Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Die Sprache in den Fokus rücken - Sprachtherapie bei Kindern mit Hörschädigung
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Berit Sander
Beim Vorliegen einer Hörschädigung kommt es aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu gesprochener Sprache in der Regel zu Defiziten in der Lautsprachentwicklung, sprich zu audiogenen Sprachentwicklungsstörungen (z.B. Penke, Wimmer, Hennies, Hess & Rothweiler, 2016). Damit für Kinder mit einer Hörschädigung jedoch eine Teilhabe an unserer mehrheitlich lautsprachlich orientierten Gesellschaft möglich ist, sollten sie beim Vorliegen einer Sprachentwicklungsstörung eine spezifische Sprachtherapie erhalten, um im Lautspracherwerb bestmöglich unterstützt zu werden. Auf welche Weise eine effektive Therapie erfolgen kann, ist Gegenstand der Forschung, und auch in therapeutischen Praxisbüchern finden sich diverse Handlungsempfehlungen. Hier werden z.B. Ansatzpunkte für die Bereiche Phonetik/Phonologie, Lexikon/Semantik, Morphosyntax und Pragmatik/Kommunikation aufgezeigt (z.B. Hoffmann & Schäfer, 2020). Da die Ansatzpunkte vielzählig sind, stellt sich die Frage, welcher Fokus innerhalb der Sprachtherapie bei Kindern mit Hörschädigung gesetzt werden sollte.
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245 VHN, 91. Jg., S. 245 -247 (2022) DOI 10.2378/ vhn2022.art29d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Die Sprache in den Fokus rücken - Sprachtherapie bei Kindern mit Hörschädigung Berit Sander Universität zu Köln TRE ND TH EME NSTR ANG Bildung und Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen Beim Vorliegen einer Hörschädigung kommt es aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu gesprochener Sprache in der Regel zu Defiziten in der Lautsprachentwicklung, sprich zu audiogenen Sprachentwicklungsstörungen (z. B. Penke, Wimmer, Hennies, Hess & Rothweiler, 2016). Damit für Kinder mit einer Hörschädigung jedoch eine Teilhabe an unserer mehrheitlich lautsprachlich orientierten Gesellschaft möglich ist, sollten sie beim Vorliegen einer Sprachentwicklungsstörung eine spezifische Sprachtherapie erhalten, um im Lautspracherwerb bestmöglich unterstützt zu werden. Auf welche Weise eine effektive Therapie erfolgen kann, ist Gegenstand der Forschung, und auch in therapeutischen Praxisbüchern finden sich diverse Handlungsempfehlungen. Hier werden z. B. Ansatzpunkte für die Bereiche Phonetik/ Phonologie, Lexikon/ Semantik, Morphosyntax und Pragmatik/ Kommunikation aufgezeigt (z. B. Hoffmann & Schäfer, 2020). Da die Ansatzpunkte vielzählig sind, stellt sich die Frage, welcher Fokus innerhalb der Sprachtherapie bei Kindern mit Hörschädigung gesetzt werden sollte. Um diese Frage zu beantworten, muss zuerst geklärt werden, in welchen sprachlichen Bereichen Defizite bei Kindern mit Hörschädigung nachgewiesen wurden. Für die Bereiche Phonetik/ Phonologie (Kral, Streicher, Junge & Lang- Roth, 2014) und Lexikon/ Semantik (Lund, 2016) sind Entwicklungsdefizite gut dokumentiert und auch im Bereich Morphosyntax konnten Defizite festgestellt werden. Beispielsweise ist der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz- Morphologie bei Kindern mit Hörschädigung beeinträchtigt, was auf die eingeschränkte Wahrnehmbarkeit der Flexionsmorpheme am Verbauslaut zurückzuführen ist (Penke et al., 2016). Auch hinsichtlich der pragmatischen Entwicklung, welche in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus der Forschung gerückt ist, finden sich einige Studien. Rinaldi, Baruffaldi, Burdo und Caselli (2013) untersuchten die pragmatischen und sprachlichen Fähigkeiten von Kindern mit Hörschädigung mithilfe von Elternfragebögen und konnten hierbei eine Korrelation der pragmatischen Fähigkeiten mit den sprachlichen Fähigkeiten feststellen. Auch die Theory-of-Mind-Fähigkeiten (ToM) von Kindern mit Hörschädigung wurden mittels verschiedener verbaler und nonverbaler Aufgaben näher untersucht (Netten et al., 2017). Dabei zeigte sich eine Korrelation der sprachlichen Defizite mit den Defiziten in den verbalen ToM- Aufgaben. In den nonverbalen ToM-Aufgaben war hingegen kein Unterschied zu den normalhörenden Gleichaltrigen zu beobachten. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass auch das Abschneiden in den ToM-Aufgaben durch die sprachlichen Defizite der hörgeschädigten Kinder bedingt ist. Sowohl für die pragmatischen als auch für die ToM-Fähigkeiten finden sich in der Literatur Empfehlungen zur Therapie bei Kindern mit Hörschädigung (Hoffmann & Schäfer, 2020; Rinaldi et al., 2013). Da diese Fähigkeiten jedoch im Zusammenhang mit den sprachlichen Fähigkeiten stehen, stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, therapeutisch an den ToMbzw. an den pragmatischen Fähigkeiten anzusetzen. VHN 3 | 2022 246 BERIT SANDER Sprachtherapie bei Kindern mit Hörschädigung TRE ND Möglicherweise wäre die Therapie effektiver, wenn direkt an den sprachlichen Fähigkeiten gearbeitet würde. Des Weiteren gilt es zu prüfen, ob spezifische Therapiekonzepte und Interventionsstudien für die Therapie bei Kindern mit Hörschädigung vorliegen. Insgesamt sind Interventionsstudien bei Kindern mit Hörschädigung rar, für die semantisch-lexikalische Therapie finden sich jedoch einige Studien. Lund und Douglas (2016) konnten beispielsweise feststellen, dass insbesondere direkte Instruktionen (ausführliche Einführung eines neuen Wortes und rezeptive und produktive Übungen dazu) zu einer Erweiterung des Wortschatzes bei hörgeschädigten Kindern führen. Hinsichtlich der phonetisch-phonologischen Therapie konnten Bow, Blamey, Paatsch und Sarant (2004) die Wirksamkeit von phonologischem Training, z. B. mithilfe von Minimalpaaren, bei Kindern mit Hörschädigung im Schulalter nachweisen. Auch im Bereich der Morphosyntax war ein explizites Training von Flexionsformen, z. B. mithilfe von Arbeitsblättern, wirksam (ebd.). Solch ein explizites Training eignet sich jedoch nur für ältere Kinder. Für jüngere Kinder liegt derzeit das Therapieprogramm TraFiK - Training finaler Konsonanten vor (Penke, Rothweiler, Stollenwerk & Westerkamp, 2020), mit dem zuerst die Wahrnehmung der flexionsrelevanten Laute und anschließend die Produktion dieser Laute auf Wort- und Satzebene geübt wird. Auf der Satzebene fungieren die Laute als Verbflexive, wodurch die Subjekt-Verb-Kongruenz erarbeitet werden kann. Mit dem Programm wird auf die spezifischen Probleme von Kindern mit Hörschädigung eingegangen, indem die Aufmerksamkeit auf die schwer wahrnehmbaren Laute bzw. Morpheme gelenkt wird und diese trainiert werden. Eine Evaluierung des Programms ist in Vorbereitung. Generell erscheint es sinnvoll, sich in der Therapie hörgeschädigter Kinder an den zentralen Erwerbsschritten des typischen Spracherwerbs zu orientieren. Ist ein grundlegender Wortschatz aufgebaut und produziert das Kind bereits Mehrwortäußerungen, sollte es im Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz unterstützt werden, um auch die sich daran anschließenden Erwerbsschritte wie den Erwerb der Verbzweitstellung im Hauptsatz oder den Erwerb komplexer Satzstrukturen zu ermöglichen (Clahsen & Penke, 1992). Insgesamt lässt sich festhalten, dass Kinder mit Hörschädigung aufgrund der dokumentierten Defizite in ihrer lautsprachlichen Entwicklung professionell begleitet werden sollten. In Anbetracht der derzeitigen Studienlage scheint es ratsam zu sein, den Fokus in der Sprachtherapie auf die (rein) sprachlichen Fähigkeiten zu setzen und Kinder mit Hörschädigung insbesondere in ihrer morphosyntaktischen Entwicklung zu unterstützen. Weitere Interventionsstudien sind nötig, um eine bestmögliche Förderung zu gewährleisten. Literatur Bow, C. P., Blamey, P. J., Paatsch, L. E. & Sarant, J. Z. (2004). The effects of phonological and morphological training on speech perception scores and grammatical judgments in deaf and hardof-hearing children. Journal of Deaf Studies and Deaf Education, 9 (3), 305 -314. https: / / doi.org/ 10.1093/ deafed/ enh032 Clahsen, H. & Penke, M. (1992). The acquisition of agreement morphology and its syntactic consequences: New evidence on German child language from the Simone-corpus. In J. Meisel (Ed.), The Acquisition of Verb Placement, 181 -223. Dordrecht: Kluwer. Hoffmann, V. & Schäfer, K. (2020). Kindliche Hörstörungen: Diagnostik - Versorgung - Therapie. Berlin: Springer. Kral, K., Streicher, B., Junge, I. & Lang-Roth, R. (2014). Phonologische Entwicklung bei Kindern mit Cochleaimplantat(en). HNO, 62, 367 -373. https: / / doi.org/ 10.1007/ s00106-013-2832-y Lund, E. (2016). Vocabulary knowledge of children with cochlear implants: A meta-analysis. Journal of Deaf Studies and Deaf Education, 21 (2), VHN 3 | 2022 247 BERIT SANDER Sprachtherapie bei Kindern mit Hörschädigung TRE ND 107 -121. https: / / doi.org/ 10.1093/ deafed/ env 060 Lund, E. & Douglas, W. M. (2016). Teaching vocabulary to preschool children with hearing loss. Exceptional Children, 83 (1), 26 -41. https: / / doi. org/ 10.1177/ 0014402916651848 Netten, A. P., Rieffe, C., Soede, W., Dirks, E., Korver, A. M. H., Konings, S., … Frijns, J. H. M. (2017). Can you hear what I think? Theory of mind in young children with moderate hearing loss. Ear & Hearing, 38 (5), 588 -597. https: / / doi.org/ 10.10 97/ AUD.0000000000000427 Penke, M., Rothweiler, M., Stollenwerk, F. & Westerkamp, A. (2020). TraFiK - Ein Programm zum Training finaler Konsonanten. Köln: ProLog. Penke, M., Wimmer, E., Hennies, J., Hess, M. & Rothweiler, M. (2016). Inflectional morphology in German hearing-impaired children. Logopedics Phoniatrics Vocology, 41 (1), 9 -26. https: / / doi. org/ 10.3109/ 14015439.2014.940382 Rinaldi, P., Baruffaldi, F., Burdo, S. & Caselli, M. C. (2013). Linguistic and pragmatic skills in toddlers with cochlear implant. International Journal of Language & Communication Disorders, 48 (6), 715 -725. https: / / doi.org/ 10.1111/ 1460-6984. 12046 Anschrift der Autorin Berit Sander Universität zu Köln Lehrstuhl für Psycholinguistik und Sprachpsychologie Department für Heilpädagogik und Rehabilitation Herbert-Lewin-Str. 10 D-50931 Köln E-Mail: berit.sander@uni-koeln.de Die Lerntreppe hinaufklettern 2021. 143 Seiten. 14 Abb. 3 Tab. (978-3-497-03053-8) kt a www.reinhardt-verlag.de Wie lässt sich der Lernprozess von SchülerInnen messen? Dieser für die Schule zentralen Frage geht dieses Praxis- und Lehrbuch nach, indem das Konzept der Lernverlaufsdiagnostik (LVD) erörtert wird. Im Gegensatz zur Feststelldiagnostik ist die LVD ein förderdiagnostisches Instrument und kann mittels wiederholter Messungen die Wirksamkeit pädagogischer Interventionen abbilden. Dieses Buch beschreibt, warum diese Form der Diagnostik benötigt wird und stellt verschiedene Anwendungsformen gezielt vor. Es werden psychometrische und testtheoretische Grundlagen dargelegt sowie konkrete Tests für die Lernbereiche Lesen, Rechtschreiben und Mathematik beschrieben.
