eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte: Zur Schülerschaft an Sonderschulen für Lernende mit Körper- und Mehrfachbehinderungen (Förderbedarf körperlich-motorische Entwicklung, kmE) in der Deutschschweiz

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Melanie Willke
Susanne Schriber
Im Januar 2021 erfolgte die Datenerhebung, im Sommer dieses Jahres wurde das Projekt ausgewertet und abgeschlossen. Es ist ein Projekt des Institutes für Behinderung und Partizipation der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Das Projekt wurde durch Mittel der Schweizerischen Stiftung Cerebral mitfinanziert.
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VHN 2 | 2022 159 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Forschungsdesign und Methodik Das Projekt LABIRINT mit einer Laufzeit von vier Jahren ist im August 2021 gestartet. Anhand einer quantitativen Online-Befragung (kombiniert mit einer Telefonbefragung derjenigen jungen Erwachsenen, die den Online-Bogen nicht ausfüllen) der Schüler/ innen, welche bereits seit dem Projekt SECABS resp. CHARISMA an unserer Längsschnittstudie teilnehmen (siehe Abb. 1), werden mit bewährten Skalen Daten zur nachobligatorischen Laufbahn, zu Unterstützungsmaßnahmen sowie zum Selbstwert, zum Wohlbefinden und zur wahrgenommenen sozialen Integration erhoben. Aufgrund des Längsschnittcharakters der Studie können für die Beantwortung der Fragestellung relevante Variablen aus der Schulzeit herbeigezogen werden. Subjektive Einschätzungen sowie förderliche und hemmende Faktoren beim Übergang zur Sekundarstufe II aus Sicht der jungen Erwachsenen mit Maßnahmenvergangenheit werden anhand von Leitfadeninterviews erhoben und inhaltsanalytisch ausgewertet. Bedeutung des Projekts Da alle Kantone vor der Herausforderung stehen, längerfristig ein integratives Bildungssystem zu etablieren (UN-Behindertenrechtskonvention, 2006, Art. 24) und in der Volksschule zunehmend integrative Maßnahmen entwickelt und umgesetzt werden (Luder, 2018), sind unsere Forschungsergebnisse für die nationale Bildungsplanung und -steuerung von hoher Relevanz (vgl. Becker & Schoch, 2018). Sie bilden ab, wie sich Lernende mit integrativen Maßnahmen beim Übergang in die Berufsausbildung entwickeln, wie sie unterstützt werden und inwiefern integrative Maßnahmen auf der Sekundarstufe II zum Einsatz kommen. Anhand dieser Daten sollen der Berufsbildung ein detaillierter Einblick in die Situation von jungen Erwachsenen mit besonderem Bildungsbedarf während und unmittelbar nach dem Übertritt in die Sekundarstufe II geboten sowie Stärken und Herausforderungen des Berufsbildungssystems hinsichtlich der Begleitung und Unterstützung dieser jungen Erwachsenen aufgedeckt werden. Das Längsschnittdesign unserer Studie erlaubt es überdies, erstmals Aussagen über die Auswirkungen unterschiedlicher integrativer schulischer Maßnahmen auf die Bildungslaufbahn sowie auf soziale Integrationsprozesse von Betroffenen zu machen. Weitere Informationen sowie Literaturangaben: www.phbern.ch/ labirint caroline.sahli@phbern.ch DOI 10.2378/ vhn2022.art18d Zur Schülerschaft an Sonderschulen für Lernende mit Körper- und Mehrfachbehinderungen (Förderbedarf körperlich-motorische Entwicklung, kmE) in der Deutschschweiz Melanie Willke, Susanne Schriber Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Im Januar 2021 erfolgte die Datenerhebung, im Sommer dieses Jahres wurde das Projekt ausgewertet und abgeschlossen. Es ist ein Projekt des Institutes für Behinderung und Partizipation der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Das Projekt wurde durch Mittel der Schweizerischen Stiftung Cerebral mitfinanziert. Ausgangslage Lernende mit primärer Beeinträchtigung in der körperlich-motorischen Entwicklung finden sich in der deutschsprachigen Schweiz in der Integration und in unterschiedlichen separativen Schulformen. Der größte Anteil besucht Schulen mit dem Profil „Schule für Kinder mit Körper- und Mehrfachbehinderungen“, wie sie in der Schweiz mehrheitlich aufgeführt und nachfolgend als Schulen im Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung (kmE) bezeichnet werden. Erhebungen in Deutschland (Hansen, 2012; Hansen & Wunderer, 2010; Lelgemann & Fries, 2009) zeigen, dass sich die Zusammensetzung der Schülerschaft an Schulen mit dem Förderschwerpunkt kmE in den letzten Jahren deutlich verändert hat. Im Besonderen werden vermehrt Herausforderungen im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung sowie eine Zunahme von VHN 2 | 2022 160 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Lernenden mit komplexen und sehr umfassenden Förderbedürfnissen genannt. Für die Schweiz ließ sich eine ähnliche Veränderung aufgrund der Hinweise aus der Praxis vermuten, diese wurde jedoch bislang nicht empirisch untersucht und beschrieben. Forschungsvorhaben und Fragestellungen Im Forschungsprojekt wurde untersucht, wie sich die Schülerschaft an kmE-Schulen im deutschsprachigen Raum der Schweiz zusammensetzt, welche Beeinträchtigungen und Förderbedarfe die Lernenden haben und wie hoch die personellen Ressourcen der Institutionen im Bereich der Pädagogik und Therapie sind. Der Fokus lag dabei bewusst auf den separativen Schulformen im Förderschwerpunkt kmE, weil bis anhin, wie bereits erwähnt, dazu in der Schweiz keine Daten vorlagen. Aus der aktuellen Erhebung in den Tagessonderschulen lassen sich Hinweise auf die Schülerschaft ableiten, welche integrativ beschult wird. Erneute Erhebungen im Abstand von einigen Jahren an den kmE-Schulen ermöglichen im Sinne einer Längsschnittstudie auf der Grundlage der nun gewonnenen Daten künftig eine Veränderung der Schülerschaft evidenzbasiert zu beschreiben. Für die Ausbildungspraxis hat die Studie den Wert, dass sich aus den Ergebnissen zur Schülerschaft Professionskompetenzen ableiten lassen, über welche Schulische Heilpädagog/ innen im Berufsfeld kmE-Schulen verfügen müssen. Forschungsmethodisches Vorgehen Als Erhebungsinstrument wurden elektronische Fragebögen (LimeSurvey) eingesetzt. Ein Fragebogen richtete sich an die Schulleitungen mit institutionsübergreifenden Fragen zur Schule als System, unter anderem zur Anzahl der Lernenden und Klassen sowie zur personellen Besetzung, wie Mitarbeitende (Sonder-)Pädagogik und Therapie, und zur Frage der Anzahl Lernender, welche in der Integration begleitet werden. Antworten zu diesen Items dienten der deskriptiven Darstellung der 13 Schulprofile. Zum andern ging ein Fragebogen über den Verteiler der Schulleitungen an die Klassenlehrpersonen. In diesem wurden Daten zu den Lernenden erfasst, wie Behinderungsformen und weitere Beeinträchtigungen (primäre und sekundäre Beeinträchtigungen), Leistungsbeurteilungen, Therapien sowie Förderbedarf Sprache (u. a. Deutsch als Zweitsprache, Unterstützte Kommunikation), Grundkompetenzen in Schriftsprache und Mathematik, weitere Förderbedarfe (z. B. emotionalsoziale Entwicklung und Wahrnehmung) sowie schwere und mehrfache Beeinträchtigungen. Ausgefüllt wurde der Fragebogen von den jeweiligen Klassenlehrpersonen. Die Angaben zu den Lernenden entsprechen demnach den Einschätzungen ihrer Lehrpersonen. Mithilfe des Statistikprogramms SPSS wurden deskriptiv-statistische Maße berechnet, um die Schülerschaft beschreiben zu können und Rückschlüsse auf (sonder-)pädagogische Bedarfslagen zu erhalten. Ausgewählte Untersuchungsergebnisse Alle 13 Schulen mit dem Profil kmE in der Deutschschweiz beteiligten sich an der Untersuchung. Es konnten Daten zu 551 Lernenden gesammelt und ausgewertet werden. Nachfolgend werden einige ausgewählte Untersuchungsergebnisse zur Schülerschaft zusammengefasst. Eine ausführliche Darstellung zu den Ergebnissen und zum Projekt findet sich im Forschungsbericht, welcher auf der Forschungsprojektseite der HfH abgelegt ist. Als Gesamtergebnis ergibt sich eine sehr hohe Komplexität der Schülerschaft an den kmE-Schulen im Spektrum von - nebst mehrheitlich körperlich-motorischen Behinderungen - keinen Lernbeeinträchtigungen bis hin zu schweren mehrfachen Beeinträchtigungen. Motorische Beeinträchtigungen: Die Zerebralparese stellt mit einem Vorliegen bei nahezu der Hälfte aller Lernenden die häufigste Form der körperlich-motorischen Behinderungen dar. Es zeigt sich zugleich, dass jedes sechste Kind an kmE-Schulen keine Beeinträchtigung in der körperlich-motorischen Entwicklung hat. VHN 2 | 2022 161 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung: Bei rund zwei Dritteln aller Lernenden wird ein Bedarf im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung genannt. Zudem wird rund einem Fünftel aller Lernenden primär oder als Begleitbehinderung eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) attestiert. Schwere mehrfache Beeinträchtigungen: Rund ein Drittel aller Lernenden werden von den Lehrpersonen als schwer mehrfach beeinträchtigt bezeichnet. Entsprechend weist sich bei dieser Gruppe ein deutlich erhöhter Pflegebedarf aus. Kommunikation, Unterstützte Kommunikation, Assistive Technologien: Bei mehr als zwei Dritteln aller Lernenden liegt eine Beeinträchtigung im Entwicklungsbereich der Sprache und Kommunikation vor. Bei mehr als der Hälfte dieser Gruppe werden Maßnahmen der Unterstützten Kommunikation genannt. Zunehmend bedeutsam werden im Fachbereich auch assistive Technologien. Zusätzlicher Bedarf in verschiedenen Lebensbereichen: Drei Viertel aller Lernenden haben laut Lehrpersonen eine kognitive Beeinträchtigung, zwei Drittel aller Lernenden Wahrnehmungsbeeinträchtigungen unterschiedlichen Schweregrades. Nahezu die Hälfte aller Lernenden hat in unterschiedlichem Grad eine Sehbeeinträchtigung. Die Kompetenzen in den Kulturtechniken Mathematik und Sprache fallen höchst heterogen aus. Allein diese ausgewählten Ergebnisse zur Schülerschaft und deren Förderbedarfen belegen, wie vielfältig die Anforderungen an die Schulen und deren Fachpersonen sind. KmE-Schulen sind längst mehr als Schulen für Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen. Zum Schluss noch das Ergebnis zur Frage auf Systemebene, wie viele Lernende durch die kmE- Schulen in der Integration begleitet werden. Alle Sonderschulen unterstützen auch Integrationsmaßnahmen bzw. haben der Schule eine Fachstelle Integration angegliedert. Etwa ebenso viele Lernende wie an den Tagessonderschulen kmE werden durch diese Dienste in der Integration begleitet. Zum Tätigkeitsbereich im Förderschwerpunkt kmE kommen demnach Kompetenzen im Bereich der schulischen Integration hinzu. Die Qualität der Integration von Lernenden mit dem Förderbedarf kmE ist besonders zu beachten (Lelgemann, Lübbeke, Singer & Walter-Klose, 2012; Lelgemann, Singer, Walter-Klose & Fischer, 2015; Schriber & Schwere, 2012; Thiele, 2017). Weiterführende Studien drängen sich auch zu diesem Aspekt der Qualität von Integration auf. Zudem wäre interessant zu erfahren, welche Lernenden mit Förderschwerpunkt kmE in der Integration und welche in der Separation beschult werden. Weitere Informationen und Literaturangaben können bezogen werden bei Prof. Dr. Melanie Willke oder Prof. em. Dr. Susanne Schriber: melanie.willke@hfh.ch susanne.schriber@em.hfh.ch Der Forschungsbericht und eine Video- Kurzpräsentation können auf der HfH-Webseite eingesehen werden: https: / / www.hfh.ch/ projekt/ die-schuelerschaftan-sonderschulen-fuer-lernende-mit-koerperund-mehrfachbehinderungen-in-der DOI 10.2378/ vhn2022.art19d