Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Fachbeitrag: Vulnerable Jugendliche in Zwangskontexten am Beispiel des Vollzugs der Jugendstrafe
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Jan Hoyer
„Vulnerabilität konstituiert sich wesentlich in ihrer Einbindung in bestimmte soziale Kontexte“ (Andresen, Koch & König, 2015, S. 11). Auch die institutionelle Ausformung des Vollzugs von Jugendstrafen stellt einen sozialen Kontext dar, der, obwohl hier eine erzieherische Zielsetzung gesetzlich verankert ist, strukturelle Verletzungsrisiken beinhaltet. Gleichzeitig kann die Zielgruppe des Vollzugs als Gruppe verstanden und beschrieben werden, die schon vor Haftantritt gesteigerten Vulnerabilitätserfahrungen ausgesetzt wird. Um diese Aussagen zu begründen, soll eingangs der Begriff der Vulnerabilität definiert werden. In einem zweiten Schritt soll die Definition auf die Untersuchungslage zur Zielgruppenbeschreibung freiheitsentziehender Maßnahmen angewendet werden. Anschließend sollen formale wie informelle Bedingungen des Vollzugs der Jugendstrafe unter dem Gesichtspunkt fortgesetzter Vulnerabilitätsrisiken herausgearbeitet werden. Unter Zuhilfenahme des Konzepts der „negativen Eskalation“ nach Hollenstein sollen institutionelle Verletzungsrisiken und Erkenntnisse über die Zielgruppe des Jugendstrafvollzugs in einen Zusammenhang gestellt werden. Abschließend soll ein kurzer Ausblick auf Professionalisierungsanforderungen für das komplexe und widersprüchliche pädagogische Handlungsfeld skizziert werden.
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200 VHN, 91. Jg., S. 200 -211 (2022) DOI 10.2378/ vhn2022.art26d © Ernst Reinhardt Verlag Vulnerable Jugendliche in Zwangskontexten am Beispiel des Vollzugs der Jugendstrafe Jan Hoyer Universität Bremen Zusammenfassung: „Vulnerabilität konstituiert sich wesentlich in ihrer Einbindung in bestimmte soziale Kontexte“ (Andresen, Koch & König, 2015, S. 11). Auch die institutionelle Ausformung des Vollzugs von Jugendstrafen stellt einen sozialen Kontext dar, der, obwohl hier eine erzieherische Zielsetzung gesetzlich verankert ist, strukturelle Verletzungsrisiken beinhaltet. Gleichzeitig kann die Zielgruppe des Vollzugs als Gruppe verstanden und beschrieben werden, die schon vor Haftantritt gesteigerten Vulnerabilitätserfahrungen ausgesetzt wird. Um diese Aussagen zu begründen, soll eingangs der Begriff der Vulnerabilität definiert werden. In einem zweiten Schritt soll die Definition auf die Untersuchungslage zur Zielgruppenbeschreibung freiheitsentziehender Maßnahmen angewendet werden. Anschließend sollen formale wie informelle Bedingungen des Vollzugs der Jugendstrafe unter dem Gesichtspunkt fortgesetzter Vulnerabilitätsrisiken herausgearbeitet werden. Unter Zuhilfenahme des Konzepts der „negativen Eskalation“ nach Hollenstein sollen institutionelle Verletzungsrisiken und Erkenntnisse über die Zielgruppe des Jugendstrafvollzugs in einen Zusammenhang gestellt werden. Abschließend soll ein kurzer Ausblick auf Professionalisierungsanforderungen für das komplexe und widersprüchliche pädagogische Handlungsfeld skizziert werden. Schlüsselbegriffe: Jugendstrafvollzug, Zwangskontext, Vulnerabilität, negative Eskalation Vulnerable Adolescents in Coercive Contexts Using the Example of the Execution of the Juvenile Sentence Summary: “Vulnerability is essentially constituted in its integration into certain social contexts” (Andresen, Koch & König, 2015, p. 11). The institutional form of the execution of juvenile sentences also represents a social context which contains structural risks of injury, although an educational objective is legally anchored here. At the same time, the target group of the correctional system can be understood and described as a group that is exposed to increased vulnerability experiences even before entering prison. In order to substantiate these statements, the concept of vulnerability will be defined at the outset. In a second step, the definition will be applied to the research situation on the description of the target group of custodial measures. Subsequently, formal and informal conditions of the execution of juvenile sentences will be elaborated from the point of view of continued vulnerability risks. With the help of Hollensteins concept of “negative escalation”, institutional risks of injury and findings about the target group of the juvenile prison system will be put into context. Finally, a brief outlook on professionalization requirements for the complex and contradictory field of pedagogical action will be sketched. Keywords: Juvenile detention center, coercive context, pathogenic vulnerability, negative dynamics < RUBRIK > < RUBRIK > FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Erziehungshilfe in Zwangskontexten VHN 3 | 2022 201 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG 1 Zum Begriff pathogener Vulnerabilität Der Begriff Vulnerabilität leitet sich von dem lateinischen Wort für „Wunde“ ab und wird im medizinischen wie auch im pädagogischen Sinne als „Verwundbarkeit“ verstanden. Andresen, Koch und König schlagen vor, „Verwundbarkeit als einen Ausgangspunkt wissenschaftlichen Denkens zu definieren“ (2015, S. 11). In diesem Sinne sollen eingangs Definitionen an- und zusammengeführt werden, um eine Arbeitsdefinition für den Begriff zu entwickeln. Diers beschreibt mit dem Fokus auf pädagogische Handlungsfelder: „Unter Vulnerabilität wird die Anfälligkeit eines Individuums für die Ausbildung von psychischen Störungen verstanden, die sich durch frühe Belastungen entwickelt“ (Diers, 2016, S. 32). In diesem Zitat wird ein Kausalzusammenhang von frühen Belastungen und erhöhter Anfälligkeit für psychische Störungen formuliert. Auch wenn bei Diers dieser Zusammenhang ausdifferenziert und erheblich mit Komplexität versehen wird, zeigt sich der Gedanke der linearen Kausalität von Ursache und Wirkung zur Bestimmung einer vulnerablen Gruppe sowie einer Gruppe, die aufgrund keiner vorangegangenen Belastung auch nicht als vulnerabel bezeichnet werden könnte. Das Unterscheidungskriterium „frühe Belastung“ kommt zur Anwendung und erlaubt ein begriffliches Trennungsprinzip bzw. die Markierung zweier Gruppen, von denen sich eine als vulnerabel und die andere als nicht-vulnerabel bezeichnen ließe. Weiß greift dieses Unterscheidungsprinzip auf: „Eine dichotome Aufteilung in vulnerabel und nichtvulnerabel wird diesem differenzierten Sachverhalt nicht gerecht“ (Weiß, 2020, S. 321). Weiß erklärt, dass alle Menschen als vulnerabel zu verstehen sind. Er verweist darauf, dass Vulnerabilität einerseits ein Spektrum vorstellbarer Verwundungen für alle Menschen bezeichnet und andererseits gleichzeitig als binäre Unterscheidungsreferenz verwendet wird, um mögliche vulnerable Gruppen, im Sinne Dirks, bestimmbar und benennbar zu machen. Vulnerabilität als Spektrum drückt aus, dass jeder Mensch vulnerabel ist, aber nur möglicherweise Verletzungen ausgesetzt wird. Vulnerabilität als Unterscheidungsreferenz hingegen ermöglicht das Bestimmen von Gruppen mit besonderer oder erhöhter Vulnerabilität. In diesem Beitrag wird der Fokus auf eine vulnerable Gruppe gelegt und eine Unterscheidungsreferenz verwendet, um diese Gruppe zu beschreiben. Um das Unterscheidungsprinzip zu verdeutlichen, soll der Begriff der Vulnerabilität weiter ausdifferenziert werden. Hierfür bietet sich das Modell von Rogers, Mackenzie und Dodds an, welches eine komplexe Denkweise erlaubt, indem das Kausalprinzip ähnlich wie bei Dirks beibehalten, aber im Vergleich zu monokausalen Zusammenhängen erweitert wird. Hierzu werden die „sources“ also die Quellen oder Ursprünge möglicher Verletzungen begrifflich voneinander getrennt: „Vulnerability arises from many sources: biological, social, political, environmental and cultural“ (Rogers, Mackenzie & Dodds, 2012, S. 12). Die Erweiterung des Faktorenmodells um die Dimensionen des Sozialen, des Politischen und des Kulturellen erschwert einerseits die Identifikation und Beforschung einzelner Faktoren, eröffnet aber gleichzeitig Möglichkeiten zur komplexeren Betrachtung von Entstehungszusammenhängen und schützt sowohl vulnerable Gruppen und Forschende vor Reduktionismus und Monokausalität. Rogers, Mackenzie und Dodds unterscheiden entlang ihrer Ausdifferenzierung möglicher Ursachen drei Formen der Vulnerabilität voneinander: „We conclude this section by proposing a brief taxonomy of three different, but overlapping, kinds of vulnerability: inherent, situational and pathogenic“ (ebd., S. 14). VHN 3 | 2022 202 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG Während die inhärente Vulnerabilität eher einem medizinisch-physiologischen Vulnerabilitätsbegriff entspicht, verweist die situative Vulnerabilität auf kontextspezifische, politisch und ökonomisch provozierte Verletzungen von Personen oder Gruppen (beispielsweise durch relative Armut oder strukturellen Rassismus). Als dritte Form wird die pathogene Vulnerabilität genannt: „Pathogenic vulnerability maybe generated by morally dysfunctional interpersonal and social relationships, characterized by disrespect, prejudice, or abuse, or by sociopolitical situations characterized by oppression, domination, repression, injustice, persecution, or violence“ (ebd.). Auch wenn hier Überschneidungen zur situativen Vulnerabilität erkennbar sind, wird deutlich, dass die pathogene Vulnerabilität eine Folge direkter zwischenmenschlicher sozialer Beziehungen, also einer direkten destruktiven interpersonalen Interaktion ist. Heinrichs beschreibt dies in folgender Weise und verweist gleichzeitig auf eine missverständliche Verwendung des Wortes „pathogen“ in diesem Zusammenhang: „Pathogen vulnerabel zu sein ist nicht, wie der Name vermuten lassen könnte, eine durch Krankheit bedingte Form der inhärenten Verletzlichkeit, sondern eine durch dysfunktionale zwischenmenschliche und soziale Beziehungen verursachte Verletzlichkeit und steht damit eher in Kontinuität mit der situativen Vulnerabilität“ (Heinrichs, 2019, S. 60). Die gesteigerte Verletzbarkeit pathogen vulnerabler Menschen geht (erstens) aus vorangegangenen Belastungen hervor, für die (zweitens) direkte Sozialbeziehungen das Medium für den Transport dieser Belastungen darstellten. Das Medium der Sozialbeziehungen ist in der Lage, unterschiedliche Interaktionsqualitäten zu transportieren. Als Ursache pathogener Vulnerabilität hat das Medium aber Verletzungen transportiert. Pathogene Vulnerabilität wird folglich mit Entwicklungsbeeinträchtigungen assoziiert, wenn „Vulnerabilitäten in der biopsychischen Struktur eines Individuums die adaptive Anpassung verhindern und zu einem Zusammenbruch der Bewältigungsmodi führen“ (Diers, 2016, S. 31). In diesem Sinne weist das Konzept der pathogenen Vulnerabilität Parallelen zum Konzept der Bindungs- und Beziehungstraumatisierung auf. Auch bei Bindungs- und Beziehungstraumata stellen direkte Sozialbeziehungen das Trägermedium der Verletzungen dar. Beispielhaft hierfür ist die Vernachlässigung auf emotionaler Ebene, die anhaltende Abweisung sowie Abwertung, die Isolation, wiederholtes Erleben von Trennung und Gewalt, Alleinsein und fehlende Geborgenheit (vgl. Wöller, 2013). Für als pathogen vulnerabel oder beziehungstraumatisiert bezeichnete Kinder und Jugendliche gilt, dass das Trägermedium der vorangegangenen Verletzung eine Sozialbeziehung (und beispielsweise keine genetische Disposition oder Naturkatastrophe) war. Gerade Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen im familiären Kontext finden „in Beziehungen statt, d. h. Traumata sind Ausdruck und Teil der Beziehung selbst“ (Herz, 2014, S. 206). Aus diesem Grund wird das Medium der Sozialbeziehung von pathogen vulnerablen Kindern und Jugendlichen als unzureichend, instabil oder gar gefährlich in inneren Arbeitsmodellen oder Objektrepräsentanzen abgebildet bzw. in der individuellen psychischen Struktur organisiert oder habitualisiert (vgl. Ehlert-Balzer, 2014). Es resultiert eine Zielgruppe, deren Erfahrungswelt durch dysfunktionale familiäre Interaktionsmodi, Gewalt, Trennungen und Verluste (vgl. Herz & Zimmermann, 2015, S. 150) gekennzeichnet ist, „deren zentrales Erleben die völlige Entwurzelung darstellt“ (Baumann, 2016, S. 177) und deren „Vertrauen in sich selbst und andere Personen vollkommen zerstört ist“ (Dlugosch, 2013, S. 299). Sozialbeziehungen können aus Sicht der Betroffenen weder uneingeschränkten Schutz bieten noch unbeschwert entworfen, beibehalten und genutzt werden. VHN 3 | 2022 203 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG Gegenwärtige Sozialisationsbedingungen stellen hohe Anforderungen an Selbstmanagement, Lebensgestaltung und Selbstregulation, und Sozialbeziehungen müssen zur Bewältigung dieser Anforderungen problemlos und funktional verwendet werden. Es ergeben sich Handlungszwänge, „an denen die vulnerable Gruppe der Heranwachsenden (…) innerhalb der von der Mehrheitsgesellschaft gesetzten Normen tendenziell scheitern muss“ (Herz & Hoyer, 2021, S. 282). Das gezeigte Verhalten dieser Zielgruppe „irritiert oft die soziale Umgebung, sei es der familiale, der schulische, der peer-group- und freizeitbezogene oder der arbeitsweltliche Kontext, und stellt gerade bei externalisierenden, andere massiv beeinträchtigenden Verhaltensweisen eine Belastung der eigenen Entwicklung sowie der sozialen Umgebung dar“ (Bleher & Gingelmaier, 2019, S. 95). Es erhöht sich für die Gruppe vulnerabler Kinder und Jugendlicher das „Risiko, mit und in ihrem emotionalen Erleben und sozialen Handeln zumindest zeitweise ausgegrenzt zu werden, auf Unverständnis und Ablehnung zu stoßen, in ihren Lernmöglichkeiten eingegrenzt und ggf. auch sanktioniert oder sogar strafrechtlich verfolgt zu werden“ (Walkenhorst, 2019, S. 107). Die pathogene Vulnerabilität kann durch Unverständnis in sozialen Umgebungen oder disziplinierende Ansätze folglich auch zu fortgesetzten Verletzungen und Ausschlusserfahrungen führen. Pathogene Vulnerabilität muss somit nicht nur als binäre Unterscheidungsreferenz bzw. Gruppenmerkmal verstanden werden, sondern auch als eine psychische und soziale Desintegrationsdynamik mit Bedeutung für aktuelle und optional zukünftige Beziehungs- und Interaktionsstrukturen. Zusammenfassend lassen sich folgende Aussagen festhalten: Vulnerabilität ist eine Eigenschaft aller Menschen, die der Möglichkeit einer Verletzung ausgesetzt sein können. Gleichzeitig wird der Begriff zur Bestimmung und Bezeichnung von Personen und Gruppen verwendet, die aufgrund vorerfahrener Belastungen gesteigerte Verletzbarkeit zeigen. Die Gruppe pathogen vulnerabler Kinder und Jugendlicher erlebt soziale Beziehungen als unzureichend oder gefährlich, da Sozialbeziehungen das Medium vorangegangener Verletzungen und Belastungen darstellen. Die Herstellung und Aufrechterhaltung von Sozialbeziehungen fallen ihnen deshalb schwer. Ihr Verhalten in sozialen Beziehungen kann deswegen irritieren und soziale und institutionelle Exklusionsdynamiken oder Disziplinierungsmaßnahmen provozieren. Im folgenden Kapitel soll deshalb der Fokus auf eine Form von Disziplinierungsmaßnahmen gelegt werden. 2 Vulnerabilitätsrisiken in Zwangskontexten am Beispiel des Vollzugs der Jugendstrafe In diesem Kapitel soll erläutert werden, dass in der Zielgruppe des Vollzugs der Jugendstrafe ein überhöhter Anteil pathogen vulnerabler Jugendlicher angenommen werden kann. Hierzu werden eingangs Untersuchungen zur Zielgruppenbeschreibung angeführt. Weiterhin werden spezifische Vulnerabilitätsrisiken der Lebensphase der Adoleszenz sowie der institutionelle Übergang bei Haftantritt dargestellt. 2.1 Pathogen vulnerable Jugendliche als Zielgruppe freiheitsentziehender Maßnahmen Es ist nicht überraschend, dass „vulnerable Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Entwicklungsbeeinträchtigungen in ihrer physischen und psychischen Gesundheit (…) zumeist Adressat*innen unterschiedlicher staatlicher Unterstützungssysteme“ werden (Herz & Hoyer, 2021, S. 276). Sie sind aber nicht nur Adressat/ innen von Unterstützungssystemen, sondern auch Zielgruppe von Institutionen des VHN 3 | 2022 204 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG Vollzugs freiheitsentziehender Maßnahmen. Hier zeigt sich eine Überpopulation von Jugendlichen, die als pathogen vulnerabel bezeichnet werden können. So fasst Ohder im Resümee der umfassenden Aktenanalyse intensiv delinquenter Jugendlicher zusammen, welche Faktoren sich bei der Zielgruppe häufen. Er stellt fest, dass unsichere Einkommenssituationen der Eltern, negative Auffälligkeiten in der schulischen Karriere, fehlende berufliche Qualifikationen, wenig Einbindung in konventionelle Gruppen, das Wohnen in benachteiligten Wohngegenden mit auffallend schwacher Sozialstruktur sowie körperliche und psychische Erkrankungen überdurchschnittlich häufig in der Gruppe jugendlicher Intensivtäter festzustellen sind (vgl. Ohder, 2009). Auch Bereswill stellt hoch diskontinuierliche Lebensläufe bei befragten Jugendlichen fest, die erstmalig eine Jugendstrafe antreten. Sie gibt an, dass „Abhängigkeit, Bindungslosigkeit und eine hohe Eingriffsintensität von Institutionen“ (Bereswill, 2011, S. 552) die Biografie der erstmalig inhaftierten Jugendlichen prägen. „Von 2.037 befragten männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden haben 45,5 % der jungen Männer mindestens einen Heimaufenthalt erlebt, innerhalb dieser Gruppe waren 45 % in mehr als einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht. 51,9 % haben ihre Schulbildung vorzeitig abgebrochen und 44,2 % vor der Inhaftierung keine berufliche Bildung aufgenommen“ (ebd., S. 548). Entlang dieser quantitativen Ergebnisse kommt Bereswill zur Aussage, dass die Gruppe inhaftierter Jugendlicher und Heranwachsender im Zusammenhang „mit biographischen Erfahrungen von vorangegangener Institutionalisierung, Sanktionierung, sozialem Ausschluss und schmerzhaften Brüchen im Kontext familiärer Bindungskonstellationen steht“ (ebd.), also als vulnerabel im eingangs erläuterten Sinne bezeichnet werden kann. Auch bei der Befragung professioneller Akteur/ innen im Zuständigkeitsbereich für intensive Jugenddelinquenz zeigt sich, dass Mitglieder von Jugendgerichten, Polizei und der Jugendhilfe im Strafverfahren ihre Zielgruppe als vulnerabel beschreiben. Vor allem im Untersuchungsfeld der Jugendhilfe wird von Brüchen oder Verletzungen der psychischen Struktur intensiv delinquenter Jugendlicher gesprochen. Ihren Angaben zufolge inkorporieren Jugendliche ihre biografischen Erlebnisse, und diese kumulieren zu einer verletzten oder fragilen psychischen Struktur. Es wird von Wunden gesprochen oder von einer Last, die intensiv delinquente Jugendliche haben oder tragen (vgl. Hoyer, 2021). Eine theoriebezogene Darstellung des Zusammenhangs von Vulnerabilität und Gewaltstraftaten findet sich bei Lohner (2019). Diese Darstellung eignet sich als psychodynamische Interpretationsschablone zur Konzeptualisierung hier angeführter quantitativer und qualitativer Studien. Lohner erläutert eindrucksvoll, wie die Erfahrung von schwerer Vernachlässigung, physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt durch Beziehungspersonen zu einer Spaltung der Persönlichkeit von Jugendlichen führen kann, die das Begehen von Straftaten begünstigt. Dem Bedürfnis des/ r Jugendlichen nach „Anlehnung, Wahrgenommen- und Beschütztwerden stehen aggressive und entgrenzte Verhaltensweisen gegenüber“ (Lohner, 2019, S. 377). Einerseits distanzieren pathogen vulnerable Jugendliche durch aggressives Verhalten Mitmenschen, um das Medium der Sozialbeziehung abzuwehren; andererseits bleibt genau dadurch das Bedürfnis nach Nähe und Schutz unbeantwortet. Diesen ambivalenten Umgang pathogen vulnerabler Jugendlicher mit Bedürfnissen nach Nähe und Distanz führt Lohner auf gespaltene Objektrepräsentanzen in „gute und böse Objekte“ (ebenda) zurück. Diese Objektrepräsentanzen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen distanzieren Jugendliche von Möglichkeiten konsistenter Interdependenzerfahrungen bzw. vom Erleben tragfähiger Beziehungen und signalisieren der Umwelt eine Pseudoautonomie und potenzielle Gefährlichkeit. VHN 3 | 2022 205 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG Die wahrgenommene Pseudoautonomie und das aggressive Ausagieren innerer Konflikte erhöht das Risiko der Exklusion aus familiären und institutionellen Zusammenhängen. Die erziehungsfeldspezifische Antinomie von Nähe und Distanz verschärft sich und droht pathogen vulnerable Jugendliche wie auch professionell Erziehende konstant zu überfordern. „Das familiäre bzw. psychische Muster reproduziert sich selbstähnlich im institutionellen Erziehungsfeld und in Form einer Fortführung sozialer Desintegration“ (Hoyer, 2021, S. 122). 2.2 Das adoleszenzspezifische Verletzungsrisiko Neben einer möglichen individuellen pathogenen Vulnerabilität sind für die Zielgruppe inhaftierter Jugendlicher zwei weitere strukturbedingte Aspekte bedeutsam. Der erste strukturbedingte Aspekt liegt nicht in der Institutionalisierung freiheitsentziehender Maßnahmen, sondern in der Altersstruktur der Zielegruppe begründet. Es handelt sich hierbei um die „besonders vulnerable Phase der Adoleszenz“ (Kaplan & Roos, 2021, S. 8). Nach Günther mischen sich in dieser Phase „Gefühle von Freude und Stolz mit Verunsicherung“ (Günther, 2020, S. 90). Aus der Ungleichzeitigkeit der körperlichen und seelischen Entwicklung resultieren zahlreiche Beschämungen und Missverständnisse in Bezug auf die Einschätzung der eigenen Entwicklung (vgl. ebd.). Weiterhin stellt die „Transformation der Bindungsbeziehungen“ (Bohleber, 2011, S. 68) erhöhte Ansprüche an Adoleszente und ihre Umgebungssysteme. Die Loslösung von und die Zurückweisung der fürsorglichen advokatischen Interessenvertretung durch Erwachsene und die damit verbundene Ablehnung elterlicher und gesellschaftlicher Definitionsmacht bilden Elemente dieser Transformationsdynamik (Anhorn, 2011). Folglich manifestieren sich strukturelle Autonomiekonflikte, die der Lebensphase eingeschrieben sind (vgl. Hurrelmann & Quenzel, 2016). Sowohl in familiären wie auch in institutionalisierten Erziehungskontexten erhöht sich das Konfliktrisiko für alle adoleszenten Jugendlichen. Für pathogen vulnerable Jugendliche verschärft sich die Risikosituation in der Adoleszenz in besonderer Weise. Gerade pathogen vulnerable Jugendliche, die Sozialbeziehungen als Medium von Verletzungen erleben, stellt dies vor besondere Herausforderungen. 2.3 Die Vulnerabilität des institutionellen Übergangs Der zweite strukturbedingte Aspekt wird hier als Vulnerabilität des institutionellen Übergangs bezeichnet: „Die Klientel im Jugendstrafvollzug wiederum zeigt nicht selten herausforderndes, teils bedrohliches Verhalten und ist geprägt von Schwierigkeiten, im Innen wie Außen haltende Beziehungen einzugehen. Und bei allen Herausforderungen auf der Ebene provozierenden Verhaltens ist die Phase der Inhaftierung ein Lebensabschnitt von höchster individueller Vulnerabilität, von riskanter (psychischer und teils auch physischer) Schutzlosigkeit und unzureichender Selbstwirksamkeit“ (Fickler-Stang, 2020, S. 260). Aus dem Übergang bzw. der Verlagerung des Lebensmittelpunktes in eine Institution mit totalem Charakter resultiert ein Prozess, der in klassischen Strafvollzugstheorien „Prisonisierung“ genannt wird. Dieser Prozess beschreibt die psychische Reaktion auf den Verlust von Autonomie und Beziehung als Folge der Eingliederung in die rigide Verwaltungseinheit. Der Verlust von Autonomie ist obligater Bestandteil freiheitsentziehender Maßnahmen und der Verlust von förderlichen wie auch toxischen Beziehungen obligater Bestandteil des Übergangs in diese. Die resultierende Verletzung bei der Inhaftierung wird hierbei in Kauf genommen oder gar intendiert: VHN 3 | 2022 206 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG „Wer bestraft wird, der soll Schmerz erleiden. Würde er die Strafe mehr oder weniger genießen, so würde die Methode geändert. Es ist die volle Absicht der Strafinstitutionen, dass ihrer Klientel etwas verabreicht wird, das sie unglücklich macht, etwas das weh tut“ (Christie, 1986, S. 24). Christie, als Klassiker soziologischer Kriminologie verweist hier auf einen wichtigen Aspekt freiheitsentziehender Maßnahmen. Auch ohne die Position des Abolitionismus Christies teilen zu müssen, lässt sich nicht bestreiten, dass die Institutionalisierung von Strafe in Form freiheitsentziehender Maßnahmen zumindest eine Akzeptanz der Prisonisierung und Verletzung ihrer Zielgruppe beinhaltet. Die Einfachheit dieses Zusammenhangs führt dazu, dass „Sanktionierung bzw. Bestrafung im Sinne einer Übelzuführung ein scheinbar bewährtes Instrument“ (Bliesener, 2015, S. 92) darstellt und fest in allen bekannten staatlich organisierten Sanktionspraktiken etabliert wird. Ziel hierbei bleibt es, einer als straffällig identifizierten Person „eine Sanktion oder Strafe aufzuerlegen, was einen Einschnitt in die Integrität der Person bedeutet“ (Dörr, 2022, S. 10). An dieser Stelle kann weder der Sinn, der Erfolg oder der Misserfolg dieser etablierten Form diskutiert werden, da auch der Schutz der Allgemeinheit, die Stellung der Haft im generalpräventiven Ansatz, der Opferschutz, aber auch Genugtuungsphantasien, Kriminalitätsfurcht und symbolische Kriminalpolitik sowie Rückfallzahlen mit dem Fokus auf spezialpräventive Effekte ausführlich dargestellt werden müssten. Unter dem Fokus dieses Beitrags muss aber klar benannt werden, dass mögliche Verletzungen Jugendlicher und Heranwachsender durch den institutionellen Übergang als festes Element in der komplexen Gesamtstruktur freiheitsentziehender Maßnahmen gebilligt werden. Es wird zumindest das Risiko akzeptiert, dass pathogen vulnerable Jugendliche die gesellschaftliche Bereitschaft der Übelzuführung sowie den Übergang in die Haft als Fortführung einer Verletzungs- und Exklusionsdynamik erleben könnten. Denn: „Diese Heranwachsenden betreten die ‚Bühnen‘ des Jugendstrafvollzugs ja bereits mit einem Potential destruktiver Dynamiken, die aus schwerem Ohnmachts-, Hilflosigkeits- und Angsterleben resultieren“ (Herz, 2021, S. 173). 2.4 Das Verletzungsrisiko durch informelle Sozialstrukturen in Zwangskontexten Neben der strukturbedingten Vulnerabilität des institutionellen Übergangs und dem adoleszenzspezifischen Verletzungsrisiko bestehen bei einer Inhaftierung weitere Risiken der Verletzung. Diese Risiken resultieren aus der typischen Sozialstruktur innerhalb freiheitsentziehender Institutionen. Um die informelle Sozialstruktur in totalen Institutionen zu beschreiben, kann der klassische Begriff der „Insassensubkultur“ verwendet werden. Nach Sykes ist die Ausbildung der Insassensubkultur die Folge der kollektiven Bewältigung der „Pains of imprisonment“ (Sykes, 1958, S. 285). Sie stellt die emergente Form des Sozialen dar, die aus individuellen Lösungsversuchen der Deprivation der Inhaftierung resultiert (vgl. Hoyer & Lohrengel, 2013). Die Insassensubkultur weist bestimmte Aspekte auf, die sie in ihrer Qualität und subkulturellen Ausformung beschreibbar macht: „das Verbot des ‚Verzinkens‘ (d. h. Bediensteten das unerlaubte Verhalten eines Gefangenen zu melden), den Appell an eine Solidarität unter Gefangenen, die Akzeptanz von ‚Hackordnungen‘, die Hinnahme eines schattenwirtschaftlichen Systems, in dem Waren und Dienstleistungen ausgetauscht werden, die Übernahme von Sprachmustern sowie bestimmte Einstellungen zu Männlichkeit und Gewalt“ (Neubacher & Boxberg, 2018, S. 195). VHN 3 | 2022 207 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG Es wird deutlich, dass die Insassensubkultur durch ihre informellen, aber stringenten Regeln eine klare Differenz zur formalen Regelung der totalen Institution produziert. Es entsteht eine stabile Trennung von formaler Institutionsstruktur und informeller Sozialstruktur inhaftierter Jugendlicher, die unterschiedliche Verhaltenserwartungen an Teilnehmende richtet. Neubacher benennt an anderer Stelle, neben den subkulturspezifischen Männlichkeitsvorstellungen, die Gewaltakzeptanz als Teilaspekt der Insassensubkultur (2021, S. 168). Als ein Ergebnis der Studie „Gewalt und Suizid unter weiblichen und männlichen Jugendstrafgefangenen“ zeigt sich nicht nur, dass Gewalt eine erhebliche Rolle im Alltag inhaftierter Jugendlicher darstellt, sondern auch, dass die Gewalttätigkeit mit Dauer der Inhaftierung zuzunehmen scheint (ebd.). Bäumler fasst die Ergebnisse dieser Untersuchung folgendermaßen zusammen: „Es sind also viele Gefangene selten betroffen, was wiederum zu einem Umfeld der Gewalt führt, das jedoch auch auf nicht persönlich betroffene Inhaftierte Einfluss nimmt. So fühlt sich etwa jeder zweite Jugendstrafgefangene nicht sicher“ (Bäumler, 2021, S. 94). Es wird folglich ein Verletzungsrisiko innerhalb der gewaltförmigen Insassensubkultur von den Befragten wahrgenommen, und gleichzeitig finden sich innerhalb der Insassensubkultur Mechanismen zur Verdeckung der Gewalt vor Bediensteten bzw. der offiziellen „Disziplinarmacht“ (Foucault, 1995, S. 221). Die klare Abgrenzung der Insassensubkultur von der formalen Institutionsstruktur bietet für Jugendliche das Erlebnis von Autonomie gegenüber der Disziplinarmacht. Der Preis für diese Autonomieerfahrung gegenüber der totalen Institution ist der Verlust des institutionellen Schutzes der körperlichen und seelischen Unversehrtheit und das Risiko, dass Sozialbeziehungen erneut das Medium für Verletzungen bilden können. 3 Negative Eskalation fortgeführter Verletzungen Neben dem adoleszenzspezifischen Verletzungsrisiko und der Vulnerabilität des institutionellen Übergangs erhöht sich für die Jugendlichen das Verletzungsrisiko erneut durch die Teilnahme an der gewaltförmigen Insassensubkultur. Diese drei Elemente wirken verstärkend aufeinander ein und können mit dem Modell der negativen Eskalation in einen Zusammenhang gebracht werden: „Bei der negativen Eskalation handelt es sich um eine kreiskausale Dynamik im Zusammenspiel von bio-psychischen und sozialen Prozessen, die entsteht, wenn die Spannung parallel in mehreren sozialen Systemen des Lebensführungssystems ansteigt und auf der individuellen-psychischen Ebene der involvierten Akteure/ -innen Bewältigungsmuster (re-)aktiviert, die ihrerseits die Probleme in den sozialen Systemen verstärken“ (Hollenstein, 2020, S. 165). Das Konzept der „negativen Eskalation“ eignet sich, um die hier erwähnten Sachverhalte zusammenzufassen und deren verstärkende Relationen einzelner Aspekte aufeinander zu beschreiben. Die Inhaftierung erhöht die Spannung im Lebensführungssystem. Auf individueller Ebene werden Bewältigungsmuster (re-)aktiviert, um der Deprivation aktiv zu begegnen. Die Aktivitäten Inhaftierter richten sich am eingeschränkten institutionellen Spielraum bzw. der Insassensubkultur aus. Es entsteht eine negativ eskalierende kreiskausale Dynamik, die sowohl die Insassensubkultur und deren Verletzungsrisiko sowie die Reglementierung durch die totale Institution aufrechterhält. Letzteres kann im Modell Hollensteins als Verstärkung der Probleme im sozialen System verstanden werden, was im Sinne der kreiskausalen Form reziprok auf die Individuen rückwirkt. Für pathogen vulnerable Jugendliche bedeutet dies, dass sie VHN 3 | 2022 208 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG nicht nur in der Strafanstalt, sondern auch in dieser kreiskausalen Dynamik gefangen sind. Auf Deprivation reagieren sie mit der Reaktivierung ihrer Bewältigungsmuster, die subkulturell kanalisiert werden und dadurch die gewaltförmige Sozialstruktur ebenfalls aufrechterhalten können. Das psychische und physische Verletzungsrisiko steigt und bildet sich in stabilen informellen Kommunikations- und formalen Organisationsmustern ab. Totale Institution und Insassensubkultur stellen zwei Zwangskontexte mit teilweise widersprüchlichen Handlungserwartungen dar. Das Abweichen von diesen Erwartungen ist wieder mit dem Risiko fortgesetzter Verletzung, Sanktion und Ausschluss verbunden. Es realisiert sich für inhaftierte Jugendliche „eine kreiskausale Dynamik im Zusammenspiel von bio-psychischen und sozialen Prozessen“ (Hollenstein, 2020, S. 165), die hier als negative Eskalation fortgeführter Verletzungen freiheitsentziehender Maßnahmen bezeichnet wird. 4 Das paradoxe Handlungsfeld Professioneller in Zwangskontexten Cornel spricht vom „Doppelauftrag von Hilfe und Kontrolle“ (2021, S. 53), der im Vollzug der Jugendstrafe umgesetzt werden soll. Hieraus resultieren widersprüchliche Erwartungen an Inhaftierte. Lohner beschreibt, wie diese widersprüchlichen Erwartungen der psychischen Struktur pathogen vulnerabler Jugendlicher entgegenkommen. Nach Lohner stellen der Doppelauftrag sowie die doppelte Sozialstruktur ideale Projektionsflächen zur Übertragung gespaltener Objektrepräsentanzen Inhaftierter dar (vgl. Lohner, 2019). Hieraus resultiert weiterhin die Gefahr, dass professionelle Teams diese Spaltung in Übertragungsdynamiken annehmen und den Doppelauftrag zugunsten eines Anteils des Doppelauftrags auflösen. So werden Jugendliche von ihnen gleichzeitig als zahm und verletzlich und als brutal und verletzend wahrgenommen. Das kann „innerhalb ein und derselben behandelnden Person, im Sinne von starker Ambivalenz, der Fall sein oder auch zwischen Teammitgliedern, durch die dann ein Riss in Bezug auf den Klienten geht (Spaltung: einige wollen ‚bestrafen‘ und ‚rauswerfen‘ andere ‚beschützen‘, ‚retten‘, ‚heilen‘)“ (ebd., S. 377). So kann es die Folge sein, dass gespaltene Teams pathogen vulnerablen Jugendlichen signalisieren, dass die Wirklichkeit in versorgend und schützend sowie strafend und exkludierend gespalten sei. Bei Professionellen sollte ein Bewusstsein über Paradoxien und Dilemmata im eigenen Handlungsfeld bestehen. Die widersprüchlichen Handlungsparadigmen lassen sich gleichzeitig durch Vulnerabilitäten, aber auch durch Gefährdungspotenziale der Zielgruppe legitimieren. In der Befragung von Jugendrichter/ innen, Jugendkontaktbeamt/ innen und Sozialarbeiter/ innen mit dem Projekttitel „Implizite Konzepte feldspezifischer Expert*innen zur intensiven Jugenddelinquenz“ zeigt sich, dass das gesamte Handlungsfeld von Antinomien durchzogen bleibt (Hoyer, 2021). Neben der Antinomie, die sich aus der interpersonalen Verbindung von Vulnerabilität und Gefährdungspotenzial dieser Jugendlichen ergibt, liegt dem Phänomen der Jugenddelinquenz noch eine weitere Antinomie zugrunde. Diese ergibt sich aus der Anwendung der sozialen Norm zur Bestimmung abweichender Verhaltensweisen und der statistischen Norm, der zufolge Abweichungen in der Jugendphase einen ubiquitären Bestandteil der Entwicklungsphase darstellen (Schumann, 2011). Die Auflösung dieser Antinomien stellt eine konstante und möglicherweise zentrale Herausforderung an professionelle Akteur/ innen dar (Hoyer, 2015). Oftmals ist nicht erkennbar, ob abweichendes Verhalten Jugendlicher Ausdruck einer Entwicklungsphase, pathogener Vulnerabilität, langer Weile, VHN 3 | 2022 209 JAN HOYER Vulnerable Jugendliche im Jugendstrafvollzug FACH B E ITR AG eines kognitiv hochdifferenzierten Handlungsplans oder von Mischformen aller Teilaspekte ist. Ist dieses Verhalten aber delinquent bzw. kriminalisiert, fühlen sich professionelle Akteur/ innen zum schnellen Handeln aufgerufen. Eine Entscheidung ist erforderlich, und Unsicherheiten, ambivalente Gefühle, widersprüchliche Fachdiskurse und ggfs. Konflikte in Teams müssen zugunsten von Handlungsfähigkeit reduziert oder überwunden werden. Diese Reduktionen müssen in direkter Interaktion mit Jugendlichen oftmals in Sekundenschnelle, aber auch in Vollzugsplänen durch schriftliche Fixierung oder in Hauptverhandlungen mit der Aussprache von Erziehungsmaßregelungen, Zuchtmitteln oder einer Jugendstrafe erfolgen. Für alle Reduktionen sollten Reflexionszeiten und -räume in Bezug auf komplexe Fall- und Organisationsstrukturen sowie die eigene Rolle innerhalb dieser bestehen. Zeit und Raum, die in einer Hauptverhandlung aufgewendet werden, sind vergleichsweise manifest und gut beobachtbar. Die Zeit, die in der direkten Interaktion mit Jugendlichen für eine intuitive sekundenschnelle Entscheidung erforderlich ist, ist weniger manifest und formalisiert. Die sekundenschnellen Entscheidungen basieren auf aufgewendeten Zeiten der Aus- und Fortbildung sowie der reflexiven Professionalisierung, die in diesem Moment für Beobachter/ innen eher latent bleiben. 5 Professionalisierungsanforderungen in paradoxen Handlungsfeldern Bei Fachkräften besteht zwar durchaus eine Vorstellung über institutionelle Desintegrationsprozesse in Bildungs- und Erziehungskontexten, allerdings fällt ihnen das „Erkennen eigener Anteile an diesen Prozessen (…) schwerer als das Erkennen in anderen Erziehungsfeldern“ (Hoyer, 2021, S. 124). Nimmt man den erforderlichen Aufwand an Methodik und Reflexion zur Kenntnis, um latente Interaktionsanteile Professioneller im Vollzug der Jugendstrafe sichtbar, formulierbar und diskutierbar zu machen, wie im Projekt „Pädagogische Beziehungen im Jugendstrafvollzug“ an der Humboldt-Universität (vgl. Langer, Link, Fickler-Stang & Zimmermann, 2021), überrascht dieser Befund nicht. In diesem Forschungsprojekt wird unter anderem deutlich, „wie stark sich Merkmale der geschlossenen Institutionen sowie Psycho- und Soziodynamiken der Beteiligten in den hierarchischen Beziehungen vermischen und eine häufig unheilvolle Kollusion eingehen“ (Langer et al., 2021, S. 25). Entlang dieser Studie lassen sich erste Professionalisierungskonzepte entwerfen, welche institutionelle Antinomien und Widersprüchlichkeiten als Ausgangslage akzeptieren und „Verwundbarkeit als Ausgangspunkt wissenschaftlichen Denkens“ (Andresen, Koch & König, 2015, 11) einbeziehen. Dies stellt hohe Anforderungen an professionelle Erziehung pathogen vulnerabler Jugendlicher. Allein die Zusammenführung der Konzepte „Vulnerabilität“, „Jugenddelinquenz“ und „Zwangskontext“ verweisen auf strukturelle Dilemmata, Antinomien sowie Strukturen, Bedingungen und Affektlagen, deren Akzeptanz und mögliche Bewältigung als Teil der pädagogischen Arbeit begriffen werden müssen. 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