Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2022.art06d
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Trend: Sprachentwicklungsstörungen - ein Thema nur für den Förderschwerpunkt Sprache?
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Anja Starke
Carina Lüke
Sprachentwicklungsstörungen (SES) gehören zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter. Sie sind charakterisiert durch bedeutsame und länger andauernde Abweichungen von einer typischen Sprachentwicklung, die sich negativ auf die soziale Teilhabe und/oder den Bildungserfolg auswirken können. Sie treten bei etwa 10 Prozent der Kinder einer Altersgruppe auf (Norbury et al., 2016). Bei einem kleineren Anteil von diesen Kindern ist die SES in Assoziation mit einer anderen, mitverursachenden Beeinträchtigung (z.?B. einem genetischen Syndrom) zu sehen. Bei der Mehrheit treten die sprachlichen Erwerbsschwierigkeiten jedoch unabhängig von einer solchen Beeinträchtigung auf. Traditionell wird diese Formen der SES als „spezifische“ oder „umschriebene“ SES (SSES bzw. USES) bezeichnet. Mit den Begriffen „spezifisch“ und „umschrieben“ soll betont werden, dass die Probleme der Kinder auf einen Entwicklungsbereich - hier also Sprache - begrenzt sind.
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68 68 VHN, 91. Jg., S. 68 -70 (2022) DOI 10.2378/ vhn2022.art06d © Ernst Reinhardt Verlag < RUBRIK > < RUBRIK > Sprachentwicklungsstörungen - ein Thema nur für den Förderschwerpunkt Sprache? Anja Starke Universität Bremen Carina Lüke Julius-Maximilians-Universität Würzburg TRE ND TH EME NSTR ANG Bildung und Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen (SES) gehören zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter. Sie sind charakterisiert durch bedeutsame und länger andauernde Abweichungen von einer typischen Sprachentwicklung, die sich negativ auf die soziale Teilhabe und/ oder den Bildungserfolg auswirken können. Sie treten bei etwa 10 Prozent der Kinder einer Altersgruppe auf (Norbury et al., 2016). Bei einem kleineren Anteil von diesen Kindern ist die SES in Assoziation mit einer anderen, mitverursachenden Beeinträchtigung (z. B. einem genetischen Syndrom) zu sehen. Bei der Mehrheit treten die sprachlichen Erwerbsschwierigkeiten jedoch unabhängig von einer solchen Beeinträchtigung auf. Traditionell wird diese Formen der SES als „spezifische“ oder „umschriebene“ SES (SSES bzw. USES) bezeichnet. Mit den Begriffen „spezifisch“ und „umschrieben“ soll betont werden, dass die Probleme der Kinder auf einen Entwicklungsbereich - hier also Sprache - begrenzt sind. Eine Vielzahl an empirischen Untersuchungen zeigt jedoch seit Jahrzehnten, dass dies nicht der Fall ist und Kinder mit einer SES häufig auch in anderen Entwicklungsbereichen Verzögerungen aufweisen. So sind etwa leichte kognitive Minderleistungen im Vergleich zu typisch entwickelten Kindern festzustellen (Norbury et al., 2016; Plym, Lahti-Nuuttila, Smolander, Arkkila & Laasonen, 2021). Innerhalb der sozial-emotionalen Entwicklung können bereits im Kleinkindalter Unterschiede in Fähigkeiten zur Selbstregulation ausgemacht werden (Aro, Laakso, Määttä, Tolvanen & Poikkeus, 2014). Zudem fanden Bahn, Vesker, Schwarzer und Kauschke (2021) Hinweise darauf, dass Kinder mit SES grundlegende Schwierigkeiten in der Verarbeitung von Emotionen haben, die nicht auf die reine Verarbeitung sprachlicher Hinweisreize zurückzuführen sind. Astle und Fletcher- Watson (2020) argumentieren darüber hinaus, dass innerhalb der Forschung eine zu starke Fokussierung auf einzelne Bereiche existiert, die der Komplexität von Entwicklung nicht gerecht wird. Studien sind häufig so angelegt, dass nur ein Entwicklungsbereich betrachtet wird, sodass Einflussfaktoren auf anderen Entwicklungsebenen unbeachtet bleiben. Die Spezifik bzw. Umschriebenheit von Entwicklungsstörungen sollte demnach infrage gestellt werden. Wenngleich sich in der Praxis im deutschsprachigen Raum die Begriffe der spezifischen oder umschriebenen Sprachentwicklungsstörung durchaus etabliert haben, findet sich darüber hinaus eine begriffliche Vielfalt und damit vor allem einhergehende uneinheitliche Klassifikationen. So sind etwa weitere Begriffe wie Sprachentwicklungsverzögerung, Spracherwerbsstörung, Sprachbehinderung usw. nicht unüblich, führen jedoch zu definitorischen Unschärfen und zu Verunsicherung unter praktisch tätigen Fachpersonen in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sowie unter Eltern. VHN 1 | 2022 69 ANJA STARKE, CARINA LÜKE Sprachentwicklungsstörungen TRE ND In den letzten Jahren wurde die Kritik an den Definitionskriterien und der uneinheitlichen Terminologie von SES immer lauter, sodass in einer aufwendigen und interdisziplinären Delphistudie im Jahr 2021 ein Konsens diesbezüglich ermittelt werden sollte. Die Ergebnisse dieser Studie werden im Laufe des Jahres erscheinen. Klar ist bereits jetzt, dass Kinder mit SES häufig auch in weiteren Entwicklungsbereichen Auffälligkeiten haben und auch, dass bei Kindern, die typischerweise in einem anderen Förderschwerpunkt - insbesondere in den Förderschwerpunkten Lernen, geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung und auch emotionale und soziale Entwicklung - „beheimatet“ sind, sprachliche und kommunikative Förderbedarfe auszumachen sind (Hollo, Wehby & Oliver, 2014; Sarimski, 2020). Aufgrund des aktuell häufig noch sehr stark auf die einzelnen Förderschwerpunkte bezogenen Studiums und der Fokussierung auf typischerweise zwei Schwerpunkte innerhalb der Ausbildung sonderpädagogischer Lehrkräfte fehlt jedoch häufig ein crosskategorialer Blick auf die Lernvoraussetzungen der Schüler/ innen. Die aktuelle Ausstattung von Schulen mit personellen und damit auch zeitlichen Ressourcen lässt zudem eine multiprofessionelle Zusammenarbeit meist nur unzureichend zu. So werden - was den Lehrkräften nicht anzulasten ist - Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen aus bestimmten Perspektiven betrachtet, interpretiert und Fördermaßnahmen ggf. nur mit Blick auf einen Entwicklungsbereich und eben nicht verknüpfend angelegt. Die Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von mathematischem und sprachlichem Lernen der letzten Jahre machen zum Beispiel deutlich, dass auch diese laienhaft zunächst als unabhängig voneinander angesehenen Bereiche in einer komplexen Wechselwirkung miteinander in Verbindung stehen (Viesel-Nordmeyer, Schurig, Bos & Ritterfeld, 2019). Slot, Bleses und Jensen (2020) konnten zeigen, dass auch die sozialemotionale Entwicklung mit sprachlichem und mathematischem Lernen zusammenhängt und alle drei Bereiche sich bereits innerhalb des Vorschulalters gegenseitig beeinflussen. Hier scheint insbesondere die sprachliche Entwicklung einen maßgeblichen Einfluss auf die anderen Entwicklungsbereiche zu haben, sodass sich SES als ein bedeutsamer Risikofaktor für Lernschwierigkeiten verschiedenster Art (Snowling, Moll & Hulme, 2021) und auch für sozial-emotionale Probleme im Schulalter (Hartas, 2011; McCabe, 2005) herausstellen. Eine Metaanalyse von Hollo et al. (2014) hat hier weiter eindrücklich gezeigt, dass der Anteil von nicht-identifizierten leichten bis schweren sprachlichen Auffälligkeiten bei Schüler/ innen mit festgestelltem Förderbedarf in der sozialemotionalen Entwicklung bei etwa 80 Prozent liegt. Obwohl der enge Zusammenhang von sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten und sozial-emotionaler Entwicklung innerhalb der Forschung bereits gut belegt ist, hat ein Transfer dieses Wissens in die Praxis bislang nur wenig stattgefunden (McCabe, 2005). Neben zunehmenden Forschungsbemühungen zu crosskategorialen Fördermaßnahmen und ihren Effekten auf die einzelnen Entwicklungsbereiche braucht es auch einen Transfer des bereits vorhandenen Wissens in die schulische Praxis. Dies kann einerseits über schwerpunktübergreifendes Arbeiten in der ersten und zweiten Phase der Lehramtsausbildung stattfinden. Andererseits braucht es jedoch ebenso Bemühungen seitens der Wissenschaftler/ innen, ihre Erkenntnisse in angemessener Weise auch den Lehrkräften in der Praxis durch Publikationen und andere Möglichkeiten der Wissenschaftskommunikation zu vermitteln. Im Rahmen des Themenstranges „Bildung und Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen“ wird vor allem ein crosskategorialer Blick auf das Themenfeld aufgemacht. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf dem Zusammen- VHN 1 | 2022 70 ANJA STARKE, CARINA LÜKE Sprachentwicklungsstörungen TRE ND hang von sprachlichen und sozial-emotionalen Fähigkeiten liegen. Ebenso wird ein Blick auf sprachspezifische Interventionsmaßnahmen bei Kindern mit Hörschädigungen und auf neue Herausforderungen der Digitalisierung von sonderpädagogischen und sprachtherapeutischen Interventionen geworfen. Literatur Aro, T., Laakso, M.-L., Määttä, S., Tolvanen, A. & Poikkeus, A.-M. (2014). Associations between toddlerage communication and kindergarten-age selfregulatory skills. Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 57 (4), 1405-1417. https: / / doi.org/ 10.1044/ 2014_JSLHR-L-12-0411 Astle, D. E. & Fletcher-Watson, S. (2020). Beyond the core-deficit hypothesis in developmental disorders. Current Directions in Psychological Science, 29 (5), 431 -437. https: / / doi.org/ 10.11 77/ 0963721420925518 Bahn, D., Vesker, M., Schwarzer, G. & Kauschke, C. (2021). A multimodal comparison of emotion categorization abilities in children with developmental language disorder. Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 64 (3), 993 - 1007. https: / / doi.org/ 10.1044/ 2020_JSLHR-20- 00413 Hartas, D. (2011). Children’s language and behavioural, social and emotional difficulties and prosocial behaviour during the toddler years and at school entry. British Journal of Special Education, 38 (2), 83 -91. https: / / doi.org/ 10.11 11/ j.1467-8578.2011.00507.x Hollo, A., Wehby, J. H. & Oliver, R. M. (2014). Unidentified language deficits in children with emotional and behavioral disorders: A metaanalysis. Exceptional Children, 80 (2), 169 -186. https: / / doi.org/ 10.1177/ 001440291408000203 McCabe, P. (2005). Social and behavioral correlates of preschoolers with specific language impairment. Psychology in Schools, 42 (4), 373 -387. Norbury, C. F., Gooch, D., Wray, C., Baird, G., Charman, T., Simonoff, E., Vamvakas, G. & Pickles, A. (2016). The impact of nonverbal ability on prevalence and clinical presentation of language disorder: evidence from a population study. Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines, 57 (11), 1247 -1257. https: / / doi.org/ 10.1111/ jcpp.12573 Plym, J., Lahti-Nuuttila, P., Smolander, S., Arkkila, E. & Laasonen, M. (2021). Structure of cognitive functions in monolingual preschool children with typical development and children with developmental language disorder. Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 64 (8), 3140 -3158. https: / / doi.org/ 10.1044/ 2021_JS- LHR-20-00546 Sarimski, K. (2020). Sprachentwicklung bei Kindern mit Behinderungen. In S. Sachse, A.-K. Bockmann & A. Buschmann (Hrsg.), Sprachentwicklung: Entwicklung - Diagnostik - Förderung im Kleinkind- und Vorschulalter, 399 -414. Berlin, Heidelberg: Springer. Slot, P. L., Bleses, D. & Jensen, P. (2020). Infants’ and toddlers’ language, math and socio-emotional development: Evidence for reciprocal relations and differential gender and age effects. Frontiers in Psychology, 11, Art. 580297. https: / / doi. org/ 10.3389/ fpsyg.2020.580297 Snowling, M. J., Moll, K. & Hulme, C. (2021). Language difficulties are a shared risk factor for both reading disorder and mathematics disorder. Journal of Experimental Child Psychology, 202. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.jecp.2020.105009 Viesel-Nordmeyer, N., Schurig, M., Bos, W. & Ritterfeld, U. (2019). Effects of pre-school mathematical disparities on the development of mathematical and verbal skills in primary school children. Learning Disabilities: A Contemporary Journal, 17 (2), 149 -164. Anschriften der Autorinnen Prof. Dr. Anja Starke Universität Bremen FB 12 Erziehungs- und Bildungswissenschaften Inklusive Pädagogik, Förderschwerpunkt Sprache Universitäts-Boulevard 11/ 13 D-28359 Bremen E-Mail: anja.starke@uni-bremen.de Prof. Dr. Carina Lüke Julius-Maximilians-Universität Würzburg Fakultät für Humanwissenschaften Institut für Sonderpädagogik Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik Oswald-Külpe-Weg 84 D-97074 Würzburg E-Mail: carina.lueke@uni-wuerzburg.de
