eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Rezension: Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) (Hrsg.) (2021): Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf

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Barbara Fornefeld
Standards sind „Festlegungen für die Art und Weise, wie Prozesse gestaltet sein sollen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie beschreiben Anforderungen und Kompetenzen, Bedingungen und Wissensbestände und beruhen auf Modellen von Entwicklungszielen“, erläutert Iris Beck im Vorwort zum Grundlagenbuch der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft (S. 7). Im Rahmen der Umsetzung und Evaluation des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) erscheint es den dreizehn Autorinnen und Autoren notwendig, wissenschaftlich fundierte Standards zur Realisation der Teilhabe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf zu formulieren. Die Personengruppe ist heterogen und braucht „bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen anwaltschaftliche Unterstützung“ (S. 12). Diese ist insbesondere nötig, wenn es um die Ermöglichung von Selbstbestimmung, um Personen- und Sozialraumorientierung, wenn es um Teilhabe geht.
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VHN 2 | 2022 169 REZE NSION E N Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) (Hrsg.) (2021): Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf Stuttgart: Kohlhammer. 121 S., € 29,- Standards sind „Festlegungen für die Art und Weise, wie Prozesse gestaltet sein sollen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie beschreiben Anforderungen und Kompetenzen, Bedingungen und Wissensbestände und beruhen auf Modellen von Entwicklungszielen“, erläutert Iris Beck im Vorwort zum Grundlagenbuch der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft (S. 7). Im Rahmen der Umsetzung und Evaluation des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) erscheint es den dreizehn Autorinnen und Autoren notwendig, wissenschaftlich fundierte Standards zur Realisation der Teilhabe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf zu formulieren. Die Personengruppe ist heterogen und braucht „bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen anwaltschaftliche Unterstützung“ (S. 12). Diese ist insbesondere nötig, wenn es um die Ermöglichung von Selbstbestimmung, um Personen- und Sozialraumorientierung, wenn es um Teilhabe geht. Mit den vorliegenden Standards soll ein Beitrag zur Ausgestaltung, zur Konkretisierung und Umsetzung der Teilhabe in fachlicher, rechtlicher und sozialpolitischer Hinsicht geleistet werden (vgl. S. 14). Standards der Teilhabe geben Handlungsempfehlungen für Methoden, Prozesse und Strukturen einer zeitgemäßen Unterstützung auf der Grundlage eines erweiterten Assistenz-Begriffs. Sie richten sich sowohl an Leistungsträger, Leistungserbringer und an deren Mitarbeitende unterschiedlicher Professionen als auch an Angehörige, Selbstvertretungsgruppen, Fach- und Berufsverbände und an die Wissenschaft. Die hier formulierten Standards beziehen sich zunächst auf die folgenden fünf Handlungsfelder und wollen zur Entwicklung weiterer Standards anregen: Teilhabe und Assistenz: Die Assistenz der Teilhabe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ist eine anspruchsvolle und komplexe Tätigkeit, die die Unterstützung in der Regiekompetenz umfasst. Assistenz der Teilhabe zielt auf eine weitgehend selbstbestimmte Lebensführung im eigenen Wohn- und Sozialraum. Teilhabe und Pflege: Der komplexe Unterstützungsbedarf der Zielgruppe soll nicht primär im Pflegesystem verortet werden, weil hierdurch die Förderung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung im Sinne von Empowerment und Partizipation verhindert wird. Individuelle Teilhabeplanung und Teilhabemanagement: Mit dem BTHG wurde das Teilhabe- und Gesamtplanverfahren als verpflichtender Prozess zur Bedarfsermittlung und zur Bemessung von Leistungen eingeführt. Die im Buch aufgeführten Standards sollen helfen, „die Teilhabewünsche und Teilhabeziele von Menschen mit Behinderung, die sich nicht sprachlich oder quasi-sprachlich mitteilen können, zu ermitteln bzw. sie dabei unterstützen, solche zu entwickeln“ (S. 63). Zudem können hierdurch fördernde und hindernde Bedingungen für die Realisation der Teilhabeziele ausgemacht und Unterstützung partizipationsorientiert realisiert werden. Teilhabe und Sozialraum: „Der Blick auf den Sozialraum fokussiert soziale Zusammenhänge von und in Räumen. Sozialraumorientierung steht somit für eine Strategie professioneller Arbeit, die im Kontext von Inklusion unabdingbar ist“ (S. 77). Der Standard ‚Teilhabe und Sozialraum‘ zeigt Herausforderungen auf und konkretisiert die Mehrdimensionalität des Konzepts ‚Sozialraumorientierung‘ als integralen Bestandteil professioneller Arbeit. Teilhabe am Arbeitsleben: Mit dem Recht auf Arbeit ist das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben verbunden. Mit den Standards ‚Teilhabe am Arbeitsleben‘ werden Strukturen, Prozesse und Handlungsempfehlungen genannt, die der Zielgruppe die Teilhabe am Arbeitsleben ermöglichen (vgl. S. 99). Mit der „arbeitsbezogenen Teilhabe“ und der Möglichkeit lebenslanger Bildung wird ein erweitertes Verständnis von Arbeit vorgestellt (vgl. S. 102): „Teilhabe heißt nicht, alles zu können, was die anderen können, sondern am Leben teilzunehmen. Dies ist immer Möglichkeit und nicht Pflicht“ (S. 99). VHN 2 | 2022 170 REZE NSION E N Abschließend werden die Standards in das mehrdimensionale Konzept von Lebensqualität eingebettet, „das international als Schlüsselkonzept für personenzentrierte Planung, Gestaltung und Evaluation von Dienstleistungen gilt“ (S. 110). In diesem Buch ist Vieles bekannt - Vieles ist neu. In der Zusammenschau und in ihrer Relevanz sind die Standards der Teilhabe für die multidisziplinäre Arbeit unverzichtbar. Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Prof i. R. Dr Barbara Fornefeld D-50931 Köln DOI 10.2378/ vhn2022.art20d Luder, Reto; Kunz, André; Müller Bösch, Cornelia (Hrsg.) (2021): Inklusive Pädagogik und Didaktik Vollständig überarbeitete Neuauflage. Bern: hep Verlag. 392 S., CHF 43,- Das Buch „Inklusive Pädagogik und Didaktik“ wurde von den Herausgebern und der Herausgeberin als Studienbuch konzipiert und 2019 im hep- Verlag („der bildungsverlag“) veröffentlicht. Vorher erschien der Band von 2014 bis 2018 über die Publikationsstelle der Pädagogischen Hochschule Zürich. Daher sind alle Artikel vor dem Hintergrund einer sich in ständigem Wandel begriffenen inklusiven Pädagogik als etwas älter einzuordnen. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart eine interessante Lektüre, die (künftige) Lehrkräfte, Wissenschaftler/ innen und Diagnostiker/ innen gleichermaßen ansprechen dürfte und eine hohe Erwartungshaltung auslöst. Es wurde sich für eine Dreiteilung des Studienbuches entschieden. Die ersten vier Kapitel sind den Themen „Unterricht und Heterogenität“ gewidmet, bevor „Didaktische Möglichkeiten im Unterricht für alle“ dargestellt werden. Der dritte und letzte inhaltliche Teil beschäftigt sich in acht Abschnitten und 14 Kapiteln mit „Situationen im Unterricht und Handlungsmöglichkeiten für die Praxis“. Ein Glossar rundet die Publikation ab. Vom Vorwort an wird die Struktur der einzelnen Kapitel als Studienlektüre aufbereitet. Die wesentlichen Inhalte werden farbig hervorgehoben jedem Kapitel vorangestellt und die Inhalte der einzelnen Abschnitte als Stichworte am Rand vermerkt. So fällt es dem Leser bzw. der Leserin leichter, sich in den einzelnen Kapiteln zu orientieren und die zentralen Inhalte zu erfassen. Im Vorwort und im ersten Kapitel werden der Aufbau und die Intention des Buches beschrieben. Hier sind einige Informationen redundant. Im ersten Kapitel widmen sich Reto Luder, André Kunz und Cornelia Müller Bösch dem Besonderen der Pädagogik einer inklusiven Schule. Neben einschlägigen Begriffsbestimmungen (enger und weiter Inklusionsbegriff, UNESCO, Behindertenrechtskonvention) werden Aspekte der Heterogenität und der inklusiven Schule definiert und auch internationale Bezüge in den Blick genommen. Insbesondere die sonderpädagogische Professionalität ist in einer „Schule der Vielfalt“ von großer Bedeutung, um Unterricht und Förderung qualitativ bestmöglich für alle Kinder und Jugendlichen umzusetzen. Damit zeigen die Autoren die Notwendigkeit einer sonderpädagogischen Professionalisierung bzw. Spezialisierung auf, die in einen Vorschlag für eine Aufgabenverteilung aller in der inklusiven Schule beteiligten Unterrichtskräfte mündet. Im sich anschließenden Kapitel thematisieren Kai Felkendorff und Reto Luder den Behinderungsbegriff in seiner mehrdeutigen, gesellschaftlichen Dimension und begeben sich damit auf das „dünne Eis“ der verschiedenen Ebenen unserer Lebenswelt. Das Für und Wider der politischen vs. wissenschaftlichen vs. umgangssprachlichen Bedeutungen werden von verschiedenen Seiten betrachtet und führen exzellent zum Kern, nämlich dem Behinderungsbegriff, den es nur in der Schule gibt (sonderpädagogischer Förderbedarf), und zu der Frage, ob Sonderpädagogik damit zu schulischer Behinderung beiträgt. Besonders spannend und hochaktuell ist das Kapitel zur ICF-Klassifikation von Judith Hollenweger, in der die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ um die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen (CY) ergänzt und vor dem Hintergrund eines bio-psycho-sozialen Verständnisses komplex betrachtet wird. Der erste Abschnitt endet mit einem Kapitel von Reto Luder und André Kunz zur gemeinsamen