eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 91/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2022
914

Fachbeitrag: Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort

101
2022
Anja Theisel
Markus Spreer
Christian W. Glück
Für die schulische Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) sind unterschiedliche Unterstützungsmaßnahmen angepasst an den Förderbedarf etabliert. Persönliche Einschätzungen der Unterstützungsangebote durch die Betroffenen selbst sind bislang kaum Gegenstand der Forschung. Anhand halbstandardisierter Leitfadeninterviews mit 14 Jugendlichen (9 männlich, 5 weiblich) im Alter von 15, 11–17, 8 Jahren, die aufgrund einer SES zu Schulbeginn einen sonderpädagogischen Förderbedarf Sprache aufwiesen, werden die Wahrnehmung des früheren und aktuellen Förderbedarfs, Unterstützungsmaßnahmen und Beteiligung im Unterricht sowie die beruflichen Perspektiven thematisiert. Die Ergebnisse der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018) unterstreichen die positive Entwicklung vor allem der mündlichen Sprache, während die Schwierigkeiten in der Rechtschreibung, im schriftlichen Ausdruck sowie in der Fremdsprache am Ende der Schulzeit auf eine Persistenz der SES hinweisen.
5_091_2022_004_0272
272 VHN, 91. Jg., S. 272 -288 (2022) DOI 10.2378/ vhn2022.art34d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort Eine Interviewstudie am Ende der Schulzeit zu Förderbedarf, Unterstützungsangeboten und zum Übergang in die Berufsausbildung Anja Theisel Seminar für Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, Heidelberg Markus Spreer Humbold-Universität Berlin Christian W. Glück Universität Leipzig Zusammenfassung: Für die schulische Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) sind unterschiedliche Unterstützungsmaßnahmen angepasst an den Förderbedarf etabliert. Persönliche Einschätzungen der Unterstützungsangebote durch die Betroffenen selbst sind bislang kaum Gegenstand der Forschung. Anhand halbstandardisierter Leitfadeninterviews mit 14 Jugendlichen (9 männlich; 5 weiblich) im Alter von 15; 11 -17; 8 Jahren, die aufgrund einer SES zu Schulbeginn einen sonderpädagogischen Förderbedarf Sprache aufwiesen, werden die Wahrnehmung des früheren und aktuellen Förderbedarfs, Unterstützungsmaßnahmen und Beteiligung im Unterricht sowie die beruflichen Perspektiven thematisiert. Die Ergebnisse der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018) unterstreichen die positive Entwicklung vor allem der mündlichen Sprache, während die Schwierigkeiten in der Rechtschreibung, im schriftlichen Ausdruck sowie in der Fremdsprache am Ende der Schulzeit auf eine Persistenz der SES hinweisen. Schlüsselbegriffe: Sprachentwicklungsstörung, Sonderpädagogischer Förderbedarf Sprache, Jugendliche, Unterstützungsmaßnahmen, Interview Young People with Developmental Language Disorders Have Their Say - An Interview Study at the End of School on Support Needs, Support Services and the Transition to Vocational Training Summary: For the school support of children with developmental language disorders (DLD), different support measures adapted to the support needs have been established. Personal assessments of the support services by the students themselves have hardly been the subject of research so far. On the basis of semi-standardized interviews with 14 adolescents (9 male, 5 female) aged 15; 11 -17; 8 years who had a special educational need for language at the beginning of school due to a DLD, the perception of the former and current need for support, the participation in class as well as the vocational perspectives are addressed. The results of the evaluative qualitative content analysis according to Kuckartz (2018) underline the positive development especially of oral skills, while the difficulties in spelling and written expression as well as in foreign language at the end of school indicate a persistence of DLD. Keywords: Developmental language disorder, speech, language and communication needs (SLCN), adolescents, support measures, interview FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Bildung und Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen VHN 4 | 2022 273 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG 1 Rahmenbedingungen schulischen Lernens für Kinder mit sprachlichen Beeinträchtigungen 1.1 Beschulung Schülerinnen und Schüler (SuS) mit sprachlichen Beeinträchtigungen, die erhebliche Auswirkungen auf das schulische Lernen erwarten lassen, benötigen spezifische Unterstützungsmaßnahmen. In Deutschland erhalten sie diese in vielen Bundesländern erst dann, wenn ein „sonderpädagogischer Förderbedarf “ oder „sonderpädagogischer Unterstützungs- und Beratungsbedarf “ im Bereich Sprache (im Weiteren: SFS) formal festgestellt wird (KMK, 2011; Bundschuh & Winkler, 2019; Petermann & Petermann, 2006). Für das Bundesland Baden- Württemberg (B.-W.) als Einzugsbereich der Stichprobe und vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelungen im Zeitraum der Durchführung der Studie (Start: 2011) ist hierfür eine Gutachtenerstellung durch ausgebildete Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen der Fachrichtung Sprache nötig, die alle wesentlichen Entwicklungsbereiche (Sprache, Wahrnehmung, Kognition) sowie anamnestische Erhebungen umfasst und die Umfeldfaktoren berücksichtigt (vgl. Hollenweger & Kraus de Camargo, 2017). Das sonderpädagogische Bildungssystem im Förderschwerpunkt Sprache ist auf Durchlässigkeit hin angelegt, sodass die SuS häufig nur eine begrenzte Zeit lang den SFS aufweisen und ggf. in den Förderschulen (synonym SBBZ: Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren) verbleiben (Glück & Theisel, 2014; Lüke & Ritterfeld, 2011; Sallat & Spreer, 2011; Theisel, 2017). Aber auch SuS, deren sonderpädagogischer Förderbedarf fortbesteht, wechseln die Schularten, entweder aus einem SBBZ in den gemeinsamen Unterricht der Regelschule, an ein SBBZ mit einem anderen Schwerpunkt (bei Wechsel des Förderschwerpunkts) oder aus der Regelschule in ein SBBZ. 1.2 SES im Jugendalter Im Bereich der Sekundarstufe stehen nur in wenigen Bundesländern noch spezifische Settings neben dem Angebot des gemeinsamen Unterrichts zur Verfügung (u. a. in B.-W., Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen), obwohl nicht alle Kinder ihren Unterstützungsbedarf im Laufe der Grundschulzeit verlieren und in der Sekundarstufe deutliche Probleme im schulischen Lernen sichtbar werden (Romonath, 2003). Die Jugendlichen zeigen Schwierigkeiten im Rechtschreiben sowie beim Verfassen von Texten insbesondere mit Blick auf die Berücksichtigung formaler Aspekte wie grammatikalischer Regeln. Auch das Leseverständnis ist beeinträchtigt. Kolonko und Seglias (2004) konnten im Kontext der logopädischen Therapie in Sekundarschulen in der Schweiz in 78 halbstandardisierten Interviews mit den Logopädinnen ebenfalls ein Persistieren von SES bis ins Jugendalter feststellen. Hier zeigten sich auch dann schlechtere Schriftsprachleistungen, wenn die SES im mündlichen Bereich überwunden schien. Die Forscherinnen postulieren einen dynamischen Zusammenhang zwischen mündlichen und schriftlichen Leistungen, der nicht nur „formalsprachliche, sondern auch pragmatische Kompetenzen“ betrifft (Kolonko, 2010, S. 17). Neben den Schwierigkeiten im schulischen Lernen gelten SES als Risikofaktor für die Ausprägung emotionaler und sozialer Schwierigkeiten. So sind SuS mit SES häufiger Opfer von Bullying (Kilpatrick, Leit-o & Boyes, 2019; van den Bedem, Dockrell, van Alphen, Kalicharan & Rieffe, 2018) und zeigen soziale Ängste, die die soziale Interaktion im Jugend- und Erwachsenenalter beeinflussen (Brownlie, Bao & Beitchman, 2016). Hier haben sich positive Peer-Beziehungen als Schutzfaktor für spätere sozial-emotionale Probleme erwiesen (Forrest, Gibson, Halligan & St Clair, 2018). Trotz der Beeinträchtigungen im sprachlichen Bereich konnten allerdings Kolonko und Seglias (2004) VHN 4 | 2022 274 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG bei den in Sprachheilschulen beschulten Jugendlichen keine Zusammenhänge mit sozio-emotionalen Schwierigkeiten finden. Sie vermuten hier, dass in Sprachheilschulen Nichtverstehen oder Nichtverstandenwerden zur Normalität gehören und oft nicht wahrgenommen werden. Darüber hinaus zeigen internationale Studien, dass für diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Sprachentwicklungsstörungen neben geringeren Schulleistungen und einem Absinken des IQ (Conti-Ramsden, Botting, Simkin & Knox, 2001) auch ein erhöhtes Risiko dafür besteht, niedrigere Schulabschlüsse und geringere berufliche Qualifikationen zu erreichen (Conti-Ramsden, Durkin, Toseeb, Botting & Pickles, 2018; s. auch Lautenschläger, Sachse, Buschmann & Bockmann, 2020). Mit dem Übergang in den Beruf stehen dem sonderpädagogischen System nur noch wenige Sonderberufsschulen und die angeschlossenen Berufsbildungswerke für diese Zielgruppe zur Verfügung. Die Perspektiven der Betroffenen darauf, wo ihre Schwierigkeiten im Jugendalter liegen und was ihnen in ihrem Bildungsprozess hilfreich erschien, sind bislang im nationalen Rahmen kaum systematisch untersucht. Auch gibt es Evidenzen dafür, dass Personen in professionellen Kontexten die Meinungen und Sichtweisen von Betroffenen und ihren Eltern wenig in ihre Entscheidungsprozesse einbeziehen (Roulstone, Harding & Morgan, 2016). Doch ist ihre Sichtweise bedeutsam, da sie auf der gelebten Erfahrung und nicht auf hypothetischen Annahmen Nicht-Betroffener beruht. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert die Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigungen in verstärkter Weise ein (UN, 2008). Die Sichtweisen der Betroffenen können helfen, ihre Bildungsbedürfnisse besser zu verstehen und passende Bildungsangebote zur Verfügung zu stellen (vgl. Palikara, Lindsay & Dockrell, 2009). International gibt es vereinzelt Forschungsbemühungen, die diese Perspektive berücksichtigen (z. B. Owen, Hayett & Roulstone, 2004; Lewis, Parsons & Robertson, 2007). Palikara et al. (2009) interviewten 54 sprachbeeinträchtigte Jugendliche, die mehrheitlich inklusiv beschult wurden, nach Abschluss ihrer Schulpflicht zu ihrem Förderbedarf, den Erfahrungen mit den Unterstützungsangeboten durch Schule und Familie sowie den zu erwartenden weiteren Barrieren auf ihrem Bildungsweg. Die Betroffenen sind sich zu diesem Zeitpunkt ihrer Schwierigkeiten bewusst und betrachten die erfahrene schulische Unterstützung sehr differenziert und zum großen Teil als sehr hilfreich. Die Unterstützung durch einen ‚Teaching Assistant‘ (TA) im Klassenzimmer oder einen ‚Speech language therapist‘ (SLT) außerhalb des Unterrichts nahm zum Bedauern der Betroffenen in der Sekundarstufe deutlich ab. Carroll und Dockrell (2012) untersuchten und interviewten 19 Jugendliche mit ehemaligen Sprachbeeinträchtigungen, die in speziellen Schulen beschult wurden, nach ihrer Schulerfahrung und ihrem Übergang in die berufliche Ausbildung. Dabei wurde deutlich, dass die Betroffenen sehr präzise Auskunft geben können über ihre früheren bzw. noch vorhandenen kommunikativen Beeinträchtigungen und die Barrieren, die damit verbunden sind. Beim Übergang in den Beruf beklagen manche mit Blick auf die Berufsberatung „a lack of specific and accurate knowledge about the needs of the young person and even a lack of expectation“ (ebd., S. 573), sodass der Zugang zu einer den Lernvoraussetzungen entsprechenden Berufsausbildung erschwert ist. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass durch den Einbezug der Sichtweise Betroffener durchaus valide Erkenntnisse über hilfreiche bzw. hemmende Bildungs- und Unterstützungsmaßnahmen gewonnen werden können. Das Bildungssystem anderer Länder ist mit dem deutschen allerdings kaum vergleichbar. Mit der Wirkung VHN 4 | 2022 275 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG bzw. Zufriedenheit des Bildungsprozesses in Sprachheilschulen haben sich einzelne Studien in der Schweiz (Kempe, 2010; Haid & Isele, 2012) und in Deutschland beschäftigt (Zuckrigl & Mahel, 1986; Grohnfeldt, 2003; Sallat & Spreer, 2011, 2015; Ritterfeld, Lüke, Dürkoop & Subellok, 2011; Thielebein, 2015; Theisel, 2017). Auch Sallat und Spreer (2011, 2014, 2015) haben die Sichtweise der Betroffenen einbezogen. Sie befragten ehemalige SuS von Sprachheilschulen nach ihren Berufs- und Bildungsabschlüssen und den aktuellen Berufsfeldern sowie nach ihrer retrospektiven Einschätzung ihres Förderortes Sprachheilschule. Über 80 % haben nach eigenen Angaben von der Förderung an diesem Förderort profitiert (Sallat & Spreer, 2011, S. 85). Weitere Daten liefert Theisel (2017) nach einer Befragung der Abschlussjahrgänge 2005 - 2015 von SBBZ Sprache in B.-W., wo Hauptund/ oder Realschulabschluss möglich sind. Die Zielgruppe sind damit die SuS, die bis zu ihrem Abschluss sprachlichen Förderbedarf hatten. Die Möglichkeit, einen mittleren Bildungsabschluss unter den besonderen Bedingungen eines sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums zu erwerben, führt nach den vorliegenden Daten zu einer deutlich höheren Abschlussquote von 48 % für die mittlere Reife als im Regelschulsystem. Als unterstützend haben die Betroffenen die Peergroup-Erfahrungen, die individuelle Unterstützung sowie die Anpassung des Unterrichts an die Lernvoraussetzungen durch engagierte Lehrkräfte, das gute Lernklima sowie die kleinen Lerngruppen erlebt. 2 Fragestellungen Aus den Studien über Jugendliche mit SES ergaben sich Hinweise auf ein Persistieren der Störung und auf Auswirkungen im schulischen Lernen. In der Perspektive der Jugendlichen ergibt sich damit die Frage: 1. Wie schätzen die Jugendlichen ihren Förderbedarf am Ende der Schulzeit ein und wie macht sich dieser aus ihrer Sicht in den verschiedenen Unterrichtsfächern ggf. bemerkbar? Das sonderpädagogische Unterstützungssystem steht SuS meist zeitweise, selten über die gesamte Schulzeit entweder an spezialisierten Förderschulen oder an Regelschulen zur Verfügung. Der Perspektive der Jugendlichen auf diese Maßnahmen folgt die zweite Fragestellung: 2. Welche Bildungsbzw. Unterstützungsmaßnahmen haben die Jugendlichen während der Schulzeit als unterstützend bzw. hemmend wahrgenommen? Da die Unterstützungsmaßnahmen strukturell nach dem Schulabschluss kaum noch zur Verfügung stehen, interessiert in der Perspektive der Jugendlichen: 3. Wie schätzen die Jugendlichen die Notwendigkeit und den Charakter eines ggf. vorhandenen Unterstützungsbedarfs im Rahmen der Berufsausbildung ein? 3 Methode Die hier vorliegende Interviewstudie basiert auf der Stichprobe der prospektiven Längsschnittstudie Ki.SSES-Proluba 1 , in der Kinder, die am Anfang der 1. Klasse eine Sprachentwicklungsstörung aufwiesen, mit ihren Lernvoraussetzungen erfasst und auf ihren Bildungswegen begleitet wurden (vgl. auch Forschungsgruppe Ki.SSES-Proluba, 2014). Ausgehend von dieser Ausgangsstichprobe erfolgte die Datenerhebung zweistufig. Zunächst wurden alle diejenigen SuS der Ki.SSES-Studie kontaktiert, die zum Ende der 4. Klasse angegeben hatten, für weitere VHN 4 | 2022 276 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Untersuchungen zur Verfügung zu stehen, und hierfür ihre Kontaktdaten bereitstellten (N = 92). Die Kontaktaufnahme erfolgte schriftlich und enthielt einen Elternfragebogen sowie zusätzlich einen Fragebogen für die SuS. Von den Proband/ innen, die die entsprechenden Rückmeldungen vornahmen (N = 30), wurde die Bereitschaft für ein Telefoninterview erfragt. Die entsprechenden SuS der 8., 9. oder 10. Klasse (N = 14) im Alter von 15; 11 - 17; 8 Jahren wurden daraufhin zu einem ca. 30bis 45-minütigen Leitfadeninterview eingeladen, das inhaltlich auf den Rückmeldungen aus den Fragebögen beruht. Die Interviews wurden mit Diktiergeräten aufgezeichnet. 3.1 Stichprobe Die hier berichteten Daten stehen im Kontext einer Fragebogenerhebung mit 30 Jugendlichen (vgl. Theisel, Spreer & Glück, 2021, sowie die Aktualisierung Glück, Spreer & Theisel, 2022, die auch die hier beschriebene Stichprobe umfasst). Die hier erhobenen Interview-Daten entstammen einer Teilstichprobe mit 14 SuS, denen zu Schulbeginn im Jahr 2011/ 12 ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Sprache (SF-S) zuerkannt wurde (in B.-W.: sonderpädagogisches Bildungsangebot). Die Diagnostik wurde mit den Subtests PGN (Phonologisches Gedächtnis für Nichtwörter), SG (Satzgedächtnis) und MR (Morphologische Interviewnummer Sonderpädagogischer Förderbedarf Sprache (SFS) Beschulung am SBBZ ohne bis Klasse 2 bis Klasse 4 bis in die Sek I bis Ende Sek I nein bis Klasse 2 bis Klasse 4 bis in die Sek I bis Ende Sek I 01 × × 02 × × 03 × × 04 × × 05 × × 06 × × 07 × X 08 × × 09 × × 10 × × 11 × × 12 × × 13 × × 14 × × Tab. 1 Anspruchszeitraum SFS und Besuch eines SBBZ VHN 4 | 2022 277 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Regelbildung) des SETK 3 - 5 (Grimm, Aktas & Frevert, 2010) durchgeführt und mit dem Subtest Zahlen nachsprechen aus dem K-ABC ergänzt (Melchers & Preuß, 1991/ 2006). Die SuS (N = 12) erreichten hier im Mittel für die Untertests des SETK 3 - 5 folgende T-Werte: Untertest PGN: M = 31,50 (SD = 7,18); Untertest SG: M = 40,17 (SD = 7,89); UT MR: M = 39,75 (SD = 7,94). Im Untertest Zahlen nachsprechen des K-ABC lagen die als T-Werte transformierten Leistungen bei M = 40,54 (SD = 9,15). Alle SuS wiesen zu diesem Zeitpunkt eine SES auf mindestens einer sprachlichen Ebene auf (auch die beiden SuS, von denen andere Sprachdaten vorliegen). Die Jugendlichen (9 männlich; 5 weiblich) waren zum Zeitpunkt der Einschulung zwischen 6; 1 und 7; 10 Jahre alt. 12 von ihnen besuchten zu Beginn der Schulzeit eines der verschiedenen Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) in B.-W. in sieben verschiedenen Landkreisen, zwei jeweils verschiedene Grundschulen. Alle SuS sind monolingual aufgewachsen. Die Dauer des SFS für die Stichprobe kann der Tabelle 1 entnommen werden. Damit verlieren 21 % dieser Stichprobe den SFS schon nach der 2. Klasse, weitere 14 % bis Ende Klasse 4. 36 % behalten ihn bis zum Ende der Schulzeit. Im Mittel wird der SFS damit 6; 4 Jahre aufrechterhalten. Damit ist der Anspruchszeitraum in dieser Stichprobe mehr als doppelt so lang, wie aus anderen Studien zu erwarten ist (vgl. Sallat & Spreer, 2011; Theisel, Glück & Spreer, 2018). Dies macht eine Stichprobenselektion deutlich, bei der die Gruppe der SuS in besonderer Weise angesprochen werden konnte, die ihren SFS bis in die Sekundarstufe hinein behalten hat. Bezüglich der Beschulungsdauer am SBBZ werden alle Fallgruppen mit mindestens zwei SuS in der Interviewstudie erfasst (ohne SBBZ, SBBZ bis Klasse 2, bis Klasse 4, bis in die Sekundarstufe, bis ans Ende der Schulzeit). Die zwei Jugendlichen, die bis zum Ende der Schulzeit noch in einem SBBZ beschult werden, sind je einmal einem SBBZ Sprache und Lernen zuzuordnen. Alle anderen machen ihren Schulabschluss in einer (Werk-) Realschule oder einer Gemeinschaftsschule. 36 % der SuS streben einen Haupt- und 57 % einen (Werk-) Realschulabschluss an; von einem Schüler erfolgte hierzu keine Angabe. 3.2 Erhebungsverfahren Zur inhaltlichen Vorbereitung der Leitfaden- Interviews wurden zwei Fragebögen eingesetzt. Der zweiseitige Fragebogen für die Jugendlichen (Link zum Download: https: / / doi.org/ 10. 13140/ RG.2.2.27008.30727) enthielt folgende Aspekte: n Einschätzung (schrift-)sprachlicher und rechnerischer Fähigkeiten (10 Items) n Angestrebter Schulabschluss (1 Item) n Schulnoten für Deutsch, Mathematik und Englisch n Einschätzung der sozialen Integration (4 Items), der Schuleinstellung (4 Items), des Selbstkonzepts der Schulfähigkeit (4 Items) n Einschätzung der kommunikativen Kompetenzen (15 Items) n Einflussfaktoren für den Berufswunsch (1 Item) n Berufswunsch (1 Item) Für die Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenzen durch die Jugendlichen wurde auf Items aus dem FEESS zurückgegriffen, einen Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen. Dieser Fragebogen liegt in zwei Versionen vor: für die erste und zweite Klasse (FEESS 1 - 2; Rauer & Schuck, 2004) und für die dritte und vierte Klasse (FEESS 3 - 4, Rauer & Schuck, 2003). Beide VHN 4 | 2022 278 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Versionen bestehen aus sieben Skalen, die drei übergeordneten Dimensionen ‚Sozialklima‘, ‚Fähigkeitsselbstkonzept‘ und ‚Schul- und Lernklima‘ zugeordnet sind. Für die Befragung der SuS am Ende der Schulzeit wurde auf Items aus der Skala zur sozialen Integration, zum Selbstkonzept der Schulfähigkeit sowie zur Schuleinstellung zurückgegriffen. Der vierseitige Elternfragebogen enthielt Fragen zu folgenden Aspekten. Für die Items zur Einschätzung der Fähigkeiten und der Teilhabe wurden Items aus dem Jugendlichen-Fragebogen adaptiert. n Beschulung (klassenstufenweise) n Angestrebter Schulabschluss (2 Items) n Gründe für Schulwahl (2 Items) n Zusätzliche außerschulische Unterstützungsmaßnahmen/ Therapie (7 Items) n Einschätzung (schrift-) sprachlicher und rechnerischer Fähigkeiten (10 Items) n Erfahrungen mit der Beschulung (getrennt nach Schulform/ Stufe) (26 Items) n Einschätzung der sozialen Teilhabe des Kindes (13 Items) n Aktuelle (schrift-)sprachliche Beeinträchtigungen (1 Item) n Einstieg in den Beruf (1 Item) Die Ergebnisse dieser Fragebogenstudie wurden bereits publiziert und dienten als Ausgangspunkt der Leitfadeninterviews (vgl. Theisel et al., 2021 sowie die Aktualisierung Glück et al., 2022). Die halbstandardisierten Leitfadeninterviews mit den 14 Jugendlichen wurden von den Autor/ innen des Beitrags selbst durchgeführt und aufgezeichnet. Der Leitfaden gliederte sich in die Hauptthemenbereiche sprachliche Schwierigkeiten früher - heute, Schulerfahrungen (Umgang mit sprachlichen Anforderungen, soziale Integration) und Berufswahl. Zu jedem dieser Bereiche wurden konkrete Fragen formuliert, die und deren Reihung jedoch während des Interviews dem Gesprächsverlauf entsprechend adaptiert wurden. 3.3 Datenauswertung und Analyse Die Interviews wurden für die Verarbeitung entsprechend aufbereitet. Zuerst erfolgte die Transkription mithilfe der Audio-Aufzeichnungen. Die Transkription erfolgte anhand der Transkriptionsregeln für die computergestützte Auswertung nach Kuckartz (2018) durch eine Projektmitarbeiterin. Die Transkripte wurden von den Autor/ innen geprüft. Zweifelsfälle (z. B. dialektale Ausdrücke) wurden soweit möglich konsensual geklärt und ansonsten ausgeschlossen. Die Daten wurden anschließend für die weitere Analyse in MAXQDA 2020 importiert. Die Datenanalyse der Leitfadeninterviews fand mittels evaluativer qualitativer Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018) statt. Diese ermöglicht mittels generierter Kategorien eine Einschätzung des Materials hinsichtlich ausgewählter Dimensionen. Nach Kuckartz (2018, S. 98) müssen die Ausprägungen nicht wie von Mayring (2015) beschrieben mindestens ordinalskaliert sein. Demnach sind auch Kategorien auf Nominalskalenniveau geläufig. Für diese Studie wurden unterschiedliche Dimensionen auf nominalem Skalenniveau verwendet. Das Kategoriensystem wurde deduktiv aus der Fragestellung entwickelt und ergänzend induktiv anhand des bearbeiteten Materials ergänzt (Kuckartz, 2018). Das Vorgehen der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse entspricht weitestgehend dem Ablauf einer inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. Demnach wurden anhand der Fragestellungen thematische Hauptkategorien entwickelt, mit denen das gesamte Material kodiert wurde. Im Anschluss wurden die Textstellen, die der gleichen Hauptkategorie zugeordnet wurden, zusammengestellt (vgl. ebd., S. 124f.) und Ausprägungsgrade der Bewertungskategorien formuliert sowie entsprechende Fundstellen zugeordnet. Dann wurde das gesamte Material erneut bewertet und codiert (ebd.). VHN 4 | 2022 279 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG In der Ergebnisdarstellung finden sich entsprechende Verweise auf die jeweiligen Textstellen der Transkripte in Klammern. Hierbei wird zunächst die Nummer des Interviews angeführt und im Anschluss die Zeile des Transkripts, z. B. I12, Pos. 204. 4 Ergebnisse Im Folgenden werden zentrale Befunde aus den Interviews jeweils mit Belegstellen vorgestellt. Ergänzt wird dies durch quantitative Angaben über die Anzahl bzw. den Anteil der Interviews mit übereinstimmenden Codierungen. 4.1 Einschätzung der sprachlichen Beeinträchtigungen am Ende der Schulzeit Gefragt nach den Bereichen, in denen sich sprachliche Probleme noch in besonderer Weise zeigen, dominiert deutlich die Schriftsprache. Fast alle Interviewpartner benennen die Rechtschreibung als eine Problemstelle, die bis hin zur Unleserlichkeit für andere oder auch für die Betroffenen selbst führt. Dies manifestiert sich auch beim Verfassen eigener Texte: „Rechtschreibung ist bei mir net so gut. Und schriftlich nicht so leserlich, würd’ ich mal sagen.“ (I09, Pos. 125 - 126). Im Lesen hingegen fühlen sich die meisten recht sicher. Allerdings beschreiben drei Jugendliche noch Schwierigkeiten im Lesen schwerer, langer bzw. unbekannter Wörter, beim Verstehen von Texten bzw. beim lauten Lesen: „Also beim Lesen kann ich nicht flüssig so lesen. Wenn zum Beispiel lange Wörter oder so und dann ist das irgendwie in meinem Kopf drin, dass ich den Anfang des Worts lese und das andere rate ich und dann wird’s halt falsch.“ (I11, Pos. 105 - 110). Neben der Lesefertigkeit werden auch Probleme im Leseverstehen verbalisiert: „Ich lese es dann runter aber den Inhalt, den verstehe ich nicht wirklich.“ (I11, Pos. 182 - 184). Im Bereich des Wortschatzes/ Wortabrufs nennen drei Jugendliche Abrufschwierigkeiten, die sich auch beim Verfassen von Texten manifestieren: „Dennoch hab’ ich noch recht häufig (…) Schwierigkeiten, mich richtig auszudrücken und die richtigen Wörter zu nsagen oder zu nehmen.“ (I01, Pos. 90 - 92); „Aber mir fehlt (…) ich vergiss manchmal die Wörter, was ich dann sagen will halt. Weiß halt kurz nicht, wie ich es sagen soll. Und dann, dann kommt es dann eigentlich raus. Also ich muss da erstmal bisschen überlegen.“ (I07, Pos. 32 - 35). Das Sprechen/ die Aussprache hat sich im Rückblick bei den meisten Betroffenen im Verlaufe der Schulzeit deutlich verbessert. Allerdings nennen sieben SuS in Abhängigkeit von Situation und Wortmaterial (z. B. „Fremdwörter“ I08, Pos. 108) noch Beeinträchtigungen, die sich auch auf Formmerkmale der Rede beziehen (Stottern, Nuscheln). „Auch wenn man es hört oder man es im Kopf richtig sagen kann, aber es dann aus dem Mund ganz anders rauskommt, wie man es sich denkt, wie es eigentlich (…) man weiß ja, wie es ausgesprochen wird, nur manchmal kommt es dann halt irgendwie anders raus.“ (I05, Pos. 37 - 41); „Also manchmal nuschel ich halt, da rede ich schon ein bisschen komisch.“ (I07, Pos. 264 - 265). Obwohl im Fragebogen die Grammatik häufig als besonders beeinträchtigt eingeschätzt wird, wird sie in den Interviews nur fünfmal explizit genannt. Die Kategorie Gedächtnis wurde hinsichtlich der Relevanz als Marker im Rahmen der Diagnostik von SES mit aufgenommen. Drei der Jugendlichen machen explizit hierzu Aussagen, einerseits zur Arbeitsgedächtniskapazität: „Wenn ich irgendwas lese, einen längeren Text oder so, dass ich das mehrmals durchlesen muss, weil ich mir sonst das nicht merken kann.“ (I11, Pos. 177 - 180), andererseits zum Langzeitgedächnis: „Da ist es schon so krass, weil ich es mir einfach nicht merken kann. […] Ich schlern VHN 4 | 2022 280 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG diese Vokabeln irgendwie ne Woche und krieg es trotzdem nicht besser hin wie eine vier oder eine fünf.“ (I05, Pos. 154 - 158) Eine Übersicht zu den Kategorien und der Häufigkeit der Nennungen sind Tabelle 2 zu entnehmen. Der von den Jugendlichen benannte sprachliche Förderbedarf spiegelt sich in den Schulfächern wider. Hier zeigen sich die sprachlichen Schwierigkeiten bei der überwiegenden Mehrheit insbesondere in der Fremdsprache, lediglich zwei SuS nehmen kein klares Ranking vor. Die genannten Schwierigkeiten manifestieren sich dabei in unterschiedlicher Weise. Zwei SuS weisen auf die Unterschiede in der Schreibweise hin, die sich von der im Deutschen eher alphabetisch orientierten Verschriftung unterscheidet: „In Englisch liegt es beim Schreiben, weil bei uns im Deutschen wird ja eigentlich viele Wörter noch so geschrieben, wie man spricht und beim Englischen einfach nicht.“ (I01, Pos. 203 - 206). Zwei SuS bereitet die andere Aussprache Probleme und zwei weitere haben deutliche Verständnis- und damit auch Schwierigkeiten im Ausdruck. Interviewer: Warum ist Englisch so schwer? Antwort: „Keine Ahnung. Ich versteh wenig, ich … also die Grammatik ist zwar leicht, das ist ja nicht wie im Deutschen mit die, der, das und der und so. Aber jetzt Aufgaben zu machen schriftlich fällt mir schon schwer.“ (I08, Pos. 25 - 28). 4.2 Unterrichtliche Beteiligung Da sich die oben genannten Probleme in Mündlichkeit und Schriftlichkeit erfahrungsgemäß auch in der unterrichtlichen Beteiligung bzw. beim Einbringen in Gruppenarbeitsprozesse bemerkbar machen, wurden die Jugendlichen auch gezielt hier nach ihren Präferenzen befragt (vgl. Tabelle 3). Vier Jugendliche und damit 28 % lehnen mündliche bzw. schriftliche Beteiligung deutlich ab, wenn sie Alternativen haben, z. B. Gestaltung von Plakaten. Drei SuS würden sie abhängig machen von der Art der Aufgabenstellung. Die übrigen wählen je nach eigenen Vorlieben, die viel von noch vorhandenen Beeinträchtigungen abhängen, die schriftliche oder mündliche Beteiligung im unterrichtlichen Kontext. Insgesamt wird deutlich, dass bei den meisten eine Abneigung vorliegt, vor Gruppen zu sprechen, die bei einzelnen in deutlichem Vermeidungsverhalten sichtbar wird: „… bei manchen [Fächern, M. S.] bin ich halt nur Deko im Raum“ (I11, Pos. 542 - 543). Alle haben eine klare Vorstellung von ihren Stärken und Schwächen, setzen diese gezielt ein bzw. meiden sie und können sehr genau verbalisieren, was ihnen trotz dieser Schwierigkeiten helfen würde: „Du kannst deine zwei drei Minuten haben, um nachzudenken, um durchzuatmen Kategorie Interviewnummer N (in Prozent) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Rechtschreibung × × × × × × × × × × 10 (70 %) Lesen × × × 3 (21 %) Wortschatz/ -abruf × × × 3 (21 %) Sprechen/ Aussprache × × × × × × × 7 (43 %) Grammatik × × × × × 5 (36 %) Gedächtnis × × × 3 (21 %) Tab. 2 Kategorien sprachlicher Beeinträchtigung am Ende der Schulzeit VHN 4 | 2022 281 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG und vorzukommen und bei uns selbst bei Präsentation da wär wirddu kannst den Lehrer fragen und er wird dir helfen so gut es nur geht.“ (I01, Pos. 545 - 549). 4.3 Unterstützungsmaßnahmen im Laufe der Schulzeit Bei der Einschätzung der Unterstützung durch die Lehrkräfte werden Aspekte genannt, die eher positiv unterstützend erlebt bzw. durch ausbleibende Unterstützung eher negativ erlebt werden. Über die Schulzeit hinweg und die Wechsel von Lehrkräften, aber vor allem von Schulen und Beschulungsformen (inklusiv oder SBBZ) werden deutliche Unterschiede berichtet, die sich in der Gesamtbetrachtung durch die Jugendlichen als ambivalent darstellen können. Auf die Einschätzung zur gesamten Schulzeit beziehen sich die Angaben in Tabelle 4. Als positiv wird vor allem ein Grundverständnis der Lehrkräfte für die Sprachbeeinträchtigung und die damit einhergehenden Nachteile erlebt, das sich außer in unterrichtlichen Anpassungen (u. a. mehr Zeit zur Wiederholung und zum Nachfragen) zeigt: „Ich kann die Lehrer viel einfacher fragen, was sie damit meinen oder sie versuchen es halt uns zu sagen. Das hilft mir ziemlich sehr und wenn ich dann mal wirklich was nicht versteh, ist - bleibt der Lehrer da, versucht zu stehen zu bleiben bei diesem Punkt, wo ich nicht verstehe und versuchte es dann mir zu erklären damit ich es verstehe.“ (I01, Pos. 294 - 304). Vor allem aber wird emotionale Unterstützung sichtbar, die sehr zum Wohlbefinden beiträgt und ermutigt: „Also ich bin gerade gern in der Schule, weil ich mich da sicher fühle in der Klasse und mit der Lehrerin. Die weiß, was meine Probleme sind in den Fächern und so und dann kann sie mir auch sofort helfen. Das war nicht immer der Fall und deswegen gegehe ich gerade gern in die Schule.“ (I10, Pos. 218 - 226); „Bei mir ist es ja anders, wie bei anderen. Dass man halt - bzw. bei mir ein bisschen drauf achtet, weil ich merk’ das schon, wie die Lehrer zu mir sind und zu den anderen sind. Dass sie da schon anders sind, und das finde ich auch gut so, und das würde ich auch so gern beibehalten, dass sie halt - also dass sie halt […] Verständnis für die - für die Geschichte haben, so.“ (I04, Pos. 173 - 181). Die von den Jugendlichen beschriebenen Nachteilsausgleiche beziehen sich fast alle auf die Rechtschreibung. Hier werden unterschiedliche adaptierte Bewertungsmaßnahmen genannt sowie Zeitverlängerungen in Klassenarbeiten, die fast durchgängig positiv konnotiert sind. Schwierig ist es, wenn die Problematik in den Regelschulen keinerlei Berücksichtigung findet: „Also wir haben angegeben, dass ich Rechtschreibschwäche habe und Leseschwäche und Kurzzeitgedächtnis und so. Aber da ist jetzt nix an den Lehrern, dass sie da irgendwie darauf achten oder so.“ (I11, Pos. 72 - 77). Allerdings sind die Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs immer individuell im Rahmen von Klassenkonferenzen zu beschließen und den Lehrkräften in den Regelschulen oft nicht bekannt bzw. transparent: „Also mein Deutsch- Kategorie Interviewnummer N (in Prozent) mündlich 01, 08, 09, 12 4 (29 %) schriftlich 02, 13, 10 3 (21 %) mündlich/ schriftlich - je nach Kontext 03, 07, 11 3 (21 %) Alternativen 04, 05, 06, 14 4 (29 %) Tab. 3 Präferenz unterrichtlicher Beteiligung VHN 4 | 2022 282 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG lehrer, der blickt das meistens gar nicht, welchen Ausgleich ich krieg, welchen nicht. Und das Problem ist halt, dass es irgendwie niemand blickt.“ (I05, Pos. 117 - 118). Bezogen auf die Rahmenbedingungen, in denen Unterricht und Förderung stattfinden, heben die Jugendlichen mehrere Aspekte als hilfreich bzw. hinderlich für ihr Lernen hervor. Bezogen auf die Schulform profitieren die Betroffenen wenig von offenen Lernformen. Diese finden sich z. B. in Gemeinschaftsschulen, die stark auf individuelles Lernen setzen oder auch in Waldorfschulen, in denen die Kinder ihren Lernprozess selbst steuern: „In der Waldorfschule ist es ja so, dass es sehr viel selber arbeiten musst und sehr viel zuhören musst lange Zeit und dann selber ein Text danach verfassen und schreiben. Das hat mir - ist mir einfach schwergefallen und deswegen, also ich hatte ja gar keine Bücher oder irgendwie so, wo ich nachgucken könnte. Und jetzt auf der Schule habe ich Bücher und hab meine Aufgaben und die Aufgaben sind erklärt dort. Deswegen ist das für mich einfacher.“ (I11, Pos. 51 - 64). Strukturierung und Ritualisierung, d. h. das Lernen nach gleichbleibenden, verlässlichen Schemata, helfen in der Regel, Inhalte besser aufzunehmen und abzuspeichern. Ein weiterer Aspekt, der von fünf Jugendlichen positiv hervorgehoben wird, sind kleine Lerngruppen: „… weil wir nur so ungefähr acht Klaäh acht Schüler in der Klassen warn also weniger Schüler und da konnte ich mich auch besser konzentrieren“ (I08, Pos. 80 - 81). Ebenso werden Angebote zusätzlich zum Unterricht als positiv bewertet: „Ja, die halt auch, die machen … helfen auch den Schülern. Wenn sie extreme Probleme haben, sagen sie, du kannst nachmittags in der Schule bleiben, dann helfe ich denen extra und in vielen Grundschulen gucken die Lehrer einfach nur über die Menge.“ (I03, Pos. 736 - 742). Dasselbe gilt für ‚Pull-out-Angebote‘, die parallel zu wechselnden Fächern stattfinden, sodass möglichst wenig Unterrichtsstoff verpasst wird: „Als ich in der ungefähr dritten Klasse war hatte ich LRS und der hat mich dann immer aus wie Fächern wie Mathe und so Sachen rausgenommen. […] natürlich hab’ ich mich dazu in Deutsch verbessert aber zugleich in Mathe verschlechtert, weil ich bei Mathe nicht dabei war.“ (I01, Pos. 347 - 353); „Aber ich würde halt gucken, damit er [=fiktiver Schüler, M. S.] auch diese Fächer noch gut mitbekommt, was davon lernt. Dass er nicht vollkommen aus diesem Fach verstoßen wird, sag ich jetzt mal oder fällt.“ (I01, Pos. 454 - 459). Einzelne Jugendliche ergänzen, dass die (potenziellen) Reaktionen der Klassenkameradinnen und -kameraden auf Unterstützung der Lehrkräfte insbesondere in inklusiven Kontexten die Einstellung zu diesen Maßnahmen beeinflussen. So skizziert eine Jugendliche, dass sie Nachfragen im Regelschulkontext nicht direkt, sondern später in der Pause stellt, „…weil vielleicht manche - wenn ich denke, meine Mitschüler lachen mich dann hinterhältig aus“ (I06, Pos. 129 - 130). Kategorie Lehrkräfte Rahmenbedingungen Nachteilsausgleich (sehr) positiv erlebt 01, 03, 04, 07, 08, 12, 13, 14 01, 02, 03, 04, 05, 07, 08 04, 05, 11, 13, 14 ambivalent erlebt 05, 06, 10, 11 06, 11, 14 eher negativ erlebt keine Angabe/ nicht zutreffend 02, 09 09, 10, 12, 13 01, 02, 03, 06, 07, 08, 09, 10, 12 Tab. 4 Einschätzung der erlebten Unterstützung VHN 4 | 2022 283 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG 4.4 Notwendige Unterstützung im Rahmen der Berufsausbildung Die befragten Jugendlichen schätzten ihre aktuellen Unterstützungsbedarfe so ein, dass die Hälfte keiner spezifischen Unterstützung im Rahmen der anstehenden Berufsausbildung mehr bedarf (vgl. Tabelle 5). Sie argumentieren: „Ja, weil jetzt auf die ganz normalen Schule funktioniert das ja auch schon gut.“ (I08, Pos. 186); „Also Deutsch krieg ich hin. Also da muss ich mich halt mehr anstrengen - aber sonst geht alles okay.“ (I03, Pos. 407 - 409). Sie ergänzen diese Einschätzung aber teilweise durch den Hinweis, dass sie bezüglich der Wahl des Berufs entsprechende Überlegungen zu möglichen Schwierigkeiten bereits einbezogen haben. „Weil ich weiß, dass ich nicht Schriftnicht in Büro oder irgendwas Schriftliches machen möchte - weil ich weiß, dass ich es nicht kann.“ (I05, Pos. 260 - 261). Fast genauso viele Jugendliche benennen eine weiterhin notwendige oder zumindest wünschenswerte Unterstützung im Rahmen der Ausbildung. Sie formulieren dazu: „Es wäre toll, wenn ich Unterstützung noch bekomm’, aber man muss sie mir nicht unbedingt geben. Ich würd’ sagen, ich würde es auch schaffen.“ (I01, Pos. 956 - 960). „Wenn ich merk’, es geht nicht und ich brauche Hilfe, dann würde ich schon fragen, ob man da irgendwas machen kann.“ (I06, Pos. 328 - 329). Die Unterstützung bezieht sich dabei vorwiegend auf den Bereich der schriftsprachlichen Kompetenzen: „Beim Lesen bin ich ja wie gesagt - kriege ich auch schon hin, aber da bin ich jetzt nicht so: ‚Ja, ich krieg das hundert Prozent hin.‘“ (I04, Pos. 494 - 495) und auf die Fremdsprache: „Aber in Englisch, da ist, da ist es vorbei. Da kriege ich vielleicht einen Satz hin. Aber der ist auch äh nicht richtig geschrieben und die Wörter.“ (I11, Pos. 685 - 689). 5 Diskussion Die vorliegende Interviewstudie macht deutlich, dass sich bei Jugendlichen mit (ehemaligen) SES am Ende der Schulzeit Schwierigkeiten vor allem noch im Bereich der Schriftsprache (Rechtschreibung, Texte verfassen, sinnentnehmendes Lesen) zeigen. Obwohl das Angebot an schulischer Unterstützung im Sekundarbereich für diese Zielgruppe deutlich reduziert ist, beschreiben die Jugendlichen sowohl additive als auch im Unterricht integrierte Unterstützungsmaßnahmen im Laufe ihrer Schulzeit als hilfreich. Mit Blick auf die erste Fragestellung zum Förderbedarf am Ende der Schulzeit finden sich Unterschiede in den individuellen Entwicklungsprofilen, die von Eltern, Freunden, Rahmenbedingungen der Beschulung, außerschulischen Unterstützungsmaßnahmen u. v. m. beeinflusst werden, sodass auch eine ungünstige sprachliche Lernausgangslage zu Schulbeginn durchaus zu einer positiven Lern- und damit Schulentwicklung führen kann. Gemeinsam ist in allen Fällen eine insgesamt positive sprachliche Entwicklung, v. a. im Bereich der mündlichen Sprache, während bei den meisten SuS im schriftlichen Bereich Probleme bis zum Schulabschluss bestehen bleiben. Kategorie Interviewnummer N (in Prozent) Unterstützung notwendig 05, 11 2 (14 %) Unterstützung wünschenswert 01, 04, 06, 07 4 (29 %) Keine Unterstützung notwendig 02, 03, 08, 09, 10, 13, 14 7 (50 %) Keine Angabe/ nicht zuzuordnen 12 1 (7 %) Tab. 5 Aussagen zur potenziellen Unterstützung im Rahmen der Berufsausbildung VHN 4 | 2022 284 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Hier ist bei den Jugendlichen besonders die Rechtschreibung im Fokus, die teilweise zu für die Betroffenen selbst unleserlichen Texten führt. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der Studien von Romonath (2003) und Kolonko und Seglias (2004) im deutschsprachigen Raum. Die Jugendlichen sehen hier sowie im Bereich der Fremdsprachen auch im Mündlichen (vgl. Dannenbauer, 2003) teilweise noch Unterstützungsbedarf am Ende der Schulzeit. Es gibt deutliche Hinweise auf eingeschränkte Gedächtniskapazitäten, mit denen die Betroffenen zu kämpfen haben und die das Lernen nachhaltig erschweren. Auch dies bestätigt vorliegende Daten zu Kindern und Jugendlichen mit SES (Baird, Dworzynski, Slonims & Simonoff, 2010). Auch wenn einige der Jugendlichen mündliche Beteiligung im Unterricht meiden und auf alternative Beteiligungsformen zurückgreifen, werden soziale Ängste, die die soziale Interaktion negativ beeinflussen würden, nur vereinzelt berichtet (vgl. Brownlie et al., 2016). Dies ist vorwiegend dann der Fall, wenn die SuS befürchten, sich vor anderen lächerlich zu machen. Erfreulich ist die sozial-emotionale Entwicklung, die im Gegensatz zu anderen Forschungsergebnissen (van den Bedem et al., 2018) kaum soziale Ängste oder kommunikatives Vermeidungsverhalten erkennen lässt. Die Ursache hierfür ist nach den Interviews allerdings nicht darin zu sehen, dass Nichtverstehen normal ist und nicht bemerkt wird (Kolonko & Seglias, 2004), sondern beruht auf im Laufe der Schulzeit entwickelten Strategien (insbesondere bei längerem Verbleib im SBBZ), mit den eigenen Einschränkungen auch selbstbewusst umzugehen. Mit Blick auf die zweite Fragestellung lassen sich die Kommentare der Jugendlichen strukturellen Rahmenbedingungen, dem pädagogischen Engagement der Lehrkräfte und der Unterrichtsgestaltung zuordnen. Als ungünstige strukturelle Rahmenbedingungen wurden große Klassen, häufige Lehrerwechsel und das Fachlehrerprinzip genannt. Als unterstützend wurden kleinere Klassen, zeitweise zusätzliche Förderangebote sowie Nachteilsausgleich aufgeführt. Das pädagogische Engagement von Lehrkräften wird als unterschiedlich wahrgenommen. Beklagt wird das Unterlassen von Unterstützung wegen Nicht-Kenntnis oder Ignoranz von Problemlagen. Dies bemängeln auch die von Carroll und Dockrell (2012) interviewten Jugendlichen beim Übergang in den Beruf. Hingegen erleben die SuS es als stark unterstützend, wenn Lehrkräfte Kenntnis von und damit Verständnis für die sprachlichen Beeinträchtigungen haben, wenn sie von den SuS auch über den Unterricht hinaus als ansprechbar erlebt werden und wenn es ihnen gelingt, ein entwicklungsförderliches Klassenklima zu gestalten, in dem SuS sich mit ihren Schwächen und Stärken gut wahrgenommen fühlen. Bezüge zur internationalen Forschung können hier kaum hergestellt werden, da dort die Unterstützung in ‚Mainstreamschools‘ additiv durch TA, vergleichbar der Schulbegleitung in Deutschland, oder SLT erfolgt (Palikara et al., 2009). Die Unterscheidung von inklusiven und separativen Beschulungserfahrungen kann hier nicht in einem quantitativ-repräsentativen Sinne vorgenommen werden. Dennoch zeigen sich in den Antworten der Jugendlichen deutliche Vor- und Nachteile beider Angebotsformen. Während die vorstehenden Schilderungen günstiger Aspekte struktureller Rahmenbedingungen, des pädagogischen Engagements und vor allem der Unterrichtsgestaltung ausnahmslos dem separativen Setting SBBZ zuzuordnen sind, liegen ungünstige strukturelle Rahmenbedingungen für das SBBZ (Schulwechsel, erschwerte nachbarschaftliche Sozialkontakte) und auch für die Regelschule vor (große Klassen, Fachlehrer ohne pädagogischen Bezug zu SuS). In der Regelschule wurden vermehrt die erwartete Empathie und das Fachwissen zur sprachlichen Problemlage sowie die notwendige Unterstützung vermisst. VHN 4 | 2022 285 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Bei der Beantwortung der dritten Fragestellung zum Unterstützungsbedarf in der beruflichen Bildung äußern sich die Jugendlichen mehrheitlich selbstbewusst und optimistisch. Einzelne befürworten besondere Unterstützungsmaßnahmen auch in der beruflichen Bildung, mehrheitlich äußern sie jedoch, dass sie es trotz teilweise noch bestehender Unterstützungsbedarfe schon schaffen werden, was sicher auch vor dem Hintergrund des gewählten, dem Fähigkeitsprofil der Jugendlichen meist angemessenen Berufswunsches zu interpretieren ist (vgl. Carroll & Dockrell, 2012). Das Gefühl, mehrheitlich trotz der (früheren) SES gut auf zukünftige Anforderungen vorbereitet zu sein, kommt im abschließenden Interviewzitat einer Jugendlichen sehr gut zum Ausdruck: „Aber halt ab dem Moment, wo es irgendwie ins Schreiben geht mit, keine Ahnung, Texten, ist es schon so, dass ich mir eher so denke: nee muss nicht sein. […] aber ich weiß gut, wie ich für Fächer lerne und wie ich das hinbekomme und manage.“ (I05). Die Ergebnisse der hier vorgestellten Studie sind grundsätzlich vor dem Hintergrund der Bereitschaft zur Teilnahme an einem Interview zu werten. Aus der Menge der Fragebogen- Responder sind nach theoretischen Kriterien (Vielfalt der Bildungswege, Heterogenität der Lernausgangslage bei gegebenem SFS) die potenziell Teilnehmenden ausgewählt worden. Dennoch ist durch die Stichprobengewinnung ein deutlicher Bias Richtung persistierender Problemlagen anzunehmen, was mit Blick auf die Erfassung der Vielfalt der Phänomene günstig ist, mit Blick auf die Repräsentativität in Häufigkeit und Ausprägung jedoch zu einer Überschätzung führt. So zeigen die Interviews, dass die Methode gut geeignet ist, die Hintergründe zu den verschiedenen Einschätzungen in den Fragebögen zu ermitteln und mögliche Verständnisschwierigkeiten während der Befragung aufzufangen. Allerdings wurde bei vielen Interviews auch deutlich, dass diese Methode bei SuS mit sprachlichen Beeinträchtigungen Grenzen hat. So erfolgten nicht selten auch auf offene Fragen einfache Antworten, die durch mehrfaches Nachfragen ergänzt werden mussten. Für das Lernumfeld in der Schule weisen die Ergebnisse auf die hohe Bedeutung der Unterrichtsgestaltung hin, die dann als unterstützend erlebt wurde, wenn sie klar strukturiert und unter Einbeziehung von ritualisierten Abläufen erfolgte, wenn mit angemessenen Medien und Hilfen Sprach- und Textverständnis unterstützt wurden und genügend Zeit und Offenheit für Nachfragen und mehrfaches Erklären gegeben waren. Damit treffen die in Untersuchungen zur Unterrichtsqualität bei Grundschulkindern mit SFS gewonnenen Qualitätsmerkmale sprachheilpädagogischen Unterrichts als Prinzipien auch auf die Anforderungen des Unterrichts in der Sekundarstufe zu (vgl. Theisel, 2014). Lehrkräfte können SuS mit Förderschwerpunkt Sprache in allen Schulformen dadurch unterstützen, dass sie sich mit ihren sprachlichen Lernvoraussetzungen vertraut machen, Verständnis dafür entwickeln und diese im Unterrichtsprozess berücksichtigen. Hierbei ist insbesondere stetige Ermutigung zum Nachfragen bei Nichtverstehen und zu mündlicher Beteiligung sowie emotionale Stärkung und Unterstützung durch positives Feedback auch bei weniger gelungenen schriftlichen oder mündlichen Beiträgen hilfreich. Anmerkung 1 Kinder mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung - eine prospektive Längsschnittstudie bei unterschiedlichen Bildungsangeboten. Verbundprojekt Universität Leipzig (Prof. Glück), Pädagogische Hochschule Heidelberg (Prof. Janke), gefördert vom BMBF FKZ 01JC1102 A und B 2011 -2014. VHN 4 | 2022 286 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Literatur Baird, G., Dworzynski, K., Slonims, V. & Simonoff, E. (2010). Memory impairment in children with language impairment. Developmental Medicine & Child Neurology, 52 (6), 535 -540. https: / / doi. org/ 10.1111/ j.1469-8749.2009.03494.x Brownlie, E. B., Bao, L. & Beitchman, J. (2016). Childhood language disorder and social anxiety in early adulthood. Journal of Abnorm Child Psychology, 44, 1061 -1070. https: / / doi.org/ 10.10 07/ s10802-015-0097-5 Bundschuh, K. & Winkler, C. (2019). Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. München: Reinhardt. Carroll, C. & Dockrell, J. (2012). Enablers and challenges of post-16 education and employment outcomes. The perspectives of young adults with a history of SLI. International Journal of Language & Communication Disorders, 47 (5), 567 -577. https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1460-6984. 2012.00166.x Conti-Ramsden, G., Botting, N., Simkin, Z. & Knox, E. (2001). Follow-up of children attending infant language units: Outcomes at 11 years of age. International Journal of Language & Communication Disorders, 36 (2), 207 -219. https: / / doi. org/ 10.1080/ 13682820121213 Conti-Ramsden, G., Durkin, K., Toseeb, U., Botting, N. & Pickles, A. (2018). Education and employment outcomes of young adults with a history of developmental language disorder. International Journal of Language & Communication Disorders, 53 (2), 273 -255. https: / / doi.org/ 10. 1111/ 1460-6984.12338 Dannenbauer F. M. (2003). Grundlagen der Sprachtherapie bei spezifischer Sprachentwicklungsstörung. In M. Grohnfeldt (Hrsg), Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Band 4. Beratung, Therapie und Rehabilitation. Stuttgart: Kohlhammer. Forrest, C., Gibson, J. L., Halligan, S. & St Clair, M. (2018). A longitudinal analysis of early language difficulty and peer problems on later emotional difficulties in adolescence: Evidence from the Millennium Cohort Study. Autism & Developmental Language Impairments, 3, 1 -15. https: / / doi.org/ 10.1177/ 2396941518795392 Forschungsgruppe Ki.SSES-Proluba (2014). Die Ki.SSES-Proluba Längsschnittstudie: Entwicklungsstand zur Einschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf „Sprache“ bei separierender und integrativer Beschulung. In S. Sallat, M. Spreer & C. W. Glück (Hrsg.), Sprache professionell fördern. Kompetent, vernetzt, innovativ, 402 -415. Idstein: Schulz-Kirchner. Glück, C. W. & Theisel, A. (2014). Allgemeiner Überblick zum System der sonderpädagogischen Förder- und Bildungsangebote für sprachbeeinträchtigte Kinder in Deutschland. In M. Grohnfeldt (Hrsg.), Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie, 367 -374. Stuttgart: Kohlhammer. Glück, C. W., Spreer, M. & Theisel, A. K. (2022). Bildungswege von Schüler/ innen mit sprachlichem Unterstützungsbedarf im Rückblick (Forschungsbericht). Retrieved from Forschungsgruppe Ki.SSES-WEGE website: www.ki-sses.de/ publika tionen. https: / / doi.org/ 10.13140/ RG.2.2.27008. 30727 Grimm, H., Aktas, M. & Frevert, S. (2010). SETK 3 -5: Sprachentwicklungstest für dreibis fünfjährige Kinder. Göttingen: Hogrefe. Grohnfeldt, M. (2003). Die Sprachheilschule vor neuen Herausforderungen. Zum 50-jährigen Bestehen der Sprachheilschule Dresden. Die Sprachheilarbeit, 48 (3), 105 -113. Haid, A. & Isele, E. (2012). Lebenslage, Lebenszufriedenheit und beruflicher Erfolg ehemaliger Schülerinnen und Schüler der Sprachheilschule St. Gallen. Sprachheilarbeit, 57 (4), 201 -207. Hollenweger, J. & Kraus de Camargo, O. A. (Hrsg.) (2017). Die ICF-CY in der Praxis. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. 2. korrigierte Auflage. Bern: Hogrefe. Kempe, S. (2010). Logopädisches Angebot an integrativen Schulen. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 16 (7 -8), 6 -12. Kilpatrick, T., Leit-o, S. & Boyes, M. (2019). Mental health in adolescents with a history of developmental language disorder: The moderating effect of bullying victimisation. Autism & Developmental Language Impairments, 4 (1), 1 -12. https: / / doi.org/ 10.1177/ 2396941519893313 KMK - Kultusministerkonferenz (2011). Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Abgerufen am 3. 3. 2022 von https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_ beschluesse/ 2011/ 2011_10_20-Inklusive-Bil dung.pdf VHN 4 | 2022 287 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Kolonko, B. (2010). Spracherwerbsstörungen und literale Kompetenzen bei Jugendlichen. SAL- Bulletin Nr. 137. Abgerufen am 3. 3. 2022 von https: / / docplayer.org/ 23089326-Spracher werbsstoerungen-und-literale-kompetenzenbei-jugendlichen.html Kolonko, B. & Seglias, T. (2004). Ältere Kinder und Jugendliche mit Spracherwerbsstörungen. Ein Kooperationsprojekt der Hochschule für Heilpädagogik Zürich und dem Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich. Projektphase 1: Februar 2003 bis April 2004. Zürich: HfH. Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 4. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa Lautenschläger, T., Sachse, S., Buschmann, A. & Bockmann, A.-K. (2020). Folgeprobleme und begleitende Auffälligkeiten bei Sprachentwicklungsstörungen. In S. Sachse, A.-K. Bockmann & A. Buschmann (Hrsg.), Sprachentwicklung, 253 - 280. Heidelberg: Springer. Lewis, A., Parsons, S. & Robertson, C. (2007). My school, my family, my life: Telling it like it is. A study detailing the experiences of disabled children, voung people and their families in Great Britain in 2006. Birmingham: University of Birmingham, School of Education. Lüke, T. & Ritterfeld, U. (2011). Elterliche Schulzufriedenheit in integrativer und segregativer Beschulung sprachauffälliger Kinder. Ein Vergleich zwischen Förderschule und Gemeinsamem Unterricht. Empirische Sonderpädagogik, 3 (4), 324-342. https: / / doi.org/ 10.25656/ 01: 9331 Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim: Beltz. Melchers, P. & Preuß, U. (1991/ 2006). Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC). Deutschsprachige Fassung. Frankfurt am Main: Pearson Assessment. Owen, R., Hayett, L. & Roulstone, S. (2004). Children’s views of speech and language therapy in school. Consulting children with communication difficulties. Child Language Teaching and Therapy, 20 (1), 55 -73. https: / / doi.org/ 10.1191/ 0265659 004ct263oa Palikara, O., Lindsay, G. & Dockrell, J. E. (2009). Voices of young people with a history of specific language impairment (SLI) in the first year of post-16 education. International Journal of Language & Communication Disorders, 44 (1), 56 -78. https: / / doi.org/ 10.1080/ 13682820801 949032 Petermann, U. & Petermann, F. (2006). Diagnostik sonderpädagogischen Förderbedarfs. Göttingen: Hogrefe. Rauer, W. & Schuck, K. D. (2003). FEESS 3 -4. Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern dritter und vierter Klassen. Weinheim: Beltz. Rauer, W. & Schuck, K. D. (2004). FEESS 1 -2. Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern erster und zweiter Klassen. Weinheim: Beltz. Ritterfeld, U., Lüke, T., Dürkoop, A.-L. & Subellok, K. (2011). Schulentscheidungsprozesse und Schulzufriedenheit in Familien mit einem sprachauffälligen Kind. Die Sprachheilarbeit, 56 (2), 66 -77. Romonath, R. (2003). Sprachentwicklungsstörungen im Jugendalter - Empirische Befunde und deren theoretische und praktische Einordnung. In M. Grohnfeldt (Hrsg.), Spezifische Sprachentwicklungsstörungen, 100 -123. Würzburg: edition von freisleben. Roulstone, S., Harding, S. & Morgan, L. (2016). Exploring the involvement of children and young people with speech, language and communication needs and their families in decision making - A research project. Abgerufen am 4. 3. 2022 von https: / / ican.org.uk/ i-cans-talkingpoint/ professionals/ tct-resources/ more-resour ces/ exploring-involvement/ Sallat, S. & Spreer, M. (2011). Exklusive Förderung ermöglicht Teilhabe. Bildungs- und Berufsbiographien ehemaliger Schüler der Sprachheilschulen. Die Sprachheilarbeit, 56 (2), 78 -86. Sallat, S. & Spreer, M. (2014). Katamnestische Erhebungen zu ehemaligen Schülern von Sprachheilschulen. In M. Grohnfeldt (Hrsg.), Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie, 374 -378. Stuttgart: Kohlhammer. Sallat, S. & Spreer, M. (2015). Bildungs- und Berufsbiografien bei Menschen mit sprachlichen Beeinträchtigungen. In A. Leonhardt, K. Müller & T. Truckenbrodt (Hrsg.), Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung, 554-562. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Theisel, A. (2014). Ein Faktorenmodell zu QualitätsmerkmalendesUnterrichtsmitsprachbeeinträchtigten Kindern. Forschung Sprache, 2 (2), 36 -57. Theisel, A. (2017). Bildungsbiografien ehemaliger Schüler sonderpädagogischer Bildungs- und Beratungszentren mit dem Förderschwerpunkt Sprache in Baden-Württemberg. Praxis Sprache, 62 (4), 194 -201. VHN 4 | 2022 288 ANJA THEISEL, MARKUS SPREER, CHRISTIAN W. GLÜCK Jugendliche mit Sprachentwicklungsstörungen kommen zu Wort FACH B E ITR AG Theisel, A., Glück, C. W. & Spreer, M. (2018). Bildungswege und Schulleistungen sprachbeeinträchtigter Kinder im Verlaufe der Grundschulzeit. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 87 (2), 126-138. https: / / doi. org/ 10.2378/ vhn2018.art14d Theisel, A., Spreer, M. & Glück, C. W. (2021). Bildungswege von Schüler*innen mit sprachlichem Unterstützungsbedarf vom Schulbeginn bis zum Schulabschluss. Forschung Sprache, 9 (2), 118 -131. Thielebein, A. S. (2015). Bildungsverläufe von sprachbehinderten Schülerinnen und Schülern. Exemplarisch dargestellt an der ehemaligen Schülerschaft der „Sprachheilschule Halle“. Dissertation. Halle, Saale: Martin-Luther-Universität. UN - United Nations (2008). Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Abgerufen am 3. 3. 2022 von https: / / www.behindertenbeauftragter.de/ Sha redDocs/ Downloads/ DE/ AS/ Publikationen Erklaerungen/ Broschuere_UNKonvention_KK. pdf? __blob=publicationFile&v=7 van den Bedem, N. P., Dockrell, J. E., van Alphen, P. M., Kalicharan, S. V. & Rieffe, C. (2018). Victimization, bullying, and emotional competence: Longitudinal associations in (pre)adolescents with and without developmental language disorder. Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 61 (8), 2028 -2044. https: / / doi.org/ 10. 1044/ 2018_JSLHR-L-17-0429 Zuckrigl, A. & Mahel, P. (1986). Eine weitere katamnestische Erhebung bei ehemaligen Schülern einer Schule für Sprachbehinderte. Sprachheilarbeit, 31 (1), 39 -42. Anschriften der Autorin und der Autoren Dr. Anja Theisel Seminar für Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte Quinckestr. 69 D-69120 Heidelberg E-Mail: anja.theisel@seminar-heidelberg.de Prof. Dr. Markus Spreer Humboldt-Universität Berlin Institut für Rehabilitationswissenschaften Unter den Linden 6 D-10099 Berlin E-Mail: markus.spreer@hu-berlin.de Prof. Dr. Christian W. Glück Universität Leipzig Institut für Förderpädagogik Marschnerstr. 29 e D-04109 Leipzig E-Mail: christian.glueck@uni-leipzig.de - Anzeige -