Bern: Huber. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-211-69499-2_3 Aichhorn, T. (Hrsg.) (1976). Wer war August Aichhorn. Briefe, Dokumente, Unveröffentlichte Arbeiten. Wien: Löcker & Wögenstein. Bernfeld, S. (1925). Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Leipzig & Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-13213-2_22 Büschi, E. & Calabrese, S. (Hrsg.) (2019 a). Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer. Büschi, E. & Calabrese, S. (2019 b). Zu diesem Buch. In E. Büschi & S. Calabrese, Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit, 6 -13. Stuttgart: Kohlhammer. Calabrese, S. (2017). Herausfordernde Verhaltensweisen - Herausfordernde Situationen: Ein Perspektivenwechsel. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Chan, J. (2012). Is it time to drop the term ‘challenging behaviour’? Learning Disability Practice, 15 (5), 36 -38. Dreikurs, R. & Soltz, V. (1964). Children: The Challenge. New York: Duell, Sloan & Pearce. Emerson, E. (1995). Challenging Behaviour: Analysis and Intervention in People with Learning Disabilities. Cambridge: Cambridge University Press. Färber, H.-P. (2012). Herausforderndes Verhalten in Pädagogik, Therapie und Pflege. Mössingen: Stiftung KBF. VHN 2 | 2022 94 REINHARD FATKE „Herausforderndes Verhalten“ - eine Begriffsdiskussion DAS PROVOK ATIVE ESSAY Feuser, G. (2008). Intensiv, herausfordernd, aggressiv? Auffälliges Verhalten von behinderten Menschen verstehen. In Evangelisches Diakoniewerk (Hrsg.), 36. Martinstift-Symposium 2008. An Grenzen kommen. Begleitung von behinderten Menschen mit herausforderndem Verhalten, 34 -44. Gallneukirchen: Evangelisches Diakoniewerk. Heijkoop, J. (2014). Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung. Neue Wege der Begleitung und Förderung. 6. Aufl. Weinheim: Beltz. Hejlskov Elvén, B. & Abild McFarlane, S. (2020). Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen. Praxisbuch für Pflege und Gesundheitsberufe. Göttingen: Hogrefe. https: / / doi.org/ 10.1024/ 86000-000 James, I. A. & Jackman, L. (2019). Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz: Einschätzen, verstehen und behandeln. 2. Aufl. Göttingen: Hogrefe. https: / / doi.org/ 10.1024/ 85826-000 Lamnek, S. (2017 a). Theorien abweichenden Verhaltens I - „Klassische“ Ansätze. 10. Aufl. Stuttgart: utb. Lamnek, S. (2017 b). Theorien abweichenden Verhaltens II - „Moderne“ Ansätze. 4. Aufl. Stuttgart: utb. Leber, A. (1988). Zur Begründung des fördernden Dialogs in der psychoanalytischen Heilpädagogik. In G. Iben (Hrsg.), Das Dialogische in der Heilpädagogik. 41 -61. Mainz: Grünewald. Lewin, K. (1938). Principles of Topological Psychology. New York: McGraw-Hill. Popp, K. & Methner, A. (Hrsg.) (2014). Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten: Hilfen für die schulische Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. Redl, F. (1959). The Life Space Interview - strategy and techniques. The American Journal of Orthopsychiatry, 29 (1), 1 -18. Theunissen, G. (2011). Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. 5. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Theunissen, G. (2019). Autismus und herausforderndes Verhalten: Praxisleitfaden Positive Verhaltensunterstützung. 3. Aufl. Freiburg i. Br.: Lambertus. Weber, M. (1922). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr-Siebeck. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-531-90400-9_129 Weber Long, St. (2020). Herausforderndes Verhalten. Herausforderungssituationen mit alten Menschen meistern. Göttingen: Hogrefe. Anschrift des Verfassers Prof. em. Dr. Reinhard Fatke Universität Zürich Institut für Erziehungswissenschaft Freiestr. 36 CH-8032 Zürich E-Mail: fatke@ife.uzh.ch
