eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Fachbeitrag: Zur Vulnerabilität von Personen mit Lernschwierigkeiten gegenüber psychischen Störungen

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2022
Stephan Kehl
Personen mit Lernschwierigkeiten wird allgemein eine deutlich erhöhte Vulnerabilität für die Entwicklung psychischer Störungen zugeschrieben. Dieser angenommene Zusammenhang unterliegt jedoch einer Reihe bedeutsamer methodologischer und konzeptioneller Einschränkungen, die die Zusammenstellung von Stichproben, den Einfluss konfundierender Variablen und die Plausibilität der Zuschreibung einer psychischen Störung bei spezifischen Merkmalen des Erlebens und Verhaltens von Personen mit Lernschwierigkeiten betreffen. Aus Sicht des Autors ist aufgrund dieser Einschränkungen ein differenzierter Blick auf die Vulnerabilität des Personenkreises geboten, der die Frage nach spezifischen (kognitiven) Bedingungen für unterschiedliche Formen psychischer Störungen in den Vordergrund rückt. Zudem beinhaltet die Wahrnehmung von Personen mit Lernschwierigkeiten als generell vulnerable Gruppe gleichermaßen bedeutsame praktische Implikationen. Abschließend werden deshalb Forschungsdesiderata formuliert, die einen wichtigen Beitrag zu diesem Perspektivenwandel leisten können.
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139 VHN, 91. Jg., S. 139 -150 (2022) DOI 10.2378/ vhn2022.art15d © Ernst Reinhardt Verlag Zur Vulnerabilität von Personen mit Lernschwierigkeiten gegenüber psychischen Störungen Stephan Kehl Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Zusammenfassung: Personen mit Lernschwierigkeiten 1 wird allgemein eine deutlich erhöhte Vulnerabilität für die Entwicklung psychischer Störungen zugeschrieben. Dieser angenommene Zusammenhang unterliegt jedoch einer Reihe bedeutsamer methodologischer und konzeptioneller Einschränkungen, die die Zusammenstellung von Stichproben, den Einfluss konfundierender Variablen und die Plausibilität der Zuschreibung einer psychischen Störung bei spezifischen Merkmalen des Erlebens und Verhaltens von Personen mit Lernschwierigkeiten betreffen. Aus Sicht des Autors ist aufgrund dieser Einschränkungen ein differenzierter Blick auf die Vulnerabilität des Personenkreises geboten, der die Frage nach spezifischen (kognitiven) Bedingungen für unterschiedliche Formen psychischer Störungen in den Vordergrund rückt. Zudem beinhaltet die Wahrnehmung von Personen mit Lernschwierigkeiten als generell vulnerable Gruppe gleichermaßen bedeutsame praktische Implikationen. Abschließend werden deshalb Forschungsdesiderata formuliert, die einen wichtigen Beitrag zu diesem Perspektivenwandel leisten können. Schlüsselbegriffe: Vulnerabilität, psychische Störungen, geistige Behinderung, Lernschwierigkeit, Arbeitsgedächtnis On the Vulnerability of People with Intellectual Disabilities to Mental Disorders Summary: In general, people with intellectual disability have a higher vulnerability for the development of mental disorders. Though, the link between intellectual disability and mental disorders is limited by important methodological and conceptional restrictions. These restrictions include the compilation of samples, the influence of confounding variables and the adequacy of ascribing a mental disorder to people with intellectual disabilities showing specific mental or behavioral characteristics. According to the author, a more specific view to the vulnerability of people with intellectual disabilities with more attention to particular causes for particular forms of mental disorders is necessary. Moreover, perceiving people with intellectual disabilities in general as vulnerable has important practical consequences. Finally, implications for research are discussed to overcome the methodological and conceptional limitations. Keywords: Vulnerability, mental disorder, intellectual disability, working memory FACH B E ITR AG 1 Vulnerabilität - Inhaltliche und begriffliche Annäherungen Obwohl Vulnerabilität ein mittlerweile sehr geläufiger Begriff in der Sonderpädagogik ist, fällt dessen genaue Definition wie bei vielen anderen psychologischen Konstrukten schwer. Gemeinhin wird Vulnerabilität im deutschsprachigen (wissenschaftlichen) Kontext mit Verwundbarkeit, Verletzbarkeit oder Verletzlichkeit einer Person übersetzt (Burghardt et al., 2019, S. 4f.). Über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus ist der Begriff der Vulnerabilität im Zuge der Corona-Krise mittlerweile auch in VHN 2 | 2022 140 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG weiten Teilen der Gesellschaft verankert (Weiß, 2020). In der psychologischen Forschung wurde der Begriff durch Zubin und Spring (1977) geprägt, die das Konstrukt der Vulnerabilität in der Diskussion um die Entstehung von schizophrenen Episoden bei betroffenen Patient/ innen einführten. Sie unterschieden zwischen einer (1) angeborenen Vulnerabilität, die beispielsweise durch eine bestimmte genetische Ausstattung bedingt ist, und einer u. a. infolge perinataler Komplikationen oder familiärer Erfahrung (2) erworbenen Vulnerabilität (Masten & Gewirtz, 2006). Im engeren psychologischen Sinne lässt sich Vulnerabilität in Anlehnung an Masten und Gerwitz (2006, S. 22) als Prädisposition oder Anfälligkeit einer Person für die Entwicklung einer spezifischen Erkrankung oder ein von den Erwartungen des Umfelds in negativer Hinsicht abweichendes Erleben und Verhalten einer Person begreifen. Diese Definition kann für den vorliegenden Beitrag als maßgebend verstanden werden, da aus sonderpädagogischer Perspektive hierbei zwei Aspekte hervorzuheben sind: Erstens soll mit der Perspektive der gesellschaftlichen Erwartung hervorgehoben werden, dass der Beurteilung von Erleben und Verhalten einer Person im Kontext von Vulnerabilität meist eine normative Perspektive zugrunde liegt. Gerade mit Blick auf Personen mit Lernschwierigkeiten sollte jedoch die Sinnhaftigkeit und Funktionalität von Verhalten, das aus einer beobachtenden Perspektive „auffällig“ oder „gestört“ erscheint, hinterfragt werden (Feuser, 2011). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass sich die subjektive und „objektive“ Zuschreibung von abweichendem Erleben und Verhalten unterscheiden kann, da gesellschaftlich erwünschtes Verhalten subjektiv nicht als sinnhaft erlebt werden muss und umgekehrt (Hutcheon & Lashewicz, 2014). Außerdem kann die Einschätzung der „Angemessenheit“ des Erlebens und Verhaltens einer Person - basierend auf Bronfenbrenner (1977) - auf unterschiedlichen Ebenen (z. B. Mikroebene vs. Makroebene) verschieden bewertet werden; zudem unterliegt diese Einschätzung in Hinsicht auf eine zeitliche Dimension einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess (Chronosystem). Zweifelsohne unterscheiden sich beispielsweise die gegenwärtigen gesellschaftlichen Vorstellungen von angemessenem Verhalten und psychischen Störungen von denjenigen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zweitens ist Vulnerabilität ein probabilistisches und konditionales Konstrukt, weil es eine Aussage über ein mögliches Entwicklungsergebnis trifft, das nur unter der Bedingung zusätzlicher belastender Faktoren auftritt (Masten & Gewirtz, 2006). Ohne entsprechende risikoerhöhende Bedingung manifestiert sich die Vulnerabilität einer Person jedoch nicht in einem von den Erwartungen des Umfelds in negativer Hinsicht abweichenden Erleben und Verhalten einer Person. Vulnerabilität steht damit in einem negativen Zusammenhang mit dem „notwendigen“ Ausmaß an negativer Umwelterfahrung, das für die ungünstige Beeinflussung eines Entwicklungsverlaufes erforderlich ist (Tarter, 1988). Dieser Zusammenhang findet sich bereits bei Zubin und Spring (1977), die davon ausgingen, dass Personen mit einer hohen Ausprägung von Vulnerabilität bereits durch die ihre Bewältigungskapazitäten übersteigenden alltäglichen Anforderungen anfällig für eine unerwünschte Abweichung von der gesellschaftlichen Erwartung sind. Solche Anforderungen können internaler (z. B. das Setzen bestimmter Ziele) oder externaler (z. B. Anforderungen in Schule/ Beruf) Natur sein (Zubin & Spring, 1977). Diese individuell unterschiedlich ausgeprägte Vulnerabilität spiegelt sich im sonderpädagogischen Kontext in der unterschiedlichen Auftretenshäufigkeit von psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten in Abhängigkeit der spezifischen Ätiologie einer Lernschwierigkeit (Došen, 2018). Personen mit einem bestimmten genetischen Syndrom weisen dabei VHN 2 | 2022 141 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG zum Teil eine erhöhte Vulnerabilität für spezifische Störungen auf, sodass im Sinne der Konstruktdefinition vergleichsweise geringe externale Bedingungen „notwendig“ sind, um zu einem solchen Entwicklungsergebnis zu führen. Bei Kindern mit dem Williams-Beuren-Syndrom ist beispielsweise die Prävalenz von Angststörungen deutlich höher als bei Gleichaltrigen mit Lernschwierigkeiten anderer Ursache und durchschnittlich entwickelten Kindern (Sarimski, 2014, S. 151). Die Unterscheidung zwischen Vulnerabilität einer Person und dem Vorliegen weiterer risikoerhöhender Bedingungen steht zudem in Einklang mit dem Diathese-Stress-Modell zur Erklärung psychischer Störungen (Richters & Weintraub, 1990, S. 69). Hierbei geht man im Allgemeinen davon aus, dass eine genetisch vermittelte Prädisposition für die Ausprägung einer psychischen Störung besteht, die tatsächliche Entwicklung dieser Störung im Phänotyp jedoch von spezifischen Lebenserfahrungen abhängt (Masten & Gewirtz, 2006). Die individuelle Vulnerabilität einer Person entspricht dabei der Diathese, die von der eine psychische Störung auslösenden Bedingung abzugrenzen ist. Besondere Aufmerksamkeit haben in den letzten Jahren Studien erregt, die die Bedeutung der Gen-Umwelt-Interaktion für die Entwicklung psychischer Störungen untersuchen (Carver, Johnson, Joormann, Lemoult & Cuccaro, 2011; Caspi et al., 2002). Eine bestimmte genetische Disposition bildet hierbei entweder eine Vulnerabilität für die Entwicklung einer Störung ab oder kann im Gegenteil dazu vor ihrem Auftreten schützen. In diesem Sinne moderiert die genetische Ausstattung als Vulnerabilitäts- oder protektiver Faktor die Auswirkung von Risikofaktoren. Beispielsweise untersuchten Carver et al. (2011) u. a., welchen Einfluss der Polymorphismus eines Serotonin-Transporter- Gens (5-HTTLPR) auf die Entwicklung einer depressiven Störung in Abhängigkeit der erlebten familiären Risiken aufweist. Dabei konnten sie zeigen, dass eine bestimmte Ausprägung des Serotonin-Transporter-Gens (lang/ lang) mit einem signifikant niedrigeren Risiko dafür assoziiert ist, während die Ausprägung kurz/ kurz und kurz/ lang mit einem (wenn auch statistisch nicht signifikanten) höheren Risiko dafür einhergeht. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass neuere Forschungsansätze die einseitige Wahrnehmung solcher genetischer Varianten als Vulnerabilitätsfaktor in Zweifel ziehen und vielmehr von einer größeren Beeinflussbarkeit durch Umweltfaktoren in eine negative oder positive Richtung sprechen (Belsky & Pluess, 2009). Das Verständnis der Entstehung psychischer Störungen bei Personen mit Lernschwierigkeiten in diesem Beitrag folgt damit einem biopsycho-sozialen Ansatz (Lingg & Theunissen, 2008). Die stärker biologisch verwurzelte Vulnerabilität einer Person muss damit in Wechselwirkung mit psychologischen und sozialen Faktoren gesehen werden, die maßgeblich beeinflussen, inwieweit es zu der Entwicklung einer psychischen Störung kommt oder nicht. 2 Forschungsstand zur erhöhten Vulnerabilität von Personen mit Lernschwierigkeiten gegenüber psychischen Störungen Ähnlich wie im Kontext von Vulnerabilität ist auch eine exakte Definition von psychischen Störungen schwierig; vor dem Hintergrund des DSM-V sehen Falkai und Wittchen (2020, S. 5) „eine psychische Störung […] als Syndrom definiert, welches durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person charakterisiert ist. Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen VHN 2 | 2022 142 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG Funktionen zugrunde liegen Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamem Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten.“ Eine weiterhin offene Frage bezieht sich darauf, inwieweit die Prävalenz von psychischen Störungen im Laufe der letzten Jahre in der Gesamtbevölkerung zugenommen hat. Zumindest für Angststörungen können Bandelow und Michaelis (2015) keine ausreichenden Befunde für eine veränderte Prävalenz in den vergangenen Jahren feststellen; Ähnliches konstatieren Baxter, Scott, Ferrari, Norman, Vos und Whiteford (2014) für depressive Störungen. Vergleichsstudien zu solchen Veränderungen sind auch deshalb schwierig, weil sich u. a. die Kriterien für die Zuschreibung einer psychischen Störung im Laufe der Zeit deutlich gewandelt haben. Geht man jedoch davon aus, dass die Entstehung einer psychischen Störung im Sinne des Diathese-Stress-Modells immer aus einem Zusammenspiel von (auch) genetisch vermittelter Vulnerabilität einer Person und spezifischen Umweltbedingungen bedingt ist, ist eine systematische Zunahme eher unwahrscheinlich. Denn weder ist anzunehmen, dass sich genetische Einflussfaktoren im Laufe der Zeit systematisch verändert haben, noch ist es plausibel, von einer generellen Zunahme von belastenden Umwelterfahrungen auszugehen (Bandelow & Michaelis, 2015). Personen mit Lernschwierigkeiten wird aufgrund einer größeren Anzahl an biologischen und psycho-sozialen Risiken im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung eine erhöhte Vulnerabilität für die Entwicklung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten zugeschrieben (Mohr & Schäfer, 2018; Senckel, 2003, S. 88). Der Vorstellung über den Einfluss der Lernschwierigkeit liegt im Allgemeinen die Annahme zugrunde, dass eine beeinträchtigte Informationsverarbeitung den adäquaten Umgang mit komplexen Anforderungen oder Gefahren und damit das Verstehen der eigenen Lebenswirklichkeit erschwert - beispielsweise mit Blick auf das Empfinden von Schmerzen oder das Durchleben medizinischer Untersuchungen (Irblich, 2012; Mohr & Schäfer, 2018, S. 14). Zudem wird von der Annahme ausgegangen, dass die im Vergleich zur Durchschnittspopulation geringeren kognitiven Fähigkeiten eine spezifische Prädisposition für ein negatives Selbstkonzept darstellen und die Vulnerabilität gegenüber einer depressiven Störung erhöht ist (Došen, 2018, S. 335). Pörtner (2013, S. 49) spricht hier gar von einem „behinderten Selbstkonzept“, welches durch negative Selbstzuschreibungen geprägt sei. Die Grundannahme in Bezug auf das Selbstkonzept von Personen mit Lernschwierigkeiten ist, dass aufgrund der Beeinträchtigungen in basalen kognitiven Prozessen ihre Welt „weitgehend unbegreiflich“ und damit „potentiell bedrohlich“ bleibt (Senckel, 2003, S. 85) und damit gleichzeitig eine „geringere Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten“ und „Gefühle der Hilflosigkeit“ entstehen (Sarimski, 2013, S. 53). Zu einer erhöhten Vulnerabilität tragen jedoch auch die beispielsweise von Raghavan und Griffin (2017) in ihrem Review zur Resilienz bei Personen mit Lernschwierigkeiten aufgegriffenen Befunde zu Defiziten in sozial-kognitiven Prozessen bei, die wiederum Einfluss auf den Aufbau der Bindungsorganisation (Schuengel & Janssen, 2006) und die Entwicklung sozioemotionaler Kompetenzen (Moore, 2001) nehmen können. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass neben der personenbezogenen Vulnerabilität auch soziale und ökonomische Belastungsfaktoren bei Familien mit einem Kind mit Lernschwierigkeiten überdurchschnittlich häufig bestehen, wie der höhere Anteil von Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen VHN 2 | 2022 143 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG Status im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung zeigt (Dworschak & Ratz, 2012). Diese sozialen Risiken können u. a. die psycho-soziale Entwicklung beeinträchtigen, indem sie das Erziehungsverhalten der Eltern indirekt oder direkt negativ beeinflussen (Parke et al., 2004). Hinzu kommt, dass die Behinderung eines Kindes zwar nicht gleichzusetzen mit einer andauernden psychischen Belastung der Eltern ist, die Befunde jedoch auf eine höhere Stressbelastung (vor allem der Mütter) im Alltag hindeuten (Doege, Aschenbrenner, Nassal, Holtz & Retzlaff, 2011; Raghavan & Griffin, 2017). Remschmidt (2012, S. 304) geht folglich davon aus, dass die Prävalenzrate psychischer Störungen bei Personen mit Lernschwierigkeiten drei bis vier Mal so hoch wie in der Durchschnittsbevölkerung ist (Došen, 2018). Hennicke (2015, S. 9) argumentiert, dass Personen mit Lernschwierigkeiten ebenfalls ein erhöhtes Risiko aufweisen, von belastenden Lebensumständen traumatisiert zu werden. Und Kühn (2015, S. 66) sieht sie als „Hochrisikogruppe“ für die Entwicklung traumatischer Folgestörungen. In einem Review zur Häufigkeit von psychischen Störungen bei Personen mit Lernschwierigkeiten (intellectual disability) kommen Einfeld, Ellis & Emerson (2011) dementsprechend zu deutlich erhöhten Prävalenzraten von 30 - 50 % und einem erhöhten Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen um den Faktor 2,8 bis 4,5. Einfeld et al. (2011) machen jedoch bereits auf eine Reihe von moderierenden Einflussfaktoren (Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status) aufmerksam, deren Bedeutung empirisch bisher umstritten ist. Zudem lassen sich mit Blick auf psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten von Personen mit Lernschwierigkeiten spezifische (z. B. Pica, Rumination) und unspezifische Störungen des Erlebens und Verhaltens in Abhängigkeit des Ausprägungsgrades der Lernschwierigkeit differenzieren (Sarimski & Steinhausen, 2019). Eine scharfe Abgrenzung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten ist dabei kaum möglich; Sarimski und Steinhausen (2019) weisen darauf hin, dass eine fehlende Passung zwischen Umwelt(anforderung) und Person nicht nur für problematische Verhaltensweisen, sondern auch für psychische Störungen gilt. Sowohl aus heilpädagogischer (Mohr & Schäfer, 2018) als auch psychiatrischer Sicht (Falkai & Wittchen, 2020) wird bei psychischen Störungen jedoch stärker eine Beeinträchtigung des eigenen Erlebens bzw. ein Leidensdruck im Vergleich zu auffälligem Verhalten in den Vordergrund gerückt. 3 Methodologische und konzeptionelle Einschränkungen bei einer globalen Betrachtung von Vulnerabilität Der Annahme einer allgemein erhöhten Vulnerabilität gegenüber der Entwicklung psychischer Störungen bei Personen mit Lernschwierigkeiten liegen jedoch weitreichende methodologische und konzeptionelle Einschränkungen zugrunde (Einfeld et al., 2011; Whitaker & Read, 2006). Methodologische Fragen sind zunächst mit Blick auf den bereits kurz angedeuteten Einfluss moderierender Variablen zu klären. Insbesondere die Bedeutung des sozio-ökonomischen Status, des Geschlechts und des Ausprägungsgrades der Lernschwierigkeiten spielen hier eine Rolle und sind weiterhin empirisch umstritten (Einfeld et al., 2011). Aus der Durchschnittsbevölkerung ist bekannt, dass ein negativer Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und der Häufigkeit psychischer Störungen besteht, der u. a. durch materielle Deprivation, eingeschränkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ein erhöhtes Stresserleben vermittelt werden könnte (Lampert, Kroll, Hapke & Jacobi, 2014). VHN 2 | 2022 144 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG Gleichzeitig ist der Anteil von Familien mit niedrigerem sozio-ökonomischen Status im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung erhöht, sodass möglicherweise nicht primär die Lernschwierigkeit die Vulnerabilität des Personenkreises ausmacht, sondern vielmehr sozio-ökonomische Variablen. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass eine erhöhte Prävalenz auch unabhängig des sozio-ökonomischen Status besteht (Perera, Audi, Solomou, Courtenay & Ramsay, 2020), in Ermangelung einer klaren definitorischen Bestimmung psychischer Störungen und der Berücksichtigung nur eines Teils des Personenkreises mit Lernschwierigkeiten sind die berichteten Befunde bisher aber nur schwer interpretierbar. Zweitens entspricht das Geschlechterverhältnis mit einem deutlich erhöhten Anteil an Schülern im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nicht dem der Durchschnittsbevölkerung (Dworschak & Ratz, 2012). Da der Anteil von (diagnostizierten) Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen bei Jungen weitaus höher als bei Mädchen liegt (Bergmann, 2008; Ettrich & Ettrich, 1992), hat dies wiederum Auswirkungen auf die berichteten Prävalenzraten. Ein drittes methodologisches Problem besteht in einer Art Doppeldiagnostik, welche systematischen Einfluss auf die Möglichkeiten der Generierung einer tatsächlichen Zufallsstichprobe nimmt. Denn für die Bestimmung einer Lernschwierigkeit (bzw. im internationalen Kontext intellectual disability) spielen mittlerweile die sogenannten adaptiven Kompetenzen die zentrale Rolle, wie beispielsweise das DSM-V (Falkai & Wittchen, 2020) oder die Kriterien der AAIDD (Schalock, Luckasson & Tassé, 2021) deutlich machen. Dazu gehören per Definition ebenfalls soziale Kompetenzen, deren Beeinträchtigung maßgeblich zur Zuschreibung einer Lernschwierigkeit (intellectual disabilty) beiträgt. Damit wird jedoch kaum eine Zufallsstichprobe aus der Population der Personen mit Lernschwierigkeiten mit der Durchschnittsbevölkerung verglichen, sondern eher eine Vorauswahl von Personen mit Lernschwierigkeiten und auffälligem Verhalten. Viertens wird nach Kenntnis des Autors in keiner der Studien die Ätiologie der Lernschwierigkeit berücksichtigt. Dabei ist mittlerweile hinreichend belegt, dass Personen mit unterschiedlichen genetischen Syndromen eine sehr hohe Vulnerabilität für die Entwicklung spezifischer psychischer Störungen haben können, die jedoch nicht auf Gruppen von Personen, deren Lernschwierigkeiten auf andere genetische oder unbekannte Ursachen zurückzuführen sind, übertragen werden können (Sarimski, 2014). Neben diesen methodologischen Einschränkungen lässt sich ein bedeutsames konzeptionelles Problem aus dem sehr differenzierten Review von Whitaker und Read (2006, S. 339) zur Prävalenz von psychischen Störungen von Personen mit Lernschwierigkeiten ableiten. Sie kommen darin zu dem Schluss, dass der insgesamt deutlich erhöhte Anteil psychischer Störungen bei Kindern mit Lernschwierigkeiten in Teilen auf eine höhere Prävalenz einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung nach ICD-10 (F84.0) und auf spezifische (externalisierende) Verhaltensstörungen zurückzuführen ist. Zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zählt ebenfalls das Autismus-Spektrum. Es ist dabei mit Blick auf die anhaltende Auseinandersetzung über die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Personen im Autismus-Spektrum (Ortega, 2009; Theunissen, 2014) fraglich, wie die Selbstwahrnehmung vieler betroffener Personen zur Definition einer psychischen Störung mit den Merkmalen der Beeinträchtigung des Erlebens und eines Leidensdrucks passt. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit es hier überhaupt gerechtfertigt ist, von einer psychischen Störung zu sprechen. Ähnliches lässt sich im Kontext der Verhaltensstörungen von Personen mit Lernschwierigkeiten feststellen, die zwar wahrscheinlich für das Umfeld der Person eine Belastung darstellt, aber nicht zwangsläufig für die Person selbst. VHN 2 | 2022 145 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG Insofern lässt sich richtigerweise im Sinne der Vulnerabilität von einer Prädisposition für die Entwicklung eines von den Erwartungen des Umfelds in negativer Hinsicht abweichenden Verhaltens einer Person sprechen; mit Blick auf eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber der Entwicklung psychischer Störungen lässt sich dies jedoch nicht uneingeschränkt annehmen. 4 Vulnerabilität von Personen mit Lernschwierigkeiten - ein differenzierter Blick Die Einschränkungen in methodologischer und konzeptioneller Hinsicht verdeutlichen die Notwendigkeit eines differenzierteren Blicks auf die Frage der Vulnerabilität von Personen mit Lernschwierigkeiten gegenüber der Entwicklung psychischer Störungen. So berichten Whitaker und Read (2006) zwar eine erhöhte Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten, für erwachsene Personen mit einer sogenannten leichten geistigen Behinderung (mild intellectual disability) existieren nach ihrer Auffassung allerdings keine eindeutigen Befunde für eine grundsätzlich erhöhte Prävalenz. Bei stärkeren Ausprägungsgraden von Lernschwierigkeiten scheint dies demgegenüber der Fall zu sein, auch wenn hier nicht klar ist, inwieweit die kognitiven Beeinträchtigungen an sich oder hirnphysiologische Veränderungen die zentrale Rolle spielen (Whitaker & Read, 2006). An diesen Ergebnissen lässt sich bereits ablesen, dass ein Unterschied bezüglich der Vulnerabilität von Personen mit Lernschwierigkeiten mindestens aufgrund des chronologischen und kognitiven Entwicklungsalters sowie der spezifischen Ätiologie besteht. Eine Differenzierung ist jedoch auch mit Blick auf die originäre Form der psychischen Störungen von Bedeutung. Eine erhöhte Prävalenz konnte beispielsweise für Angststörungen, nicht jedoch für depressive Störungen ausgemacht werden (Steinhausen, Häßler & Sarimski, 2013; Whitaker & Read, 2006). In Einklang damit stehen Befunde, die das Selbstkonzept bzw. die Selbsteinschätzung von Personen mit Lernschwierigkeiten auf empirischer Basis untersucht haben (Cunningham & Glenn, 2004; Glenn & Cunningham, 2001; Schuppener, 2005). Auch wenn sich der Forschungsstand hier ebenfalls kontrovers darstellt (Maïano, Coutu, Morin, Tracey, Lepage & Moullec, 2019), zeigen diese Befunde, dass das Selbstkonzept von Personen mit Lernschwierigkeiten nicht generell negativer ausfällt, sondern - auch in Abhängigkeit des kognitiven Entwicklungsalters - im Sinne der Hypothese der gleichen Abfolge (Zigler & Balla, 1982) eher durchschnittlich entwickelten jüngeren Personen gleicht (Harter, 2015). Whitaker und Read (2006, 19) widersprechen damit insgesamt der These, dass ein allgemeiner Zusammenhang zwischen einer beeinträchtigten Informationsverarbeitung und der Entwicklung psychischer Störungen bestünde. Zwei bedeutsame Implikationen lassen sich daraus ableiten. Zum einen ist es denkbar, dass weniger die personenbezogene Vulnerabilität bei dem Personenkreis mit Lernschwierigkeiten ausschlaggebend ist, sondern umfeldbezogene risikoerhöhende Bedingungen. Die besondere Lebenssituation vieler (aber bei weitem nicht aller) Familien im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Ein-Eltern-Familien, Familien mit Migrationshintergrund und Familien, die unter einschränkenden sozio-ökonomischen Bedingungen leben, verdeutlicht dies (Dworschak & Ratz, 2012). Zum anderen sollten nicht allgemein Einschränkungen der Informationsverarbeitung als Vulnerabilität gegenüber der Entwicklung psychischer Störungen angenommen werden, sondern im Sinne eines bio-psychosozialen Entwicklungsmodells das spezifische Zusammenspiel der kognitiven Besonderheiten mit biologischen und sozialen Faktoren in Bezug auf spezifische Formen psychischer Störungen in den Vordergrund gerückt werden. VHN 2 | 2022 146 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG Exemplarisch soll dieser differenzierte Blick auf kognitive Wirkmechanismen anhand von Angststörungen und depressiven Störungen im Folgenden aufgezeigt werden. Die höhere Prävalenz von Angststörungen könnte beispielsweise mit spezifischen Schwächen in der kognitiven Hemmung/ Inhibition (inhibition), also der Fähigkeit, irrelevante Reize zu hemmen, und des Anforderungswechsels (switching) bei Personen mit Lernschwierigkeiten zusammenhängen (Lifshitz, Kilberg & Vakil, 2016). Es gibt nicht nur robuste Befunde, die zeigen, dass Angststörungen mit einer beeinträchtigten Funktion in der kognitiven Hemmung/ Inhibition und des Anforderungswechsels einhergehen (Eysenck, Derakshan, Santos & Calvo, 2007), sondern auch, dass eine umgekehrte Wirkrichtung vorliegen kann (Petkus, Reynolds & Gatz, 2017). Während eine Beeinträchtigung von Arbeitsgedächtnisfunktionen auch bei Personen mit depressiven Störungen nachgewiesen werden konnte, könnten entwicklungsbezogene Besonderheiten in der Informationsverarbeitung bei Personen mit Lernschwierigkeiten dazu führen, dass (frühere) Misserfolgserlebnisse die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten weniger beeinflussen. So berichten Ruble, Grosovsky, Frey und Cohen (1992) beispielsweise, dass durchschnittlich entwickelte jüngere Kinder soziale Vergleiche über Misserfolge zwar für die Einschätzung der Fähigkeiten anderer Kinder, nicht jedoch für ihre eigenen Fähigkeiten nutzten. Dies deckt sich mit Befunden bezüglich des typischerweise sehr positiven Selbstkonzepts jüngerer Kinder und könnte auch im Kontext von Lernschwierigkeiten eine Rolle spielen, auch wenn die Befundlage hier uneinheitlich ist. Statt einer unspezifischen Verknüpfung von Lernschwierigkeit und der erhöhten Prävalenz psychischer Störungen wäre also zu fragen, welche (kognitiven) Prozesse bei welchem spezifischen Personenkreis mit einer Lernschwierigkeit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mit welchem bestimmten Entwicklungsergebnis in Zusammenhang stehen. Hier bedarf es allerdings dringend experimenteller und korrelativer Untersuchungen, um diese Hypothesen auf eine tragfähige empirische Basis zu stellen. 5 Fazit und Implikationen für Forschung und Praxis Dass ein differenzierter Blick auf die Vulnerabilität von Personen mit Lernschwierigkeiten nicht nur von theoretischem Wert ist, lässt sich anhand der pädagogischen Implikationen dieser Frage aufzeigen: Trost (2003, S. 511) verweist zu Recht darauf, dass unsere Vorstellungen, wie Menschen sind, warum sie sich wie verhalten und über welche Fähigkeiten sie verfügen, über unmittelbaren Einfluss auf das Unterrichten, Fördern und Beraten verfügen. Für die schulische Praxis heißt das frei nach Vygotskij (2001) übersetzt: Orientieren wir uns im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung daran, was den Schülern und Schülerinnen leichter fällt, konzentrieren wir uns auf die „Rahmenhandlungen“ schulischen Lernens, die Morgenkreise und das Kleben und Basteln (Born, 2011) oder steht die Anregung kognitiv anspruchsvoller, den individuellen Lernvoraussetzungen entsprechender Tätigkeiten und die Vermittlung von Kulturtechniken im Vordergrund? Die Vorstellung, ob Personen mit Lernschwierigkeiten grundsätzlich vulnerabel sind oder nicht, dürfte dabei diese pädagogischen Fragen beeinflussen, weil es (mit)bestimmt, was wir den Schülern und Schülerinnen zuzumuten bereit sind. Auf eine weitere wichtige Konsequenz der Zuschreibung einer global verstandenen Vulnerabilität macht Weiß (2020) aufmerksam. In der dichotomen Zuordnung einer vulnerablen Personengruppe mit Lernschwierigkeiten gegenüber der nicht-vulnerablen Durchschnittsbevölkerung vollzieht sich eine künstliche Trennung zwischen den beiden Gruppen, die die grundsätzliche Differenz von Personen mit VHN 2 | 2022 147 STEPHAN KEHL Vulnerarbilität von Personen mit Lernschwierigkeiten FACH B E ITR AG Lernschwierigkeiten in den Vordergrund rückt. Vulnerabilität sollte stattdessen, so die Argumentation von Weiß (2020), als Wesensmerkmal menschlicher Existenz begriffen werden. Mit Blick auf die Implikationen für die Forschung gilt es, auf die methodologischen Herausforderungen in der Untersuchung der Vulnerabilität im Kontext von Personen mit Lernschwierigkeiten einzugehen (Einfeld et al., 2011; Maïano et al., 2019; Whitaker & Read, 2006). Jenseits des Vergleichs der Prävalenz von psychischen Störungen, die aufgrund zahlreicher potenziell konfundierender Variablen (Geschlechterverteilung, Doppeldiagnosen, sozio-ökonomischer Status) problematisch sind, könnte eine Erweiterung der Forschungsmethoden einen Beitrag dazu leisten. Eine Möglichkeit bestünde in sehr gut parallelisierten Vergleichsstudien, in denen anhand einer repräsentativen Quotenstichprobe eine vergleichbare Gruppe von Personen mit und ohne Lernschwierigkeiten gebildet wird und für den Einfluss von konfundierenden Variablen wie dem sozio-ökonomischen Status, dem Geschlecht und der spezifischen Ätiologie der Lernschwierigkeit kontrolliert wird. Sowohl für Forschung und Praxis aufschlussreicher könnten jedoch experimentelle und quasi-experimentelle Forschungsdesigns sein. Abgesehen von Befragungsinstrumenten könnte beispielsweise die Belastung alltäglicher Erfahrungen für Personen mit Lernschwierigkeiten durch physiologische Messgrößen (z. B. Cortisolspiegel) bestimmt werden. Eine spezifische Vulnerabilität für Angststörungen könnte durch Muster verzerrter Aufmerksamkeit für angstauslösende Stimuli durch Eye-Tracking- Verfahren analysiert werden, auch wenn hier die Befundlage nicht eindeutig ist (Armstrong & Olatunji, 2012; Lisk, Vaswani, Linetzky, Bar- Haim & Lau, 2020). Erste Erkenntnisse zu dem Zusammenhang zwischen spezifischen Arbeitsgedächtnisbesonderheiten bei Personen mit Lernschwierigkeiten und der Vulnerabilität gegenüber psychischen Störungen könnten durch korrelative Designs erzielt werden. Interventionsstudien, die gezielt die Förderung solcher relativen Schwächen zum Ziel haben, könnten zudem darüber Auskunft geben, inwiefern ein möglicher Kausalzusammenhang zwischen diesen Funktionen und der Vulnerabilität für spezifische psychische Störungen besteht. Anmerkung 1 Als Personen mit Lernschwierigkeiten wird hier der Personenkreis bezeichnet, der im Allgemeinen als „geistig behindert“ gilt. Eine ausführliche Begründung dafür findet sich bei Kehl (2021). Literatur Armstrong, T. & Olatunji, B. O. (2012). Eye tracking of attention in the affective disorders: a metaanalytic review and synthesis. Clinical Psychology Review, 32 (8), 704 -723. https: / / doi.org/ 10. 1016/ j.cpr.2012.09.004 Bandelow, B. & Michaelis, S. (2015). Epidemiology of anxiety disorders in the 21 st century. Dialogues in Clinical Neuroscience, 17 (3), 327 -335. Baxter, A. J., Scott, K. M., Ferrari, A. J., Norman, R. E., Vos, T. & Whiteford, H. A. (2014). Challenging the myth of an “epidemic” of common mental disorders: trends in the global prevalence of anxiety and depression between 1990 and 2010. Depression and Anxiety, 31 (6), 506 -516. https: / / doi.org/ 10.1002/ da.22230 Belsky, J. & Pluess, M. (2009). Beyond diathesis stress: differential susceptibility to environmental influences. Psychological Bulletin, 135 (6), 885 -908. https: / / doi.org/ 10.1037/ a0017376 Bergmann, E. (2008). 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